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Sonntag, 29. November 2020

Ian McEwan: Maschinen wie ich

Mit "Maschinen wie ich" hat sich Ian McEwan eines Themas angenommen, das momentan in der Literatur eine starke Präsenz hat - und nicht nur dort: Künstliche Intelligenz.
Doch der Schriftsteller begegnet dem Thema in einer Art, die wenig mit Science Fiction, Dystopien oder Roboter-Romantik zu tun hat. Denn bei McEwan wird gemenschelt, wovon sich auch Maschinen mit ihren künstlichen Intelligenzen nicht ausnehmen lassen. 

Man stelle sich folgendes Scenario vor: Der Paketdienst liefert ein lang ersehntes Paket an Charlie, einem Londoner Mit-Dreißiger und Protagonist dieses Romans. Inhalt des Paketes ist ein jungfräulicher und nackiger Roboter in Menschengestalt, quasi ein Wunderwerk der Forschung und Technik: Adam , einer der "ersten wirklich funktionsfähigen künstlichen Menschen mit überzeugender Intelligenz und glaubhaftem Äußeren". Charlies Adam ist nicht nur nagelneu, er sieht auch noch gut aus. Adams Schöpfer haben sich viel Mühe bei der Konstruktion des Androiden gegeben, zumindest was das Äußerliche angeht. Denn die inneren Werte müssen vom neuen Besitzer noch konfiguriert werden, genauso wie die Charaktereigenschaften, des innovativen Produktes. Jeder Adam also nach der Façon des neuen Besitzers. 
Quelle: Diogenes
"Künstliche Menschen würden uns anfangs ähnlicher werden, dann genau wie wir und schließlich mehr als wir sein, deshalb können sie uns niemals anöden. Sie würden uns zwangsläufig stets aufs Neue überraschen, auch auf unerfreuliche Weisen, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. Tragödien waren möglich, Langeweile nicht."
So legt sich Charlie also ins Zeug, um aus Adam einen Vorzeige-Roboter zu machen. Dabei erhält er Unterstützung von seiner Nachbarin Miranda, die nebenbei noch eine gute Freundin ist, wenn nicht noch mehr. Und man wundert sich nicht, dass die Ansichten über die Eigenschaften einer fleischgewordenen Maschine bei Mann und Frau unterschiedlich aussehen. Maschine Adam wird das dritte Rad am Wagen dieser Zweierkonstellation aus Charlie und Miranda. So menschlich sich Adam auch präsentiert, darf man nicht außer Acht lassen, dass er nicht nur als anregende und innovative Gesellschaft angeschafft worden ist, sondern auch diverse andere Pflichten innerhalb der Gemeinschaft von Charlie und Miranda übernimmt. Inwieweit sich Adams Einsatz auszahlen wird, bleibt bis zum Ende des Romans spannend. 

Der Roman spielt in London, im Jahre 1982. Dabei nimmt Ian McEwan es mit der Chronologie der Zeitgeschichte nicht so genau. Neben der Falkland-Krise zwischen England und Argentinien tauchen in der Handlung auf einmal Handy und Internet auf, die man eigentlich erst mindestens 10 Jahre später auf dem Schirm hatte. Genauso lässt er mal eben Alan Turing, ein Pionier der frühen Computerentwicklung und Informatik, der sich zu Lebzeiten eingehend mit künstlicher Intelligenz beschäftigt hat, am Geschehen teilnehmen. Nur dass Turing bereits 28 Jahre zuvor gestorben ist. Fällt dieser Kunstgriff nun unter schriftstellerische Freiheit? Egal. Lassen wir McEwan den Spaß. Für mich war diese freizügige Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehr originell. McEwan definiert den Begriff der Science Fiction für sich neu. Warum nicht?!! 

