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Freitag, 28. Dezember 2018

Juan Pablo Villalobos: Ich hatte einen Traum

Quelle: Pixabay/Jeffdiabolus
"Wir haben ein Flüchtlingsproblem" - ein Satz, der in Deutschland häufig zu hören ist. Was auch immer dieses Problem sein mag, ist es doch nichts im Vergleich zu den Problemen, die Flüchtlinge selber haben. Flucht ist immer mit Angst verbunden. Und wie groß die Angst sein muss, dass ein Mensch seine Existenz aufgibt, um auf eine ungewisse Zukunft in einem völlig fremden Land, sogar völlig fremder Kultur, zu bauen, ist für mich unvorstellbar.
Noch viel weniger kann ich mir vorstellen, dass sich Kinder und Jugendliche gezwungen sehen, ihr Zuhause und ihre Familie zu verlassen, ganz einfach, weil die Angst um ihr Leben keine andere Entscheidung zulässt. Tatsächlich passiert dies in Mittelamerika täglich. In den letzten 5 Jahren haben etwa "189.000 Minderjährige ihre Heimat Guatemala, Honduras oder El Salvador verlassen, und wurden in den USA als 'unbegleiteter Minderjähriger' erfasst." (aus dem Buch) Diese Kinder und Jugendlichen träumen von einer Zukunft, zumindest von einem Leben in Sicherheit. Wenn sie Glück haben, lebt in den USA, dem Ziel ihrer Flucht,  bereits ein Verwandter. Der Fluchtweg führt sie dabei über Mexiko. Sind sie einmal über die Grenze in die USA gelangt, kommen sie in Auffangstationen, wo zunächst einmal ihr Status "unbegleiteter Minderjähriger" festgelegt wird. Der offizielle Flüchtlingsstatus gemäß Genfer Konventionen steht ihnen nicht zu. Daher haben sie auch keinen Anspruch auf jegliche Flüchtlingsrechte, allen voran das Recht auf Nichtabschiebung. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definiert, welche Angst einem Menschen zugestanden wird, dass er sich offiziell "Flüchtling" nennen darf: "die begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung". Die flüchtigen Kinder und Jugendlichen Mittelamerikas treibt eine andere Angst um. Denn sie kommen aus Ländern, mit den höchsten Mordraten der Welt.
© Marius Kowalski
"... Mordraten, die die Zahlen mancher Länder übertreffen, in denen offener Krieg herrscht." 
Nahezu alle dieser "unbegleiteten Minderjährigen" haben bereits am eigenen Leib erfahren, was es heißt, um das eigene Leben bzw. das, seiner Angehörigen zu fürchten. Sie werden in ihrer Heimat nicht aufgrund ihrer Rasse, Religion etc. bedroht, sondern einfach, weil ihr Alltag von skrupellosen Menschen dominiert wird, denen ein Menschenleben nichts bedeutet. Wer kann es den Kindern und Jugendlichen also verdenken, wenn sie ihrem persönlichen Albtraum entfliehen wollen, mit der Hoffnung auf eine Zukunft in Sicherheit?
"Aber ich fühlte mich nicht mehr sicher, ich hatte Angst, dass sie mir an der nächsten Ecke auflauern und mich umbringen würden. Sie haben Taschenmesser, andere Messer, vielleicht sogar Schusswaffen. Ich habe gehört, dass sie andere Jungs zusammengeschlagen haben, und ich habe mir Sorgen gemacht, dass sie mir oder meiner Familie etwas antun könnten, denn dort kann alles passieren, man ist vor nichts sicher, manchmal bringen sie die ganze Familie um, und das machte mir am meisten Angst."
Juan Pablo Villalobos, mexikanischer Autor, ist einigen von ihnen begegnet und hat sich von ihren Träumen erzählen lassen - sowohl von ihren Albträumen zuhause und während der Flucht in die USA als auch von ihren Zukunftsträumen. In seinem Buch "Ich hatte einen Traum" lässt er sie zu Wort kommen.

