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Freitag, 28. August 2020

Clemens Berger: Der Präsident

Quelle: DonkeyHotey - Donald Reagan, CC BY-SA 2.0 
Vom Tellerwäscher zum Millionär ...
Vom Schauspieler zum US-Präsidenten ...
Vom Polizisten zum Double des  US-Präsidenten ...

In Clemens Bergers satirischem Roman "Der Präsident" geht es um den amerikanischen Traum. Ich kenne zwar keinen Tellerwäscher, der es zum Millionär gebracht hat. Doch ich kenne einen Schauspieler, der es zum US-Präsidenten gebracht hat: Ronald Reagan. Und wie so viele Promis, hatte Mr. President ein Double: Julius Koch aus Österreich, der als Kind mit seiner Familie in die USA auswanderte. Clemens Berger erzählt die Geschichte dieses Mannes, der in diesem  Roman den Namen Jay Immer trägt.
Jay Immer lebte den amerikanischen Traum. Nach der Auswanderung in die USA im Jahre 1929 baute sich die Familie mit Anstand, Fleiß und Bescheidenheit ein Leben auf. Jay ist Polizist und wurde Amerikaner durch und durch. Er hat eine eigene Familie gegründet und lebt mit Ehefrau Lucy in einem Häuschen in Chicago. Tochter Barbara ist mittlerweile bereits erwachsen. Nun steht er mit 55 Jahren kurz vor der Pensionierung und freut sich auf den Ruhestand. Doch das kann nicht alles gewesen sein. Denn das Leben hält für Jay noch eine Überraschung bereit. Da Jay dem amtierenden Präsidenten Ronald Reagan verblüffend ähnlich sieht, wird er bei einer Agentur als Präsidenten-Double unter Vertrag genommen. Wäre Lucy nicht gewesen, die Jays Bewerbung ohne sein Wissen an die Agentur geschickt hat, würde er vermutlich einem unaufgeregten Ruhestand entgegensehen. Doch nichts ist mit der Ruhe.
"Er eröffnete Automessen, pries neue Gesichtscremes an und ließ sich mit Menschen ablichten, die bis zu hundert Dollar ausgaben, um sich in eine lange Schlange für ein Foto mit jenem Mann einzureihen, den man unter anderen Umständen für Ronald Reagan gehalten hätte. Lokalpolitiker ließen sich die Fotos rahmen, Unternehmer hängten sie an ihre Bürowände, Menschen trieb es Tränen in die Augen, wenn er ihnen zuwinkte."
In seiner Funktion als "der andere Präsident" tingelt er während Reagans Amtszeit von Engagement zu Engagement und vertritt seinen Doppelgänger: Geschäftseröffnungen, Hot Dog Wettessen, Firmenfeiern, Fototermine etc. etc. etc. Der Job ist lukrativ und ermöglicht Lucy und ihm ein Leben in bescheidenem Luxus. Doch etwas geschieht mit Jay. Hat ihn anfangs noch die Ähnlichkeit mit Reagan gestört, schlüpft er mit der Zeit immer mehr in die Rolle des US-Präsidenten. In seinem persönlichen Sprachgebrauch wird sein Häuschen in Chicago zum Weißen Haus, Lucy ist die First Lady (wenn auch die andere). Er kleidet sich für einen Präsidenten angemessen und genießt die Vergünstigungen, die das vermeintliche Präsidentenamt mit sich bringt. Jay wird überall erkannt, ob als der Echte oder der Andere lässt sich im Verlauf der Handlung nicht mehr bestimmen. Die Menschen sehen, was sie sehen wollen. Sein Alltag ist vom Händeschütteln, Schulterklopfen, Lächeln und dem Posieren vor der Kamera geprägt.