Bei McEwan finde ich es immer wieder phänomenal, mit welcher Leichtigkeit er Stimmungen kreieren kann. Auch in "Maschinen wie ich" werden sämtliche Stimmungen angesprochen, die man sich vorstellen kann. Zu Beginn schwingt beim Lesen ein leichter Grusel und mulmiges Gefühl mit. Die Szene, in der Adams Akku das erste Mal geladen wird, um ihn in Betrieb nehmen zu können, würde einem Horrorfilm alle Ehre machen. Da sitzt ein äußerlich Mensch gewordener Roboter regungslos in Charlies Küche. Charlie belauert jeder Veränderung dieses Objektes. Das hat etwas von Auferstehung von den Toten (The Walking Dead lässt grüßen). 
Später wird Adam immer menschlicher. Er ist vom Hersteller so programmiert, dass er permanent lernt, insbesondere aus seinen Interaktionen und den Informationen, die er aus seinem Umfeld mitnimmt. Dieses Lernen bezieht sich nicht nur auf das Verarbeiten von Fakten, sondern gleichzeitig entwickeln sich Adams Gefühlsleben und Moral weiter. Ja, es ist kaum zu glauben, aber bei McEwan hat auch ein Roboter Gefühle. 
Es kommt zu slapstickhaften Szenarien. Insbesondere Charlie fällt es schwer, die Grenze zwischen Maschine und Mensch zu ziehen. Da kommt auch schon mal Eifersucht ins Spiel, wenn Charlie plötzlich mit Maschine Adam als Mann konkurrieren muss. 
Die Weiterentwicklung von Adam zum Individuum mit eigenen Moralvorstellungen ist nicht aufzuhalten. Dies birgt Konfliktpotenzial zwischen Charlie, Miranda und Adam. Denn scheinbar ist Maschine Adam der bessere Mensch in dieser Gemeinschaft. Gerade zum Ende zieht die Spannung an. Denn dem Konflikt zwischen einem Roboter mit einem Gewissen und seinen Besitzern, die eine weitaus großzügigere Auslegung von Moral haben als er, ist nicht mehr mit guten Worten beizukommen.
"In dem Moment, da wir im Verhalten keinen Unterschied mehr zwischen Mensch und Maschine erkennen können, müssen wir der Maschine Menschlichkeit zuschreiben."
Die Charaktere
Charlie ist ein Mittdreißiger, der bisher mit seinem Leben nichts Gescheites anzufangen wusste. Er legt eine naive Gleichgültigkeit an den Tag, wenn es um sein Leben und seine Zukunft geht. Sein Leben wirkt ziellos. Er lebt vor sich hin, will Spaß haben (wozu die Digitalisierung einen wichtigen Beitrag leistet), kommt irgendwie klar. Verantwortung ist nichts für ihn. Er träumt den Traum der Selbstverwirklichung. Nur, wer er ist, und was es zu verwirklichen gilt, ist ihm dabei nicht klar.
In dem Moment, wo sich Miranda und er näher kommen, fängt Charlie an umzudenken. Was die Liebe nicht alles ausmachen kann!
Als eingefleischter Nerd legt er sich Adam als neues technisches Spielzeug zu (eine Erbschaft bewirkt, dass er über die notwenigen finanzielle Mittel verfügt). Doch Charlie hat Schwierigkeiten, die Grenze zwischen Mensch und Maschine zu ziehen. Je "menschlicher" Adam wird, umso schwieriger ist es für Charlie, ihn als das zu betrachten, was er ist: eine Maschine.
Und auch ich hatte Schwierigkeiten, Adam auf Dauer als Maschine zu betrachten. Zugegeben, gerade am Anfang, als Adam noch völlig unbefleckt auf das Leben losgelassen wird und seiner Umgebung mit einer herzerfrischenden Naivität begegnet, fällt dies noch leicht. Doch je mehr Adam lernt, ein Mensch zu sein, verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Maschine. Aufgrund seiner unumstößlichen Moralvorstellungen mutiert Adam zu einem immer besseren Menschen. Und als Leser lernt man, dass auch Maschinen Gefühle haben. 

Mein Fazit:
Das Thema "Künstliche Intelligenz" ist irgendwie und überall präsent. Aber dennoch habe ich mich bisher mit diesem Thema nur oberflächlich auseinandergesetzt. Daher bin ich begeistert, dass ich hier viele Denkansätze gefunden habe, die bei mir zwar unterschwellig vorhanden waren, aber erst durch diesen Roman herausgekitzelt wurden. Ian McEwan ist wieder zur Höchstform aufgelaufen, in dem er ein Thema, das in unserer Gesellschaft immer mehr Raum einnimmt, auf eine unnachahmlich spritzige und charmante Weise präsentiert hat. Es ist ihm dabei gelungen, niemals die Ernsthaftigkeit in der Betrachtung dieses Themas außer Acht zu lassen. Ian McEwan hat es einfach drauf und bleibt damit auf der Liste meiner Lieblingsschriftsteller ganz weit oben. 

© Renie