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Sonntag, 27. Juni 2021

Julie Estève: Ich, Antoine

Wer keine Freunde hat, außer einem alten Plastikstuhl und ein Diktiergerät, hat ein Problem mit anderen Menschen oder andere Menschen mit ihm.
Dieser Jemand ist Antoine, Protagonist des Romans "Ich, Antoine" der französischen Autorin Julie Estève. 

Der geistig behinderte Antoine ist in einem Dorf in Korsika aufgewachsen und hat den größten Teil seines Lebens hier verbracht. Immer war er der Dorftrottel. Die Menschen mochten ihn nicht, aber sie schenkten ihm viel Beachtung. Denn er war ein duldsames Opfer, das sich von ihnen bis aufs Blut quälen ließ. Und von diesen Quälgeistern gab es reichlich in diesem Dorf. Antoine kannte es nicht anders. Und das ist das nahezu Unerträgliche (für den Leser). Für Antoine waren die Verspottungen und Quälereien, das Normalste der Welt. Es gab nur sehr wenige Menschen, die nett zu ihm waren. Eine davon war Florence, ein junges Mädchen, das genau wie Antoine in diesem Dorf aufgewachsen ist. Eines Tages, in den 80er Jahren, verschwand sie und Jahre später erinnert sich Antoine an die Umstände ihres Verschwindens. Und darum geht es in diesem Roman.
Quelle: dtv
"Feinde geben dem Leben nen Sinn, wenn einem sonst keiner einfällt. Die einen haben die Schwarzen zum Feind, die anderen die Frauen, die nächsten die Araber, die Schwulen, die Juden oder diese Heinis aus Bastia, ich könnt jetzt ne endlos lange Liste aufzählen. Der Clou daran ist, Feinde sind immer andre Menschen. N Baum zum Beispiel kann nie der Feind sein. Ich hab zumindest noch nie gehört, wie jemand gesagt hat, mein größter Feind is n Feigenbaum!"
Es ist nicht einfach, Antoines Gedankengängen zu folgen. Denn seine Erinnerungen sind unsortiert, folgen keiner chronologischen Reihenfolge. Seine Sprache ist derb und einfach strukturiert - kein Wunder für einen Geistigbehinderten, der niemals gefördert wurde, wie man es in einer zivilisierten Gesellschaft der 80er Jahre erwartet hätte. Doch in dem Dorf in Korsika schlugen die Uhren anders. Feindseligkeit und Misstrauen prägten die Dorfgemeinschaft. Hier herrschte das Recht des Stärkeren und die Schwächeren blieben auf der Strecke. Wenn selbst Antoines eigener Vater meinte, dass so einer wie Antoine besser nie geboren wäre, ist klar, dass das Leben für unseren Protagonisten keine Möglichkeiten bereithielt.
"Mein Papa war gleich stinksauer auf mich. Hat gleich gemeint, dass ich n Mörder bin, er hätt mich mitm Kopfkissen ersticken sollen. Hab schon als Baby wie n Dorftrottel ausgeschaut, mein Kopf war schlicht überdimensional. Papa hat gesagt, es ist ne ganz schöne Strafe, wenn man so nen hässlichen Schwachkopf wie mich hat... Dass ich zwar ne Riesenbirne hab, aber trotzdem überhaupt nix drin ist."
Antoine erzählt scheinbar die Geschichte eines Verbrechens, denn die Umstände von Florences Verschwinden sind ungeklärt. Zwischen den Zeilen und durch winzige Andeutungen lässt sich erahnen, dass er mehr weiß, als er zunächst preisgibt. Erst nach und nach zeigt sich das ganze Ausmaß der Geschehnisse. Während sich also die Handlung entwickelt, ergeben sich für den Leser viele Verdächtigungen, von denen selbst Antoine nicht freigesprochen werden kann.
"Ich, Antoine" ist kein Wohlfühlbuch. An dieser Geschichte und seinem Protagonisten ist fast alles trostlos und hässlich. Aber gerade das hat für mich den Reiz dieses Romans ausgemacht. Bücher mit geistig behinderten Ich-Erzählern suggerieren immer ein liebenswertes Bild desjenigen ... zumindest war es bisher so bei denjenigen Büchern, die ich gelesen habe. Antoine ist nicht liebenswert. Er ist abstoßend und verlottert. Positive Emotionen und Mitgefühl sind ihm fremd, genauso wie der Dorfgemeinschaft, die ihm die Empathielosigkeit vorlebt. Antoine ist nicht liebenswert, aber als Opfer der Dorfgemeinschaft und angesichts seines trostlosen Lebens und seiner Chancenlosigkeit ist er definitiv bemitleidenswert.

Fazit:
"Ich, Antoine" von Julie Estève ist ein ungewöhnlicher Roman. Die Hässlichkeit und Trostlosigkeit, die in der Geschichte von Antoine verpackt sind, machen ihn zu einem Unwohlfühl-Buch. Aber gerade das macht für mich den Reiz dieses Buches aus. 
Leseempfehlung!

© Renie