Politische Gruppierungen, Menschenrechtler, Umweltaktivisten ... alle versuchen, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Anfangs gelingt es Jay, sich gegen diese Versuche zu behaupten. Doch mit der Zeit entwickelt er, der sein Leben lang völlig unpolitisch war, ein politisches Gewissen. Reagan ist daran nicht unschuldig. Denn während seiner 2 Amtszeiten hat er reichlich umstrittene Entscheidungen getroffen, die bei seinem Double, je länger dieses den anderen Präsidenten spielt, für Unwillen sorgt. Jay sieht sich in der moralischen Pflicht, die eine oder andere Korrektur vorzunehmen.
"Jay kannte kaum jemanden, der an etwas glaubte und danach handelte. Reagan glaubte nur an sein Bild in den Medien. Er hatte den Menschen Gefühle verkauft. Die strahlende Stadt auf dem Hügel; ein neuer Morgen für Amerika. Aber er betrieb eine Politik gegen die Menschen, gegen den Planeten und für ein paar steinreiche Unternehmer."
Der österreichische Autor Clemens Berger hat Jays Entwicklung vom aufrechten amerikanischen Staatsbürger, der nie im Mittelpunkt stehen wollte, zum "anderen Präsidenten" sehr detailliert herausgearbeitet. Anfangs haben wir es mit einem Protagonisten zu tun, dem etwas Spießiges anhaftet, dem die Pfege seines Gartens und seines Autos extrem wichtig sind. Ein Mann, zu dem der Beruf des Polizisten perfekt passt. Er ist der Hüter von Sitte, Moral und Anstand. Werte wie Fleiß und Bescheidenheit bestimmten sein bisheriges Leben. Bloß nicht negativ auffallen, am besten gar nicht auffallen. Er hätte sich nie zugetraut, die Rolle des Ronald Reagan zu leben, wenn seine Ehefrau ihn nicht zu seinem "Glück" gezwungen hätte. Anfangs versteckt er sich noch hinter der Rolle des händeschüttelnden Staatsmannes. Doch je mehr positives Feedback er erhält, umso besser fühlt er sich in dieser Rolle aufgehoben. Er wird selbstbewusst und mutig, entwickelt ein eigenes politisches Gewissen (mit freundlicher und berechnender Unterstützung anderer) und ist bemüht, für seine Überzeugungen einzustehen. 
Clemens Berger betrachtet in diesem Roman die Amtszeit von Ronald Reagan. Er hält sich dabei an die historischen Fakten und gewährt dem Leser einen Auffrischungskurs in Sachen amerikanischer Geschichte und den Einfluss der Reagan-Ära auf das Weltgeschehen. Dabei zieht Berger den amerikanischen Way of Life durch den Kakao. Das gelingt ihm, indem er seinen österreichisch stämmigen Protagonisten amerikanischer als jeden Amerikaner wirken lässt. Jays Handlungen wirken teilweise völlig überzogen, so dass dem Leser in diesem Roman ganz viel Situationskomik begegnet. 
"Vor allem kannte er seine Landsleute. Sie liebten die Show. Sie liebten Berühmtheiten. Sie liebten den Schein. Und doch hatten nicht wenige, selbst wenn er den Mund gehalten hatte, den Schein für Wirklichkeit gehalten. Sie waren nach Hause gekommen und hatten Freunden und Familien erzählt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten begegnet zu sein."
Ich habe diesen satirischen Roman, der auf einer wahren Geschichte basiert, mit großem Vergnügen gelesen. Denn hier wird die Oberflächlichkeit der amerikanischen Gesellschaft sowie ihr Streben nach Schein und Sein auf sehr lustige Weise angeprangert. Ungewöhnlich ist dabei der Protagonist, der aufgrund eines kuriosen Zufalls in die Rolle seines Lebens gedrängt wird und dabei versucht, nach seinen eigenen Regeln zu spielen, was ihm am Ende mehr oder weniger gelingt.  

