Donnerstag, 30. November 2017

Frank Viva: Ganz weit weg

Alljährlich kürt die Stiftung Buchkunst die das schönste Buch. Wer allerdings glaubt, dass das schönste Buch immer durch besondere Illustrationen besticht, ist schief gewickelt. Denn die Bewertungskriterien, welche die Stiftung Buchkunst zugrunde legt, sind komplexer. Letztendlich zählt das "Gesamtpaket" eines Buches, also Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung.

In diesem Jahr gehörte zu den 25 schönsten deutschen Büchern ein Kinderbuch des  Diogenes Verlages: "Ganz weit weg" von Frank Viva. Das Buch wird für Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren empfohlen. Es ist ein Bilderbuch, in dem es um einen Alien (oder einen Krake?) geht, der vom tiefsten Meeresgrund der Erde bis ins Weltall zu seinem Heimatplaneten aufsteigt ... und wieder zurück. Der Clou an dem Buch ist, dass man die Geschichte aus zwei Richtungen erleben kann: vom Meer ins Weltall und umgekehrt. "Wo ist denn da die Sinngebung?", wird der pädagogisch denkende Erwachsene fragen. Gibt es keine Lehre in dem Buch, irgendetwas, das man dem Kind mit auf seinen Lebensweg geben kann, und welches ihm das Heranwachsen erleichtert?
Nein, gibt es nicht. Stattdessen findet man in dem Buch viel Spaß und Freude. Da das Leben schon ernst genug ist, und Kinder dies noch früh genug feststellen werden, ist der Spaß, der in diesem bezaubernden Bilderbuch vermittelt wird, aber Grund genug, sich mit diesem Buch zu befassen.

Wie immer, wenn ich einen Artikel über ein Kinderbuch schreibe, habe ich mir einen Spezialisten dazugeholt: meinen Junior, mittlerweile 12 Jahre alt, daher vielleicht nicht ganz die Zielgruppe für dieses Buch. Aber immer noch kindlich genug, dass er großen Spaß  daran hatte.

Zunächst beschäftigte uns die Frage, welches Wesen der Hauptprotagonist dieses Buches ist.

Junior: Für mich ist es ein Alien.
Renie: Für mich sieht es aus wie ein Krake.
Junior: Ist doch Quatsch. Sieh doch mal, es hat eine Antenne auf dem Kopf. Daher ist es ganz klar ein Alien. Sollen wir ihm einen Namen geben? Ich bin für Bobby.
(Im Nachhinein habe ich der Buchbeschreibung des Verlages entnommen, dass es sich bei dem Wesen um einen Alien-Fisch handelt - was auch immer das sein mag)

Das Buch beginnt für uns mit Bobby auf dem Meeresgrund. Von Seite zu Seite schwebt Bobby nach oben. Er kommt an diversen Unterwasserkreaturen vorbei, taucht auf, steigt immer höher, begegnet diversen Flugobjekten, rauscht am Mond vorbei bis hin zu seinem Heimatplaneten, wo ihn Vater und Mutter begrüßen. Oder verabschieden? Denn das ist das Besondere an diesem Buch. Je nachdem für welchen Anfang man sich entscheidet, geht es für Bobby nach oben ins Weltall oder nach unten in die Meerestiefen - quasi Bobby in der Endlosschleife.

Junior: Es sieht so aus, als ob Bobby an einem Seil entlang schwebt.
Renie: Stimmt. Jede Seite wird von einer gelben Linie mal mehr und mal weniger kurvig durchzogen. Je länger ich die Bilder betrachte, umso mehr Einzelheiten fallen mir auf.
Junior: Geht mir genauso. Sieh mal, Bobby fliegt am Mond vorbei. Er sieht traurig aus (Bobby natürlich, nicht der Mond). Wahrscheinlich ist er einsam auf dem langen Weg durch's Weltall. Schade, dass es den Mann im Mond nicht gibt. Bei dem könnte er anhalten und eine Pause machen.

Renie: Ist dir aufgefallen, dass die Seiten alle ähnlich aufgebaut sind? Der Hintergrund ist entweder blau oder schwarz. Insgesamt hat der Bilderbuchautor nur 4 Farben verwendet: blau, schwarz, gelb, rot. Alle Seiten werden von dieser gelben Linie durchzogen. Die Zeichnungen wirken schnörkellos, da sie sich nur auf das Wesentliche konzentrieren.
Junior: Verstehe ich nicht.
Renie: Sieh dir doch beispielsweise die Gesichter an: Punkte für die Augen, ein Strich für den Mund, mal mit, mal ohne Nase. Oder die Bereiche, durch die Bobby kommt. Er fliegt über einem Ort. Was fällt dir daran auf?
Junior: Hier gibt es kaum Autos oder Menschen. In einem Ort ist normalerweise mehr los.
Renie: Genau. Und doch wirken die Zeichnungen sehr lebhaft und lustig, was an den kräftigen und leuchtenden Farben liegt, die der Autor verwendet hat. Trotzdem er die Gesichter mit nur wenigen Strichen gezeichnet hat, kann man erkennen, in welcher Stimmung die Figuren sind. Also, ob sie traurig sind, sich freuen, ängstlich sind usw.
Junior: Ich wünschte, ich könnte auch so toll malen. Mit so wenigen Strichen so viel ausdrücken zu können, ist schon eine Kunst.

(Auszug aus dem Buch)
Renie: Wusstest du, dass dieses Buch zu den schönsten deutschen Büchern in diesem Jahr gehört?
Junior: Echt? Aber das ist doch ein Kinderbuch.
Renie: Das ist doch egal. Buch ist Buch. Kannst du dir vorstellen, warum es zu den schönsten Büchern gehört?
Junior: Weil man es aus 2 Richtungen ansehen kann?
Renie: Meinst du? Aber es gibt doch viele Bücher, die so gemacht sind, dass du sie sowohl vom Anfang als auch vom Ende beginnen kannst.
Junior: Ja, aber dieses kannst du bis zum Ende durchblättern, dann drehst du es um und blätterst wieder zurück. Und jedes Mal wird die Geschichte wieder von Vorne erzählt. Nur dass Bobby mal hoch steigt oder mal herab sinkt. Bei den meisten Büchern, werden zwei Geschichten erzählt, die sich in der Mitte treffen.
Renie: Donnerwetter, das war mir nicht bewusst. Aber stimmt, das macht das Buch so besonders.
Wie ich später feststellen musste, hat Junior mit seiner Vermutung Recht. Die Begründung der Stiftung Buchkunst zur Auswahl dieses Buches geht u. a. tatsächlich in dieselbe Richtung, die Junior angesprochen hat. Die Jury beschreibt dieses Bilderbuch sogar als "Jojo-Buch". (Hier geht es zur kompletten Begründung der Jury der Stiftung Buchkunst)

Renie: Hast du bei diesem Buch etwas gelernt? 
Junior: Nein, das ist doch kein Schulbuch. Außerdem sollen Bücher Spaß machen. Und den hatte ich mit diesem Buch.
Renie: Weise Worte, mein Sohn. So etwas Ähnliches sage ich auch immer über Bücher.

© Renie und Junior





Über den Autor:
Frank Viva ist Kanadier, Illustrator, Designer und Inhaber einer Marken- und Designagentur in Toronto. Er gestaltet Covers für den ›New Yorker‹ und ist Präsident des Advertising and Design Clubs of Canada. Neben seiner Beratertätigkeit für zwei Colleges hat er außerdem eine Leidenschaft für das Kochen, Essen und seine tägliche Radtour ins Büro. Er lebt in Toronto. (Quelle: Diogenes)