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Freitag, 22. Januar 2021

Colum McCann: Der Tänzer

Der Inhalt des Romans "Der Tänzer" von Colum McCann ist schnell und einfach zusammengefasst: Erzählt wird die Lebensgeschichte von Rudolf Chametowitsch Nurejew, der Ikone des klassischen Balletts. Er galt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als einer der besten Tänzer dieses Genres.
Doch so simpel sich diese Zusammenfassung des Inhalts anhören mag, umso spektakulärer ist das, was der irische Schriftsteller Colum McCann daraus gemacht hat.

Nurejew wurde 1938 in Sibirien geboren. Er verbrachte seine Kindheit in Ufa, einer russischen Industriestadt. Hier nahm seine Ausbildung zum Balletttänzer ihren Anfang. Schnell war klar, dass Nurejew außergewöhnlich talentiert war. Es folgten in Kürze Engagements in Leningrad und Moskau sowie Auftritte im Ausland. 
Bei einem seiner Auslandsaufenthalte (1961, Paris) setzte er sich ab und beantragte politisches Asyl. Von da ab dominierte er die Welt des klassischen Balletts, machte sich jedoch nicht nur durch sein tänzerisches Können einen Namen. 
Quelle: Rowohlt
"Natürlich tanzte er perfekt: leicht und schnell, flüssig, mit gesammelter, beherrschter Form, doch da war noch etwas, das über das Körperliche hinausging - es war nicht nur in seinem Gesicht, seinen Fingern, seinem langen Hals, seinen Hüften, es war etwas Ungreifbares, etwas, das mit dem Kopf nicht zu erfassen war, eine kinetische Wildheit und Durchdrungenheit -, und als der Applaus erklang, emfpand ich geradzu ein wenig Hass auf ihn."
Der Ausnahmetänzer war für sein aufbrausendes Temperament und seine Arroganz berühmt berüchtigt. Er hatte den Ruf eines Exzentrikers, der in der Welt des Balletts und ihrem Orbit, Bewunderer um sich scharrte. Künstler, Politiker, Reiche und Schöne - alle suchten seine Nähe wie die Motten das Licht. Es gab jedoch nur sehr wenige Personen, die Nurejew an sich heranließ. Während er Menschen, die ihm nahe standen mit seiner Großzügigkeit überhäufte und in einer ungelenken Weise seiner Liebe zeigte, begegnete er allen anderen mit großer Verachtung. Es schien, als wollte Nurejew ausreizen, wie weit er mit seinem abweisenden und verletzendem Verhalten gehen konnte, bis seine Verehrer sich von ihm abwandten. Doch das geschah nie. Egal, welche Eskapaden sich Nurejew erlaubte, seine Gefolgschaft ließ es ihm durchgehen.
Nurejew starb im Alter von 53 Jahren (1993) an den Folgen von AIDS.

Colum McCann erzählt die Geschichte von Nurejew genauso virtuos, aber auch unberechenbar, wie sich der Tänzer zeitlebens präsentiert hat. Vom Anfang bis zum Ende - man weiß nie, was in diesem Roman als Nächstes passieren wird - selbst, wenn man glaubt die Lebensgeschichte Nurejews zu kennen. Es gibt unzählige Erzählperspektiven, u. a. mit wechselnden Ich-Erzählern. Diese Wechsel kommen unvorbereitet und sind lediglich an dem veränderten Sprachstil zu erkennen, der sich an dem jeweiligen erzählenden Charakter orientiert. Wer gerade erzählt, erschließt sich anhand des Inhalts des jeweiligen Abschnittes. Wir haben extrovertierte Charaktere, die nur so sprudeln vor lauter ausschweifender Erzähllust. Und es gibt die stillen, Introvertierten, die McCann nur sehr zögerlich erzählen lässt. Die Sprache wirkt reduziert. Die Wirkung dieser Textabschnitte entsteht durch das, was zwischen den Zeilen steht. 

Die erzählenden Charaktere sind Menschen, die dem Tänzer nahe standen, die also wichtig für den privaten Nurejew waren. Doch McCann lässt auch den Tänzer selbst zu Wort kommen. Dabei bestätigt Nurejew den Eindruck, den man durch die Schilderungen der anderen Charaktere von ihm gewonnen hat. Er gibt nur sehr wenig von seinem Innersten Preis. Doch das reicht aus, um seine Verletzlichkeit hinter der Fassade des arroganten Künstlers, der seinen Mitmenschen mit Verachtung begegnet, zu erkennen.
"Die französischen Kritiker sagen, dass Sie, wenn Sie tanzen, ein Gott sind.
Ich bezweifle das.
Sie zweifeln an den Kritikern?
Ich zweifle an den Franzosen.
(Allgemeines Gelächter)
Ich zweifle auch an den Göttern.
Wie meinen Sie das?
Ich würde sagen, die Götter sind so beschäftigt, dass ich und alle anderen ihnen scheißegal sind."
Neben den Perspektiven der verschiedenen Charaktere gibt es überraschende Einschübe über Aufzählungen, die Nurejews Kultstatus dokumentieren. Gleich zu Beginn gibt es eine Übersicht von Dingen sein, die Fans während seiner ersten Saison in Paris auf die Bühne geworfen haben. 
(z. B. russischer Tee, aus dem Louvre gestohlene Blumen, ein Nerzmantel, Mengen an Damenslips, erotische Fotos, Glasscherben, Todesdrohungen, Hotelschlüssel etc. etc.)
Diese Einschübe sind unterhaltsame Intermezzos. Denn man wundert sich, mit welchen Problemen und Problemchen sich ein Star herumschlagen muss.

"Der Tänzer" ist nicht nur als biografischer Roman zu verstehen. Denn die Handlung, die den Lebensweg Nurejew beschreibt, wird begleitet von der neuzeitlichen Geschichte Russlands. Nurejew ist 1961 aus der Sowjetunion geflohen. Seine Engagements im Ausland, die der russische Staat seinem prominenten Aushängeschild erlaubte, boten ihm die Möglichkeit sich abzusetzen. Die Menschen, die er in der Heimat zurückließ, rückten durch seine Flucht in den Fokus des Überwachungsstaats. Auch diese Menschen haben ihren Anteil an der Handlung in diesem Buch. Durch ihre Erzählung geben sie nicht nur wieder, welchen Einfluss sie auf Nurejews Entwicklung hatten sondern stehen auch stellvertretend für das Leben in der Sowjetunion in der Zeit vom 2. Weltkrieg bis hin zum Ende des Regimes.

Das Ende dieses Romans ist fulminant und hat mich tief berührt. Nurejew ist 1993 an den Folgen seiner AIDS Erkrankung gestorben. Diesem Roman nun einen Schluss mit den letzten Atemzügen Nurejews am Krankenbett zu schreiben, wäre zu einfach und zu leicht zu durchschauen gewesen. Colum McCann wählt ein Ende für seinen Roman, das einem Ausnahmekünstler wie Nurejew würdig ist. Gäbe es bei mir eine Rangliste der besten Schlussszenen in Romanen, stünde das Ende von "Der Tänzer" an erster Stelle und lange käme erstmal nichts. 

Doch bis man in diesem Roman am Ende angelangt ist, hat man erstmal das Lesevergnügen von knapp 460 Seiten Fabulierkunst vor sich: Die Geschichte eines beeindruckenden Künstlers auf beeindruckende Weise erzählt! Leseempfehlung!

© Renie