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Samstag, 9. Mai 2020

Frédéric Brun: Perla

"Mondaufgang am Meer" - Caspar David Friedrich
Der Roman "Perla" von Frédéric Bruns ist ein Buch über Liebe, Trauer und Schönheit.
Von dem Einband dieses Buches blickt mich eine wunderschöne Frau an. Sie hat ein bezauberndes Lächeln. Und dennoch strahlt ihr Blick eine Traurigkeit aus, die mir - noch bevor ich eine Seite in diesem Buch gelesen habe - zunahe geht.

Es ist Perla. Mutter des Autors.
"Perla, ich werde immer eine Mappe auf dem Rücken tragen, die Mappe eines Kindes, das zur Schule des Lebens aufbricht. Du packst mir immer noch etwas hinein. Eine Mutter ist unsterblich."
Quelle: Faber und Faber
Frédéric Brun hat mit diesem Roman ein Buch über seine Mutter geschrieben. Er beginnt ihn unmittelbar nach dem Tod von Perla. In Gedanken an das Leben mit ihr wird ihm bewusst, dass sie ein wichtiges Kapitel ihrer Geschichte vor ihrer Familie abgeschirmt hat: 1944 kam sie für sieben Monate nach Auschwitz. Und wie so viele Überlebende der Konzentrationslager sah Perla sich außer Stande, ihre Erinnerungen an diese Zeit mit anderen Menschen zu teilen - auch nicht mit ihrer Familie. 
"Perla verzichtete in ihrer Depression auf das Leben. Das war ihre Art, das Unverständnis über die Welt sichtbar werden zu lassen. Was gibt es nach Auschwitz noch zu erklären? Was ich davon in Erinnerung behalte, ist ihre Krankheit. Ich habe den Eindruck, dass sich meine Mutter so verständlich machen wollte, weil sie nicht fähig war, das Erlebte anders zu artikulieren, davon zu sprechen oder ein Buch darüber zu schreiben. Die Depression war umso vieles eindeutiger als alles reden. Sieben Monate in ihrem Leben bedeuteten letztendlich jahrzehntelange Qual. Wieviel benötigt ein Mensch, um ein anderes menschliches Wesen zu zerstören? Eine Woche, einen Tag, eine Stunde?" 
Um seiner Mutter auch nach ihrem Tod verbunden zu bleiben, begibt sich Frédéric Brun in die Vergangenheit und versucht zu verstehen, was mit Perla geschehen ist. Er stellt sich seine Mutter im Konzentrationslager vor, ihren Kampf ums Überleben, ihren Hunger, ihre Qual. Seine Gedanken werden ihm keine Erkenntnisse bringen, was ihr in diesen schrecklichen Monaten widerfahren ist. Über Mutmaßungen wird er nicht hinauskommen. Die Reise in Perlas Vergangenheit bringt ihn seiner Mutter Stück für Stück näher. Am Ende dieses Buches wird er mit der Trauer über den Verlust seiner Mutter leben können. Er wird anerkennen, dass Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verbunden sind, und dass Perla immer ein Teil von ihm und seinen Nachkommen sein wird.

In dem Buch "Perla" schildert also der Autor seine Gedanken über das Leben seiner Mutter, seinem eigenen Leben, dem Leben an sich. Das Buch ist dabei in mehrere Kapitel unterteilt, die sich auf einzelne Gedankengänge konzentrieren. Mit Ende eines Kapitels werden diese Gedankengänge unterbrochen und an anderer Stelle wieder aufgenommen.
Diese Gedankengänge sind
- Schilderungen über das Leben mit Perla, die unter Depressionen litt und sich in ihren düsteren Phasen aus dem Familienleben zurückzog
- Mutmaßungen über das Leben und den Alltag in Auschwitz
- Reflexionen über Frédéric Bruns Leben und den Einfluss seiner Mutter auf seine Entwicklung
- Gedanken zu den 4 Friedrichen der Romantik, deren Werke und Philosphie Wegbereiter für das  nationalsozialistische Gedankengut waren und - welch Ironie - gleichzeitig Inspiration für Bruns Schriftstellerei und sein Leben bedeuten: die Schriftsteller und Philosophen Schlegel, Novalis und Hölderlin sowie der Maler Caspar David Friedrich.

Frédéric Bruns Gedanken besitzen dabei eine Intensität und Tiefgründigkeit, die unter die Haut gehen. Von der ersten Zeile an wird in diesem Buch deutlich, welche Erschütterung Perlas Schicksal und ihr Tod für sein eigenes Leben bedeuten. Dabei verwendet er eine Sprache, die hochemotional und unfassbar poetisch ist.

In diesem Roman liegen Traurigkeit und Schönheit sehr dicht beieinander. Es ist nicht nur der Text, der berührt, sondern auch alte Schwarzweiß-Fotografien mit Motiven des Konzentrationslagers in Auschwitz. Demgegenüber stehen Abbildungen von Gemälden von Caspar David Friedrich. Somit treffen menschenverachtende Grausamkeit auf die wohltuende stille Schönheit, die Friedrichs Bilder ausstrahlen. Und Frédéric Brun stellt damit eine Frage, die sich wohl niemals beantworten lässt:
"Wie ist es möglich, dass Novalis, die deutschen Dichter und die Hitlergeneräle den gleichen Stammbaum haben?"
Fazit:
Der Titel diese Romans ist Programm. Denn dieses kleine Büchlein mit gerade mal 122 Seiten ist durch seine berührende Geschichte, seine tiefgründigen Gedanken und seinen  Abbildungen und Fotografien eine Perle von einem Buch. Hässlichkeit und Schönheit, Glück und Traurigkeit liegen dicht beieinander und machen dieses Buch zu einem ganz besonderen Leseschatz.

© Renie