Leseempfehlung!


© Renie


Donnerstag, 20. August 2020

Ryū Murakami: In Liebe, dein Vaterland - II: Der Untergang

Bis ins Jahr 1945 war die koreanische Halbinsel über 100 Jahre lang eine Kolonie Japans. Koreaner waren während dieser Zeit für die Besatzer Menschen zweiter Klasse und sind es leider bei vielen Japanern heute noch. In dem zweiteiligen Japan-Nordkorea Epos "In Liebe, dein Vaterland" von Ryū Murakami wird der Spieß umgedreht und Nordkorea ist plötzlich die Macht, die eine japanische Halbinsel besetzt und deren Bevölkerung in die Unterwerfung zwingt. 
In Anbetracht der Historie und dem schlechten Ruf, den Nordkorea in der Welt hat, wäre dies ein Schreckensszenario, das man sich durchaus vorstellen könnte, und das der Autor in seinem Zweiteiler genüsslich inszeniert hat.
In dem ersten Teil "In Liebe, dein Vaterland I. Die Invasion", den ich vor ein paar Monaten gelesen habe, konzentriert sich die Handlung auf die unmittelbaren Anfänge der Besatzung von Fukuoka durch eine militärische Eliteeinheit Nordkoreas. Nach einem offenen Ende dieses Teils, war ich natürlich gespannt, wie die weitere Entwicklung in Fukuoka sein würde. Und wie das bei Mehrteilern so ist, fragt man sich natürlich, ob die Fortsetzung genauso gut wie der erste Teil ist. Soviel vorweg: Der 2. Teil steht dem 1. Teil in nichts nach.
Eine nordkoreanische Militärtruppe besetzt also die japanische Halbinsel Fukuoka. Sie errichtet hier ihr Hauptquartier und bildet gleichzeitig die Vorhut für weitere 120.000 nordkoreanische Soldaten, die sich auf dem Seeweg nach Japan befinden. 
"Die Nordkoreaner schienen überhaupt sehr darauf zu achten, keine Ressentiments bei der Bevölkerung zu schüren. Nicht dass sie Waisenhäuser gestiftet, älteren Bürgern über die Straße geholfen oder Unkraut im Park gejätet hätten, doch beispielsweise achteten sie strikt darauf, ihr Lager sauber zu halten. Außerdem waren sie höflich und verstießen nie gegen die guten Sitten."
Zu Beginn des zweiten Teils "Der Untergang" erleben wir, dass mittlerweile der Alltag in Fukuoka eingekehrt ist. Die Bevölkerung ist bemüht, sich mit den Besatzern zu arrangieren. Bis auf wenige Ausnahmen in der Bevölkerung haben die wenigsten jedoch Grund, sich über die Nordkoreaner zu beschweren, sind diese doch ausgesprochen höflich und zurückhaltend im Umgang mit den Einheimischen - vorausgesetzt, dass man nach nordkoreanischen Regeln spielt. Der Feind scheint nicht Nordkorea sondern die eigene Regierung zu sein. Denn durch den fehlgeschlagenen Versuch der Regierungsbehörden, einen versteckten Angriff auf die Besatzer zu wagen, mussten Menschen sterben, darunter viele Einheimische.
Daraufhin wird man vorsichtig bei der Wahl der Mittel. Wer will schon Schuld am Tod der eigenen Landsleute haben? Die japanische Regierung stellt Fukuoka zunächst unter Blockade. Flug- und Schiffsverkehr sowie jeglicher Warenverkehr werden  eingestellt. Da es keine Alternativen für die Bewohner der isolierten Halbinsel gibt, lassen sich die Einheimischen auf Geschäftsbeziehungen mit den nordkoreanischen Besatzern ein. Denn diese müssen die Versorgung und Unterbringung der 120.000 Soldaten organisieren, die in Kürze eintreffen werden.
"Wieviele Handys würden sie wohl benötigen, wenn die 120.000 eintrafen. Bei der schwächelnden Wirtschaft Fukuokas würden sich eine Menge Händler die Hände reiben. 120.000 Zuwanderer würden die Nachfrage enorm steigern."
Nicht alle Einwohner Fukuokas wollen die Besatzung der Nordkoreaner hinnehmen. Und hier begegnen mir meine persönlichen Helden aus dem ersten Teil wieder: Eine Gruppe von Aussenseitern will den Kampf gegen die feindlichen Besatzer aufnehmen, wobei die Bezeichnung "Aussenseiter" nur eine harmlose Vorstellung über diese Gruppe suggeriert. Tatsächlich handelt es sich um Soziopathen, vorwiegend in jugendlichem Alter, die durch die direkte oder indirekte Beteiligung an unvorstellbar brutalen Verbrechen und den daraus resultierenden Konsequenzen eine sehr spezielle Kindheit verbracht haben. Das Verrückte an Murakamis Darstellung der einzelnen Charaktere dieser Gruppe ist, dass man trotz der individuellen Vorgeschichten ein hohes Maß an Empathie für diese Charaktere entwickelt - zumindest für die Jüngeren unter ihnen. Dies liegt nicht nur daran, dass sie als Underdogs dem nordkoreanischen Feind die Stirn bieten wollen. Tatsächlich stellt der Autor Ryū Murakami das Menschliche dieser Charaktere in den Vordergrund. Letztendlich haben wir es hier mit jungen Menschen zu tun, die ihre Kindheit unter extrem schlechten Bedingungen verbracht haben, und die als "Problemkinder" von der   Gesellschaft ins Abseits gestellt wurden. Nun haben sie sich in Fukuoka zu einer Gruppe zusammen gefunden, in der ihre persönliche Geschichte und Herkunft nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hier steckt also hinter jedem Charakter ein Schicksal. Und genau das stellt Murakami in den Vordergrund.
"Endlich hatten sie ein äußeres Ziel, auf das sie all die zerstörerische Energie richten konnten, die in ihnen schlummerte. Woher dieser Drang zur Zerstörung kam, war unklar, aber Mori wusste, dass alle hier davon beherrscht waren."
Ryū Murakami schreibt nicht nur Romane, sondern er ist auch Regisseur und Drehbuch-Autor. Das merkt man diesem Buch an. Genau wie der 1. Teil ist "Der Untergang" unglaublich spannend und bietet genügend Potenzial, um einen Actiothriller daraus zu drehen. Der Sprachstil des Japaners ist dabei sehr visuell. Er lässt Bilder im Kopf des Lesers entstehen, die streckenweise sehr drastisch sind. Wie sich das für einen guten Actionstreifen gehört, knallt und scheppert es, dass es eine wahre Wonne ist. Explosionen, Schießereien, Blut und reichlich Tote und Verletzte ... hier hat Murakami alles in seinem Buch untergebracht, was das Action-Thriller-Herz begehrt. 

