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Freitag, 6. März 2020

Terézia Mora: Auf dem Seil

Quelle: Pixabay/Pixaline
„Eigentlich“ ist ein Wort, das man eigentlich nicht verwenden sollte. Erst recht nicht in der Kommunikation und am besten gar nicht in einer Rezension. Wenn man "eigentlich" googelt, erhält man neben den Links auf die gängigen Nachschlageportale der deutschen Sprache auch Hinweise auf Portale der Anti-"eigentlich"-Fraktion. Deren Bedenken können sein:
- "eigentlich" hat "Chamäleoncharakter", weil es Aussagen mehrdeutig macht
- "eigentlich" führt zu Unklarheit, lässt Interpretationsspielraum
- "eigentlich" kann abwertend sein
- Wer "eigentlich" benutzt, drückt sich vor klaren Aussagen
Nach Abwägung dieser Bedenken kann man nur zu dem Schluss kommen, dass "eigentlich" ein "Giftpfeil der Kommunikation" ist.

Nun zu dem Roman, den ich eigentlich besprechen will: "Auf dem Seil" von Terézia Mora
Ich kann es drehen wie ich es will. Doch nachdem ich "Auf dem Seil" von Terézia Mora gelesen habe, komme ich nicht daran vorbei, in meiner Rezension das Wörtchen "eigentlich" zu benutzen - mehrfach.
Quelle: Luchterhand

Darius Kopp, ehemals IT-Experte aus Berlin, hat sich nach dem Tod seiner Frau von seinem bisherigen Leben verabschiedet. Über mehrere Monate reist er durch Europa. Am Ende strandet er in Sizilien, die Asche seiner Frau im Gepäck. Der Roman setzt ein, als Darius bereits seit einigen Monaten in Sizilien lebt. Er hält sich durch Jobs über Wasser, ist menschenscheu und antriebslos geworden. Das Nötigste reicht ihm zum Leben. Er will mit seinem vergangenen Leben abschließen und hat den Kontakt zu seinen Freunden und Verwandten abgebrochen. Eigentlich. Denn eines Tages steht seine Nichte vor der Tür. 
"Die Anwesenheit eines Anderen bracht die Zeit wieder in Gang."
Die 17-Jährige ist von zu Hause abgehauen und hat sich dabei an ihren Onkel erinnert. Als schwarze Schafe der Familie haben sie vermutlich einiges gemeinsam. Aus einem spontanen Kurzbesuch wird ein längerer Aufenthalt, während dessen die Nichte es schafft, ihren verschlossenen Onkel aus seiner Lethargie herauszureißen. Er entwickelt so etwas wie Verantwortungsgefühl für sie - auch, wenn er es eigentlich nicht wahrhaben will. Am Ende begleitet er sie wieder zurück nach Deutschland, wo er in langsamen Schritten wieder zurück in sein altes Leben zurückkehrt.

"Auf dem Seil" ist der letzte Teil einer Trilogie. Der Protagonist Darius Kopp präsentiert sich in diesem Teil als ein verschlossener Typ. Da ich die beiden vorherigen Teile nicht gelesen habe, kann ich nicht beurteilen, wie dieser Charakter in den anderen beiden Romanen angelegt war. Hier ist er der, vom Schicksal erschütterte Mann, der sämtliche Einflüsse, die von Außen kommen, auf ein Mindestmaß reduziert hat. Er versucht, sich auf sich selbst zu besinnen. Kommunikation ist ihm ein Gräuel geworden. Daher spricht er nicht viel. Und wenn er spricht, meint er eigentlich etwas anderes als das, was er ausspricht. Oder er lässt Gedanken einfach unausgesprochen. Diese Eigenart seiner Kommunikation macht die Autorin deutlich, indem sie den Part des "Übersetzers" übernimmt, bzw. Kopps unausgesprochenen Gedanken zitiert. Als Leser betrachtet man die Geschichte daher aus 2 Blickwinkeln. Zum Einen aus der Position, die Darius' jeweiliges Gegenüber einnimmt, zum Anderen aus Darius' Gedankenwelt heraus.
"Guter, alter, stinkender Raps.
Habe ich das laut gesagt? Offenbar ja, denn Olli und auch Lore schauten irritiert.
Verzeihung, sagte Darius Kopp, der sich mit einem Mal in sehr guter Laune wiederfand. ... (Ich rede wie ein geselliger, vielversprechender Mensch.)"
Eigentlich ist dieser stilistische Kniff, den die Autorin gewählt hat, eine faszinierende Besonderheit dieses Romans. Doch tatsächlich wird die permanente Anwendung dieses Kniff mit der Zeit sehr ermüdend. Denn in diesem Roman gibt es so gut wie keine Satzzeichen der wörtlichen Rede. Das macht es mühsam, den Unterschied zwischen dem, was Darius sagt und dem, was Darius denkt, auszumachen. Im echten Leben habe ich Schwierigkeiten mit Menschen, die nicht sagen, was sie denken. Daher hat es mich in diesem Buch natürlich auch gestört. Eigentlich muss ich mich nicht mit einem Protagonisten solidarisieren oder schlimmer noch identifizieren. Wenn mir ein Protagonist "unsympatisch" ist, hat er zumindest Ecken und Kanten, an denen ich mich stoßen kann. Doch die Autorin macht Darius Kopp durch den stilistischen Kniff der unausgesprochenen Gedanken zu einem - im wahrsten Sinne des Wortes - nichtssagenden Protagonisten.

Fazit:
Eigentlich ist die Geschichte eines Aussteigers, der wieder ins Leben zurückkommt gut. Denn die Entwicklung des Protagonisten von eben diesem Aussteiger zu einem Mann, der wieder am Leben teilnimmt, ist gut umgesetzt. Doch da ich meine Schwierigkeiten mit der Kommunikationsfähigkeit des Protagonisten hatte, konnte mich "Auf dem Seil" als ein Roman der "unausgesprochenen Gedanken" eigentlich nicht wirklich überzeugen.

© Renie