Quelle: Pixabay/OpenClipart-Vectors |
Ein Schelmenroman über einen Schweizer, der in die weite Welt hinauszog und allerlei Abenteuer erlebte. Oder auch nicht.
Als Hans Roth Mitte des 19. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in der Schweiz auf die Welt kommt, ist er bereits anders als andere Kinder. Ein großer Kopf, ein kleiner Körper. Scheinbar hat er den Aufenthalt im Mutterleib vorzeitig abgebrochen. Ihn zieht es hinaus in die Welt. Mit den Jahren erweist sich sein Dorf als zu klein für ihn, auch wenn er irgendwann das Wachsen einstellt und fortan als Kleinwüchsiger durch die Weltgeschichte geht. Er verbringt einige Jahre seines Lebens als Diener und Butler in unterschiedlichen Anstellungen, die ihn jeweils ein Stückchen weiter weg von seiner Heimat und seiner Vergangenheit bringen. Aus Hans Roth wird Louis de Montesanto, der sein Glück in der Ferne sucht. In weiter Ferne. Um genau zu sein in Australien. Er bereist den roten Kontinent, landet schließlich im tiefsten und unerforschtesten Busch Australiens in einem Eingeborenen-Dorf, in dem er einige Zeit verbringen wird. Wieder zurück in der Zivilisation macht er seine Erlebnisse zu Geld. Er publiziert seine Abenteuer. Die Menschen lieben seine Geschichten. Und so wird er herumgereicht, erzählt den Leuten das, was sie hören wollen. Doch er hat nicht nur Fans. Auch seine Kritiker melden sich zu Wort, mit erheblichen Konsequenzen für Louis.
"'Bloß weil wir ihm unsere Ansicht von richtig und falsch aufdrücken, verlieren wir gerade einen der größten Erzähler unserer Zeit.'" (S. 161)
Quelle: dtv |
Die Figur des Louis de Montesanto ist in Anlehnung an einen Entdecker und Abenteurer namens Louis de Rougemont (ebenfalls Schweizer) entstanden. Der Autor Michael Hugentobler macht es dem Leser allerdings nicht leicht, sich mit "seinem" Louis anzufreunden. Louis bleibt seltsam anonym, seine Beweggründe für seine Reisen sind kaum zu verstehen. Hinzu kommen ein paar Wesenszüge von Louis, die ihn als egoistisch und verächtlich gegenüber anderen Menschen erscheinen lassen. Sollte ich Louis darüberhinaus charakterisieren, ich könnte es nicht. Louis bleibt dem Leser fremd.
Nun brauche ich als Leser nicht unbedingt einen Sympathieträger als Protagonisten. Ich komme auch mit Fieslingen zurecht. Aber auch das ist Louis nicht. Ich gebe zu, dass mich diese Anonymität von Louis ein wenig irritiert hat.
Im Verlauf der Handlung entwickelte sich der Roman für mich zu einem Schelmenroman, der mich sehr stark an Münchhausens Geschichten erinnert hat und mir einen anderen Ansatz bot, die Geschichte zu verstehen. Die Handlung ist ein Spiel mit der Wahrheit. Louis ist ein Geschichtenerzähler, wobei er seinem Publikum genau das erzählt, was es hören will. Er präsentiert sich seinem Publikum auch in derjenigen Rolle, in der es ihn sehen will: als Abenteurer, als Tierbändiger, als Forscher, als Liebhaber einer Wilden. Aber er zeigt nie seine wahre Person - auch nicht dem Leser. Das lässt viel Interpretationsspielraum. Zu einem Ergebnis wird man jedoch nicht kommen.
"Das Problem war, dachte er, dass der Grat zwischen Fakt und Fiktion schmal und verwirrend und unnötig sei. Die einzig zulässige Version der Wahrheit sei jene, die den Leser sofort in ihren Bann ziehe, die auf die Sehnsüchte der Menschen abziele - nach Größe, Humor und Stärke in diesem tristen Leben. Eine seltsame Wahrheit, ja: eine absurde Wahrheit." (S. 110)
Die stilistischen Mittel, die Michael Hugentobler für seinen Roman gewählt hat, fordern den Leser auf eine sehr ansprechende und amüsante Art: kurze Kapitel, Wechsel in den Erzählperspektiven, Sprünge innnerhalb unterschiedlicher Zeitebenen, Wechsel der Schauplätze. Das hält den Leser auf Trapp. Denn Michael Hugentobler gibt keine Hinweise darauf, wer, wann und wo gerade erzählt. Das Wer-wann-und-wo erschließt sich erst, wenn man ein paar Sätze eines Kapitels gelesen hat. Hinzu kommt eine gute Portion Humor sowie rätselhafte Andeutungen, die neugierig machen und sich erst im Verlauf des Romans auflösen.
Fazit:
Es fällt mir nicht leicht, eine Wertung für diesen Roman abzugeben. Die Buchbeschreibung suggeriert einen Roman über einen Exzentriker, der die Welt bereist und über seine Abenteuer berichtet. Doch für mich steckt mehr dahinter. Für mich steht das Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion im Vordergrund, so dass der Charakter des Protagonisten fast zur Nebensache wird. Ich fühlte mich von Michael Hugentobler in die Rolle des Publikums hineinversetzt, das nur dann zufrieden ist, wenn es genau das zu hören bekommt, was es hören möchte. Ich wollte einen Abenteuerroman, den ich nicht bekommen habe und müsste deshalb enttäuscht sein von diesem Buch. Doch das bin ich nicht. Ganz im Gegenteil. Mir hat das Spiel mit der Wahrheit mindestens genauso gut gefallen. Ich muss kein Freund des Protagonisten sein. Ich mochte Louis' Geschichten. Und ob er jetzt auf der Schildkröte geritten ist, oder nicht, ist mir egal. Aber der Gedanke, dass er es getan haben könnte, wie so viele andere Dinge, von denen er berichtet, ist einfach nur schön.
© Renie
Über den Autor:
Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. ›Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte‹ ist sein erster Roman. (Quelle: dtv)