Dennoch sollte man nicht den Fehler begehen, diesen Roman auf Action, Mord und Totschlag zu reduzieren. Denn, genau wie der erste Teil, ist dieser Roman mehreren Genres zuzuordnen. Er ist eine anspruchsvolle Dystopie, die sich mit einer nahen Zukunft beschäftigt. Er ist Satire, die sich die japanische Gesellschaft vorknöpft und er ist Politthriller. Und auch hier gilt: Fiktion und Realität liegen sehr dicht beieinander.

Leseempfehlung!

© Renie






Und hier geht es zu meiner Buchbesprechung des ersten Teils: "In Liebe, dein Vaterland - Teil I: Die Invasion)

Sonntag, 9. August 2020

Ulla Coulin-Riegger: Mutters Puppenspiel

Es gibt unzählige zuckersüße und klebrige Sprüche zum Thema "Mutterliebe". Hier sind einige davon
"Die Tochter einer guten Mutter wird die Mutter einer guten Tochter" .... "Die Liebe zwischen Mutter und Tochter ist für immer" ... "Es gibt nur eine ganz selbstlose, ganz reine, ganz göttliche Liebe, und das ist die der Mutter für ihr Kind" (Georg Moritz Ebers) ... "Die höchste und tiefste Liebe ist die Mutterliebe" (Ludwig Feuerbach)

Zuviel Zucker ist ungesund. Und auch Mutterliebe kann ungesund sein, wie der Debüt-Roman "Mutters Puppenspiel" von Ulla Coulin-Riegger eindrucksvoll verdeutlicht.