Dabei fällt zunächst auf, wie emotionslos und distanziert, die Kinder und Jugendlichen ihre Geschichten wiedergeben. Sie sind zwischen 10 und 17 Jahren und ihnen ist Schreckliches widerfahren. Dient diese Art, ihre Geschichte zu erzählen, ihrem  Selbstschutz, um den seelischen Schmerz nicht wieder und wieder erdulden zu müssen? Auf jeden Fall lösen diese Emotionslosigkeit und Distanz beim Leser das genaue Gegenteil aus. Man kann sich vor ihren Schicksalen nicht verschließen. Die Geschichten gehen sehr sehr nahe.
Die Kinder und Jugendlichen scheinen während der Flucht in einem eigenen Mikrokosmos zu leben. Dabei beweisen sie eine Willensstärke, die sie seltsam erwachsen erscheinen lässt. Ihr Denken ist nur davon bestimmt, den Weg unbeschadet in das gelobte Land zu schaffen. Wem kann ich vertrauen? Wem muss ich misstrauen? Andere Gedanken, außer dem Traum von einer besseren Zukunft, lassen sie nicht zu. Dieser Traum scheint ihnen die Kraft zu geben, um die Gefahren auf ihrem Weg zu meistern.
"Vielleicht kann ich ja Pilot werden, wenn ich groß bin."
Fazit
Der Autor gibt die Geschichten dieser Kinder ungeschönt wieder. Die Emotionslosigkeit der Kinder auf der Flucht geht dabei sehr nahe. Juan Pablo Villalobos ist mir aufgrund seines humoristischen Romans "Ich verkauf dir einen Hund" ein Begriff. Doch in "Ich hatte einen Traum", inmitten des Flüchtlingsdramas um die Kinder Mittelamerikas, ist dem Autor nicht nach Lachen zumute. Ganz im Gegenteil! Der Autor prangert die Situation in Mittelamerika und den USA an, zu Recht. Dabei wird er in einem sehr aussagekräftigen Nachwort von seinem Journalistenkollegen Alberto Arce unterstützt, der die Hintergründe zu diesem Drama liefert. 

Mir hat gefallen, dass Villalobos am Ende des Buches in wenigen Sätzen erwähnt, was aus jedem der interviewten Kinder und Jugendlichen geworden ist. Und sie haben es alle geschafft, am Ende durften sie in den USA bleiben. Für wie lange, bleibt jedoch bei vielen offen. Denn die USA macht es Menschen, die immigrieren wollen, nicht einfach. Und das Risiko, am Ende doch ausgewiesen zu werden, bleibt bestehen.

© Renie








Freitag, 21. Dezember 2018

Lucky Whineberg: Amys Weihnachtsbriefe

Quelle: Pixabay/photosforyou
Alle Jahre wieder lese ich zur Einstimmung auf Weihnachten eine Weihnachtsgeschichte. Da kann der vorweihnachtliche Rummel noch so stressig sein. Eine Weihnachtsgeschichte holt mich runter und macht mich tiefenentspannt. Von Charles Dickens bis Renate Bergmann, ich habe schon viele gelesen. Und ich freue mich, wenn ich wieder eine neue Geschichte entdecke, so wie die Erzählung "Amys Weihnachtsbriefe", von der ich behaupte, dass jeder Familienmensch sie lieben wird.

"Amys Weihnachtsbriefe" von Lucky Whineberg beginnt am Tag vor Weihnachten, in einer Küche. Hier versucht sich Amy, die Ich-Erzählerin, an der Zubereitung des Weihnachtstruthahns - streng nach Mutters Rezept. Diese ist vor 2 Monaten gestorben - an Krebs. Die Familie ist mit dieser Krankheit vorbelastet. Ein jüngerer Bruder von Amy ist vor einigen Jahren an Leukämie gestorben. Auch der Vater lebt nicht mehr.
Von ehemals 7 Familienmitgliedern sind nur noch 4 übrig: Amy und ihre Geschwister Elise, Cathleen und Jamie. Und gerade zu Weihnachten wird ihnen der Verlust ihrer Angehörigen, insbesondere der Mutter, schmerzlich bewusst. 
Die vier Geschwister sind so unterschiedlich wie Menschen nur sein können. Die Mutter hat die Familie zusammengehalten. An Weihnachten wurde häufig gestritten. Wenn Charakterköpfe aufeinanderprallen, ist nun mal Stimmung in der Bude, wenn auch keine besinnliche. Und trotzdem war jedes Weihnachten am Ende doch wunderschön, nicht zuletzt durch die Fürsorge der Mutter. 

