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Donnerstag, 7. November 2019

Charles Lewinsky: Der Stotterer

Quelle: Pixabay / nonmisvegliate
Ein Mann mit dem klangvollen Namen Johannes Hosea Stärckle sitzt eine Gefängnisstrafe ab. Eigentlich spielt sein Name keine Rolle, zumal der Leser auch nicht sicher sein kann, ob dieser Name echt ist. Daher mache ich aus diesem Mann einen Halunken, Gauner und Bösewicht. Dieser Bösewicht sitzt also im Gefängnis und schreibt sich Briefe mit dem Gefängnisgeistlichen. Er stottert, doch dafür kann er geradezu brillant mit dem geschriebenen Wort umgehen. Diese Brillanz erschließt sich schon nach den ersten Sätzen aus den Briefen, die der Gauner dem Geistlichen schreibt.
Man bekommt nur den einen Teil der Korrespondenz mit. Die Antworten des Pfarrers ergeben sich aus den Briefen des stotternden Halunken. Es scheint, dass der Pfarrer seine Brillanz im Umgang mit dem geschriebenen Wort ebenfalls erkannt hat. Zumindest animiert er ihn zum Schreiben. Der Bösewicht soll sein Leben niederschreiben, woran er auch mit der Zeit Geschmack findet. Aus den Briefen an den Pfarrer wird mehr: der Gauner beginnt Tagebuch zu schreiben, denkt sich Geschichten aus, die seine schriftstellerischen Qualitäten unter Beweis stellen. Was hat sich der Pfarrer nur dabei gedacht? Schreiben als Läuterung? Kaum zu glauben, dass sich ein Mensch wie der stotternde Halunke ändern kann. 
Quelle: Diogenes
"In Ihrer Amtszeit habe ich mich oft darüber lustig gemacht, dass Sie einen besseren Menschen aus mir machen wollten. Ein besserer bin ich nicht geworden, ein anderer bestimmt. Dank Ihnen. Vom stotternden Hochstapler zum Möchtegernautor. Wobei die Schriftstellerei auch eine Art Hochstapelei ist, nur eben gesellschaftlich anerkannt und nicht strafbar."
Natürlich fragt man sich, für welches Verbrechen er sich schuldig gemacht hat, dass er eine Haftstrafe verbüßen muss. Anfangs lässt sich nur spekulieren: wer so mit geschriebenen Worten umgehen kann, muss auch versucht haben, etwas aus seinem Talent zu machen – nur leider im moralisch fragwürdigen Sinne.

Trotz des regen Briefverkehrs sind es gar nicht so sehr die spirituellen Qualitäten des Geistlichen, die den Halunken inspirieren. Vielmehr ist es der Spaß daran, sich mit dem geistlichen Intellekt zu messen und sich an der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Seelsorger zu erfreuen. Denn zur Religion hat der Bösewicht ein gestörtes Verhältnis. Kein Wunder, bei jemandem, der in einer Sekte aufgewachsen ist und unter den religiösen Ambitionen eines streng gläubigen Vaters sowie des Sektenführers gelitten hat. 
Aber den Inhalt der Bibel beherrscht er immer noch rauf und runter, was man auch seinen Briefen anmerkt, die er gerne mit Bibelversen versieht. Für jede Situation ein passendes Bibelzitat parat. Und was nicht passt, wird passend gemacht.
Die eigentliche Religion des Gauners scheint die Philosophie zu sein, sein Prophet ist Schopenhauer. Schließlich ist der Stotterer ein Zyniker. Da hat Schopenhauer, der für seinen messerscharfen und gnadenlosen Zynismus berühmt-berüchtigt war, einiges zu bieten. Auch hier hat der böse Bube bei Bedarf immer ein Schopenhauer-Zitat für seine Korrespondenz parat. Und wenn nicht, wird schnell eines erfunden.
"Es ist meine Erfahrung, dass Weltanschauungen ein kurzes Verfallsdatum haben. Sie ändern sich zwar nicht automatisch, wenn der Wind dreht, aber wenn ein Sturm aufkommt, egal, aus welcher Richtung, sind sie schnell weggeblasen. Feste Meinungen, die sich keiner neuen Wirklichkeit anpassen, scheinen mir auch nicht erstrebenswert. Sie sind etwas, an dem sich Dumme und Hilflose festhalten. Oder Märtyrer."
Nach und nach enthüllt sich das Bild von einem Mann, der einfach nur schrecklich ist. Er hat ein Höllenvergnügen daran, Menschen zu manipulieren und auszunutzen, was er selbst als Kunst empfindet. Zugegebenermaßen sind seine Methoden schon sehr fantasievoll. Man staunt, welche Gedanken und Pläne ein Mensch entwickeln kann, um einem anderen zu schaden – entweder aus Rache oder als Broterwerb. 

"Der Stotterer" ist ein moderner Roman. Er spielt in der heutigen Zeit, irgendwo in einer JVA in Deutschland. Und die Machenschaften des stotternden Bösewichts gehen auch im Gefängnis weiter. Schließlich gilt es zu überleben und sich den Gefängnisalltag so angenehm wie möglich zu gestalten. 
"Ich bin nicht, was ich schreibe, und ich schreibe nicht, was ich bin. Ich erfinde."
Er ist ungemein stolz auf seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Und als Leser kann man ihm diese Brillanz uneingeschränkt bescheinigen. Er ist wandelbar, jede Geschichte aus seinem Leben – egal, ob erfunden oder wahr – ist anders erzählt. Der Halunke könnte alles schreiben: Liebesbrief, Krimi oder hochgeistige Literatur. Und diese Wandelbarkeit in der Sprache hat für mich eine besondere Faszination dieses Romans ausgemacht.

Der Autor Charles Lewinsky hat sich mit diesem Aspekt seines Protagonisten auf ein sehr riskantes Terrain begeben. Da darf man sich als Autor keine schriftstellerischen Schwächen erlauben. Wer vorgibt, dass sein Protagonist schriftstellerisch brillant ist, muss auch den Beweis dafür liefern. Und das ist Lewinsky ohne Zweifel gelungen. 

Leseempfehlung!

© Renie