Diejenige, welche unter der Liebe ihrer Mutter zu leiden hat, ist Ich-Erzählerin Lisette, 38 Jahre alt, HNO-Ärztin mit gut gehender Praxis und Single. Jeden Sonntagnachmittag besucht sie ihre Mutter, Frau Dornbusch, die seit ein paar Jahren Witwe ist. Einmal Kind, immer Kind. Auch wenn Lisette mitten im Leben steht, übernimmt sie zwanghaft die Rolle der unmündigen und unselbständigen Tochter, die Frau Dornbusch immer in ihr gesehen hat. Eine Tochter, die ihre Karriere der aufopfernden Erziehung ihrer Eltern, insbesondere ihrer Mutter zu verdanken hat. Eine Tochter, die niemals die Ansprüche ihrer Mutter erfüllen kann. Denn alles, was sie anpackt, kann nur zum Scheitern verurteilt sein. Frau Dornbusch hat sich mit dieser Einstellung gegenüber ihrer Tochter nie zurückgehalten. Dennoch hat sie ihrer Tochter von klein auf beigebracht, für Mutter da zu sein, sich um sie zu kümmern und zu ehren. Und das fordert sie immer noch ein. Kein Wunder. Denn Frau Dornbusch ist ein zutiefst narzisstischer Mensch, der sich und seine Befindlichkeiten immer in den Mittelpunkt stellt, ungeachtet der Probleme anderer, also auch diejenigen ihrer Tochter. Und Probleme hat ihre Tochter mehr als genug. 
"Mutter erträgt mein Glück nicht, auch nicht meinen Erfolg, sie konnte es einfach nicht zulassen, immer war sie die Schönere, die Intelligentere, die Praktischere, die Fleißigere, diejenige, die mehr liebte und ganz selbstlos geliebt wurde. Nicht einmal mit inzwischen achtundreißig Jahren habe ich es geschafft, aus ihrem Schatten zu treten Meine Schultern bleiben hochgezogen in ihrer Nähe. So und nur so duldet sie mich. Dort, hinter sich."
Das Leben von Lisette ist ein Balanceakt zwischen einer eigenständigen erwachsenen Frau und einer Tochter voller Versagensängste, die sie dank ihrer Mutter mit sich herumträgt. Erst als Lisette sich verliebt, gelingt ihr langsam, sich mit dem übergroßen Einfluss, den ihre Mutter auf sie hat, zu arrangieren. Natürlich ist dieser Weg der Befreiung ein sehr steiniger, der Lisette einiges abverlangen wird. 

Die Autorin Ulla Coulin-Riegger, die seit vielen Jahren als Verhaltens- und Familientherapeutin arbeitet, konzentriert sich in ihrem Buch auf eine Zeitspanne, die einen Wendepunkt in Lisettes bisherigem Leben darstellt. Zu Beginn des Romans verschafft sie einen Eindruck des Miteinanders von Mutter und Tochter. Schnell wird deutlich, um welches Kaliber es sich bei Frau Dornbusch handelt. Die Tochter hat die Verhaltensweisen und Eskapaden der Mutter durchschaut. Vermutlich war ihr schon in jungen Jahren bewusst, welch ein Mensch ihre Mutter ist. Das beweisen zumindest Lisettes Kindheitserinnerungen, die in die Handlung einfließen. Dennoch kann sie sich nicht vom Einfluss der Mutter befreien. Im weiteren Verlauf der Handlung tritt die Mutter scheinbar in den Hintergrund. Die Geschichte konzentriert sich auf die Höhen und Tiefen der Liebesbeziehung von Lisette zu einem verheirateten Mann. In Lisette findet ein innerer Kampf statt, an dem der Einfluss der Mutter natürlich einen großen Anteil hat. Sie fühlt sich zerrissen zwischen ihrem Anspruch auf Glück und ihren Schuldgefühlen gegenüber der Ehefrau des Mannes. 

