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Sonntag, 10. Januar 2021

Andreas Kollender: Mr. Crane

Quelle: Pixabay/GregMontani
Da musste ich erst den Roman eines deutschen Autoren lesen, um zu lernen, dass es Ende des 19. Jahrhunderts einen amerikanischen Schriftsteller namens Stephen Crane gab, dessen Romane und Erzählungen heutzutage als Klassiker der amerikanischen Literatur gehandelt werden. Scheinbar kenne ich mich doch nicht in dem Maße mit amerikanischer Literatur aus, wie ich immer angenommen bzw. gehofft habe;-)
Der Roman, der mich auf den Weg der Erkenntnis gebracht hat, ist "Mr. Crane" von Andreas Kollender.

Stephen Crane (geboren 1871) war - wie der Roman von Andreas Kollender beschreibt - zeitlebens ein charismatischer und lebenslustiger Abenteurer, der diese Lebenslust jedoch nicht lange genießen durfte. Denn Crane starb im Jahre 1900 mit gerade mal 29 Jahren an Tuberkulose. 
Cranes bekanntester Roman ist "Die rote Tapferkeitsmedaille", mit dem er 1895 seinen literarischen Durchbruch erzielte und der ihm den Weg in ein turbulentes Leben ebnete. Der junge Autor wurde als Kriegsberichterstatter engagiert und wurde in diverse Krisengebiete der damaligen Zeit entsendet. 
Die letzten Tage seines Lebens verbrachte der todkranke Crane in einem Sanatorium in Badenweiler (Schwarzwald), wo er trotz schlechter Prognosen immer noch auf Heilung hoffte.
Quelle: Pendragon
"Das Leben sei schön, sagte Mr. Crane, es komme immer darauf an, wohin man sehe. Komme darauf an, wo das Rettungsboot sich gerade befinde, auf dem Wellenkamm oder im Tal, umschlossen von grauem Wasser."
"Mr. Crane" erzählt unter anderem die Geschichte von Cranes Zeit in Badenweiler. Eigentliche Protagonistin ist jedoch die Krankenschwester Elisabeth, die zum Zeitpunkt des Aufenthalts des Amerikaners für dessen Pflege zuständig ist. Die junge Frau, die die Bücher von Crane geradezu verschlungen hat, verliebt sich in ihren Patienten. Sie sieht ihn als Seelenverwandten und stößt bei Crane ebenfalls auf Interesse. 
Die Handlung dieses Romans findet auf 2 Zeitebenen statt. 14 Jahre später - Elisabeth ist mittlerweile zur Oberschwester in dem Sanatorium in Badenweiler aufgestiegen - erinnert sie der Umgang mit einem Soldaten, der als Kriegsverletzter in ihre Obhut kommt, an die sehr intensive Zeit mit Stephen Crane, die gleichzeitig die letzten Tage seines Lebens waren.

Bei diesem Roman bin ich wieder mal auf Klappentext und Verlagsbeschreibung reingefallen. In diesem Fall bin ich jedoch positiv überrascht worden. Was ich als Liebesroman begonnen habe, der scheinbar den Fokus auf den Schriftsteller Stephen Crane richtet, hat sich zu viel mehr entwickelt. Im Mittelpunkt steht für mich nicht Stephen Crane, sondern Krankenschwester Elisabeth, die die Romanze mit ihrem Stephen als Chance auf ein selbstbestimmtes Leben ergreift - auch, wenn es ihr zu dem Zeitpunkt der Romanze noch nicht bewusst ist. Crane wird dadurch für mich zum Nebendarsteller, der mich aber dennoch zu unterhalten weiß. Denn durch seine Erinnerungen an die Abenteuer, die er erlebt hat, macht er mich neugierig auf seine Bücher. In vielen von ihnen hat er seine Erlebnisse verarbeitet. 

"Mr. Crane" ist gleichzeitig ein Buch gegen den Krieg, wobei die Sichtweise von Elisabeth eine große Rolle spielt: der Krieg ist ein Spiel von Männern, bei dem es um Ruhm und Ehre geht. Dieser männliche Wunsch nach Heldentum ist für Elisabeth nicht ernst zu nehmen und wird von ihr in dem Handlungsverlauf mehr als einmal der Lächerlichkeit preisgegeben - wenn auch auf sehr subtile Weise. 

Die Entwicklung von Elisabeth hat mir ausgesprochen gut gefallen: aus der sittsamen und duldsamen Frau, die in einer von Männern dominierten Ära lebt, wird am Ende eine selbstbewusste Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, ungeachtet dessen, was die Gesellschaft von einer Frau ihrer Zeit erwartet.

"Mr. Crane" war also eine Überraschung für mich, da sich hinter dem "biografischen Liebesroman" ein vielschichtiger Entwicklungsroman verbarg, der durch den Mythos Crane und seine Erinnerungen noch eine besondere Note erhielt. Großes Erzählkino!

© Renie