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Sonntag, 7. März 2021

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde

Quelle: Pixabay/Natalia Kollegova

Kamtschatka (Камчатский край) ist eine Halbinsel in Nordostasien und gehört zum russischen Föderationskreis Ferner Osten. Auf einer Fläche von etwa 370.000 Quadratkilometer (ca. 5% größer als die Fläche Deutschlands) leben ca. 310.000 Menschen. Nach Kamtschatka kommt man nur per Schiff oder mit dem Flugzeug, denn eine Anreise auf dem Landweg ist so gut wie unmöglich. Straßen, die das russische Festland mit dieser Halbinsel verbinden, gibt es nicht. Man muss also einen enormen Aufwand betreiben, um nach Kamtschatka zu gelangen. Und man sollte sich warm anziehen, wenn man dorthin will (Jahresdurchschnittstemperatur 2 Grad Celsius).

Diese abgelegene Region ist der Handlungsort des Romans "Das Verschwinden der Erde" der Amerikanerin Julia Phillips, die es mit diesem Titel, der als literarischer Thriller bezeichnet wird, im Jahr 2019 bis auf die Short List für den National Book Award geschafft hat.  
Quelle: dtv

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: in Kamtschatkas Hauptstadt Petropawlowsk werden am helllichten Tage 2 kleine Mädchen entführt. Weder wissen wir, wer der Entführer ist, noch wie es mit den Mädchen weitergeht. Die Entführung hat im Juli stattgefunden. Von da ab lernen wir über einen Zeitraum von 12 Monaten Frauen aus Kamtschatka kennen. Jede Frau hat ihr eigenes Kapitel, das als Überschrift einen Monatsnamen dieses Jahres trägt. Das Alter der Frauen bewegt sich von Anfang 20 bis Mitte/Ende 30, vielleicht ein bisschen älter. Als Bewohnerinnen der Halbinsel Kamtschatka haben sie eines gemeinsam: sie sind unzufrieden, wenn nicht sogar unglücklich mit dem Leben, das sie führen.
"Schmuggler, klar. Oder Wilderer, Grenzverletzer, Brandstifter, betrunkene Fahrer, Tierhändler, Männer, die sich im Streit an die Kehle gingen, Wanderarbeiter, die auf dem Bau vom Gerüst stürzten, Menschen, die in den Wintermonaten erfroren ... das waren alltägliche Nachrichten in Kamtschatkas Medien. Zwei entführte kleine Mädchen waren etwas anderes."
Zwischen den einzelnen Charakteren gibt es Querverbindungen. Wer in dem einen Kapitel eine Nebenrolle hatte, kann in einem anderen Kapitel zur Protagonistin werden. Um hier nicht den Überblick zu verlieren - was allein schon durch die russische Namensgebung, die mit unserer Namensgebung nicht viel gemein hat, passieren kann, gibt es am Anfang des Buches eine Übersicht der maßgeblich beteiligten Personen und ihrer Familien.

Das Geheimnis über das Schicksal der beiden entführten Mädchen begleitet die Geschichten der Frauen in diesem Roman nur am Rande. Das erscheint merkwürdig, da dieser Roman in den Feuilletons als literarischer Thriller angepriesen wird, und man daher erwartet, dass das Verbrechen im Mittelpunkt steht. Stattdessen entfernen wir uns mit jeder neuen Protagonistin weiter weg von der Aufklärung des Geheimnisses. Wären nicht kleine, beiläufig erwähnte Gedächtnishilfen, wie z. B.  die Erwähnung der beiden Mädchen in einem Nebensatz, würden wir das Schicksal dieser Kinder aus den Augen verlieren. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die Frauen Kamtschatkas. Glaubt man Julia Phillips, ist Kamtschatka kein Ort, an dem eine Frau glücklich sein kann.Ein schlechter Arbeitsmarkt, frustrierte Macho-Männer, die angestrengt versuchen, sich das Leben schön zu trinken, keine Perspektiven - weder beruflich noch privat; auf Kamtschatka gibt es nur wenig, was das Leben für eine Frau lebenswert macht. Und diese Frustrationen kommen in den Geschichten der einzelnen Frauen zum Ausdruck.
"Ohnehin war Kamtschatka keine Gegend mehr, in der man eine Familie großziehen wollte. Man musste sich nur ihre Cousine ansehen, die Lücke in ihrem Leben, in die ihre Tochter gehörte. Die Gemeinden, in denen Rewmira aufgewachsen waren, lösten sich auf, das machte es einfacher, sie zu vergessen, es waren Orte, die verschwanden. Rewmiras Eltern hatten sie in einer starken Gemeinschaft erzogen, in einem idyllischen Dorf, mit Menschen, die noch Prinzipien hatten, in einer lebendigen ewenischen Tradiiion, einer solzialistischen Nation mit großen Errungenschaften. Diese Nation war zusammengebrochen, und an ihre Stelle war eine große Leere getreten."

Der große Pluspunkt dieses Romans ist sicherlich sein besonderer Handlungsort und die schwierigen Lebensverhältnisse, die sich daraus ergeben. Julia Phillips gelingt es, Alltag und Leben der Frauen in Kamtschatka auf sehr eindringliche Weise zu schildern. Ich fühlte mit den Frauen, zumindest anfangs. Da es unter den Protagonistinnen nicht eine Figur gibt, die nur ansatzweise zufrieden mit ihrem Leben ist, nutzte sich mein Mitgefühl für die Frauen mit der Zeit ab. Zuviel Schicksal, zuviel Unglück, zuviel Traurigkeit sorgten bei mir für Ermüdungserscheinungen beim Lesen. Julia Phillips hätte sicherlich auf die eine oder andere Frauengeschichte verzichten können. Der Eindruck, den ich von einem Leben in Kamtschatka hätte, wäre derselbe gewesen.

Hinsichtlich der Konzentration auf die Schicksale der Frauen in diesem Roman, fällt es schwer, diesen Roman als Thriller zu betrachten. Doch zum Schluss bewegt die Autorin ihren Roman wieder in die Richtung dieses Genres. Mit einem fulminanten Ende hat sie mich für die ermüdenden Lesemomente entschädigt. 
Mein Fazit ist daher zweigeteilt:
Positiv: Ein eindrucksvoller Schauplatz, Kamtschatkas Alltag, der seinen Bewohnern seelisch einiges abverlangt; sehr einfühlsame Schilderung der Frauenschicksale
Negativ: Zuviel Unzufriedenheit und Unglück; zu wenig Thrill, so dass der Anspruch, den man an einen literarischen Thriller stellt, nur bedingt erfüllt wird.

Gebe ich eine Leseempfehlung? Ja, denn allein die Beschreibungen des Schauplatzes und das Bild, das vom Alltag in Kamtschatka vermittelt wird, machen diesen Roman lesenswert.

© Renie