Neben dem sehr speziellen Mutter-Tochter-Verhältnis greift die Autorin einen Gedanken auf, den es eigentlich in der heutigen Zeit nicht mehr geben dürfte, der aber leider immer noch weit verbreitet ist. Insbesondere Frauen der Generation von Frau Dornbusch lebten nach einem fragwürdigen Rollenkodex. Diesen Kodex hat auch Lisette dank ihrer speziellen Erziehung verinnerlicht: die oberste Aufgabe einer Frau ist es, dem Mann Kinder zu gebären. Eine Frau definiert sich demnach ausschließlich über die Mutterrolle.
"Mutter hat mich gelehrt: eine Frau ist zuallererst eine Gebärende, eine Nährende und eine Sorgende, sofern sie denn keine Schlange oder ein Flittchen ist."
Das ist natürlich harter Tobak für die moderne weibliche Leserschaft. Unweigerlich wird es bei diesem Buch zu dem einen oder anderen Aufschrei der Empörung kommen. Man möchte die Protagonistinnen schütteln - die Eine, wegen ihrer schädlichen Mutterschaft und ihrem antiquierten Frauenverständnis; die Andere, weil sie sich nie zur Wehr gesetzt hat und immer das Spiel ihrer Mutter gespielt hat.
Der Name dieses Romans ist daher Programm: In "Mutters Puppenspiel" zog und zieht Frau Dornbusch die Fäden und Puppe Lisette bewegt sich durch das Leben wie Mutter es gefällt. Nur, dass sich zum Ende des Romans die Fäden lockern. Und das ist gut so. 
Denn "Mutters Puppenspiel" ist ein schmerzvoller und aufwühlender Roman. Da braucht es schon ein kleinen Hoffnungsschimmer zum Schluss, den man als Leser dankbar entgegen nimmt.
Dieser Roman wird insbesondere für weibliche Leser erhebliche Nachwirkungen haben. Es wird wohl nur wenige geben, welche die eigene Einstellung zur Rolle einer Mutter, Tochter und Frau nach der Lektüre dieses Romans nicht auf den Prüfstand stellen werden. 

Beenden möchte ich daher meine Besprechung dieses beeindruckenden Romandebüts mit folgendem Ausspruch der Autorin:
"Schreiben bedeutet für mich einige Schritte von mir selbst und anderen zurückzutreten, um aus dieser Distanz heraus einen freien Blick auf menschliche Verstrickungen und Abhängigkeiten zu wagen. Schreibend versuche ich zu verstehen, anzunehmen und dabei vielleicht das goldene Tor zur Selbstliebe und Selbstachtung für mich und meine Leser aufzustoßen."
Frau Coulin-Riegger, dieser Versuch ist ihnen definitiv gelungen!

Leseempfehlung!

© Renie



Montag, 3. August 2020

Lorenzo Marone: Der erste Tag vom Rest meines Lebens

Quelle: Pixabay/ErikaWittlieb

Bei manch einem fängt das Leben mit 66 an, bei anderen erst mit 77. Besser zu spät, als nie. Derjenige, der diese Ansicht vertritt ist Cesare Annunziata, der Ich-Erzähler des Romans "Der erste Tag vom Rest meines Lebens" von Lorenzo Marone. Cesare stellt im hohen Alter von 77 Jahren fest, dass er "zweiundsiebzig Jahre und einhundertelf Tage seines Lebens verplempert hat".

 Und nun beschließt er, es richtig krachen zu lassen und sein Leben in vollen Zügen zu genießen, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen.


Es ist nicht so, dass er jemals Rücksicht auf andere genommen hat. Seine Frau Caterina hatte es nie leicht mit ihm. Irgendwann ist die Liebe zwischen den beiden erloschen. Seine mehr oder weniger versteckten Seitensprünge haben ihren Teil dazu beigetragen. Dennoch blieben sie zusammen, nicht zuletzt wegen der gemeinsamen Kinder: Sveva, mittlerweile ebenfalls Ehefrau und Mutter sowie Dante. Als die Kinder klein waren, konnte und wollte Cesare nicht viel mit ihnen anfangen. Nun sind sie erwachsen und lassen ihren Vater spüren, dass sie während ihrer Kindheit gerne mehr von ihrem Vater gehabt hätten. Mehr aus Pflichtgefühl, denn aus Zuneigung kümmern sie sich ab und an um den alten Cesare. Über die gelegentlichen Anstandsbesuche geht die Verbindung zu Cesare nicht hinaus. Mittlerweile ist er Witwer, vor 5 Jahren ist Caterina gestorben.
Quelle: Piper
"Es stimmt, ich bin ein echter Stoffel, und sollte eins meiner Kinder jemals den Mut finden, sich in Lobreden über meine zahlreichen Vorzüge zu ergehen, würden sie mich doch niemals einen umgänglichen Menschen nennen. Es ist nicht so, dass ich die Leute hasse, aber mich mit ihnen zu beschäftigen, ist mir einfach lästig."
Nun lebt er also allein und alleingelassen, was ihm eigentlich gut in den Kram passt. War er bereits früher ein Soziopath, dessen Freiheiten jedoch durch Beruf und Familie eingeschränkt wurden, kann er nun sämtliche Verhaltensregeln über Bord werfen und leben, wie er es möchte. Das denkt er zumindest. Denn mit einem Mal stellt er fest, je mehr er sich von den Menschen, die ihn umgeben, distanzieren möchte, desto intensiver wird die Beziehung zu ihnen. Zu diesen Menschen gehören seine Kinder, genauso wie eine spezielle Freundin, die sich um sein körperliches Wohlbefinden kümmert, oder eine neue Nachbarin, die in einer Notlage seine Hilfe benötigt. Diese Menschen tragen dazu bei, dass der alte Miesepeter die Welt ein Stückchen positiver betrachtet. Missverständnisse werden aus der Welt geschafft, Vorwürfe werden ausgesprochen und bereinigt. Cesare beginnt, seine Kinder zu verstehen und seine Kinder verstehen ihn. Und am Ende dieses Romans beginnt Cesare tatsächlich, sein Leben in vollen Zügen zu genießen und aus dem Soziopath wird ein Mensch, dem die Gesellschaft seiner Familie und seiner Freunde sehr am Herzen liegt. 
"Die Wahrheit ist: Man kann nicht immer griesgrämig und unfreundlich sein, sonst fangen die anderen an, dir das zu glauben."
Cesare ist ein Unikum. Er liebt es, die Leute zu schockieren oder vor den Kopf zu stoßen. Als Ausrede für seine merkwürdigen Eskapaden muss immer sein Alter herhalten. Mit dem, was Cesare gerade zu Beginn des Romans von sich gibt, ist man sich als Leser gar nicht sicher, ob man den biestigen Greis mögen soll oder von seiner fehlenden Rücksichtnahme gegenüber seiner Mitmenschen abgestoßen wird. Irgendwann kippt jedoch die Einstellung zu Gunsten von Cesare, und man beginnt, den alten Mann zu mögen. So, wie er sich langsam gegenüber seinen Mitmenschen öffnet und Interesse an ihnen zeigt, lässt man selbst diesen Charakter nach und nach an sich herankommen und hat ihn spätestens am Ende des Romans in sein Herz geschlossen.
Daran haben seine einzigartigen persönlichen Wahrheiten einen sehr großen Anteil. Ich könnte jetzt ketzerisch behaupten, dass "Der erste Tag vom Rest meines Lebens" ein Buch der Kalendersprüche ist. Denn davon gibt es einige in diesem Roman. Doch man bedenke, dass Cesares "Kalendersprüche" richtig gut und originell sind. Dieses Buch steckt voller Lebensweisheiten, die man gern beherzigen möchte. "Der erste Tag vom Rest meines Lebens" ist daher ein großer Spaß, der Lust auf das Älterwerden macht. Vorausgesetzt, man macht es wie Cesare.

© Renie