Die Geschwister wollen an ihrem traditionellen Familienweihnachtsfest festhalten. Mittlerweile sind sie in alle Winde verstreut und wollen sich im Haus ihrer Kindheit treffen, um hier gemeinsam Weihnachten zu feiern. Da erreicht sie eine Hiobsbotschaft: Elise ist bei ihrer Ankunft zusammengebrochen und ins Krankenhaus eingeliefert worden. Bei den Geschwistern läuten sämtliche Alarmglocken, denn sie haben einen fürchterlichen Verdacht, was die Ursache von Elises Zusammenbruch angeht. Und das Weihnachtsfest nimmt für die Geschwister einen Verlauf, den sie sich so nicht vorgestellt haben.
"Bitte lieber Gott, mach, dass alles gut wird! Mach, dass wir Elise mitnehmen können, dass ihr nichts fehlt. Mach, dass es endlich, endlich Weihnachten wird!"
Ich bin ein Familienmensch und habe diese Erzählung daher sehr genossen. Im Mittelpunkt steht der Zusammenhalt der Geschwister, die das Weihnachtsfest zum Anlass nehmen, sich auf das Besondere zu besinnen, das sie verbindet. Da können sie noch so unterschiedlich sein, sich streiten und unterschiedliche Lebenswege einschlagen haben. Am Ende überwiegt immer die Liebe zueinander. Und der Umgang der Geschwister miteinander macht mir wieder einmal deutlich, was Familie bedeutet:  Das Leben kann es noch so mies mit dir meinen ... es gibt immer jemanden, der für dich da ist. Dieses Urvertrauen kannst du nur in einer Familie finden.
"Es war nicht alles perfekt in all unseren gemeinsamen Jahren, aber vieles war gut. Ich wusste in diesem Moment, dass die traurigen Erinnerungen verblassen und dass die guten bleiben würden."
Lucky Whineberg hat eine stimmungsvolle Erzählung geschrieben. Dabei trifft sie genau das richtige Maß an Melancholie und Sentimentalität. Von Anfang an befindet man sich als Leser im Weihnachtsmodus, was ein sehr schönes Gefühl ist. Ich habe mich selbst dabei ertappt, wie ich an das Weihnachten meiner Kindheit gedacht habe, so dass mir während des Lesens ganz warm ums Herz geworden ist. Stimmung, Gefühl und Herzenswärme sind die Dinge, die ich an einer guten Weihnachtsgeschichte schätze. Und davon gibt es in Lucky Whinebergs Erzählung reichlich.

Leseempfehlung!

© Renie







Freitag, 14. Dezember 2018

James Baldwin: Beale Street Blues

Quelle: Pixabay/ahkeemhopkins
"Es gehört zum Wesen des Blues, große Tragik mit Schönheit zu verbinden und selbst dem schrecklichsten Leid noch Poesie abzugewinnen ....." 
Diese Aussage von Daniel Schreiber, Verfasser des Nachwortes zu "Beale Street Blues" von James Baldwin, bringt es auf den Punkt. Denn er beschreibt in einem Satz die Essenz dieses Romans: Tragik und Leid, vereint mit Schönheit und Poesie.
Dieser Roman kommt also wie ein Blues daher. Tatsächlich geht es hier jedoch nicht um Musik, sondern um menschliche Schicksale.

Eine Beale Street gibt es in jeder Stadt Amerikas. Denn sie steht stellvertretend für die Schwarzenviertel in diesen Städten. Die "echte" Beale Street befindet sich in New Orleans. In der Beale Street New Yorks lebt Tish (Ich-Erzählerin) mit ihrer Familie: Vater Joseph, Mutter Sharon und Schwester Ernestine. Tish ist die jüngere der beiden Schwestern. Mit Anfang 20 beschließt sie, ihren Freund Fonny zu heiraten. So weit, so gut. Aber nichts ist gut. Denn Fonny sitzt unschuldig im Gefängnis und wartet auf einen Prozess, den er unmöglich gewinnen kann. Denn er ist ein Farbiger. Das reicht, um ihn der Willkür der weißen Behörden auszuliefern, die sich entweder gleichgültig gegenüber der Schuld- bzw. Unschuldsfrage zeigen, oder aus Hass gegenüber anderen Hautfarben kein anderes Ziel vor Augen haben, als Fonny für lange Jahre ins Gefängnis zu bringen.
"Und ich schäme mich nicht für Fonny. Wenn überhaupt, dann bin ich stolz auf ihn. Er ist ein Mann. Das merkt man an der Art, wie er mit dieser Scheiße umgeht. Angst hab ich allerdings schon manchmal - keiner hält die Scheiße mit der sie uns bewerfen, ewig aus."
Tish's Familie kämpft einen fast aussichtslosen Kampf, um Fonny frei zu bekommen. Ihre Bemühungen sind sehr kostspielig. Doch die Familie hält zusammen. Sie kämpft leider allein auf weiter Flur. Denn von Fonnies eigener Familie kommt nicht viel Unterstützung. Ganz im Gegenteil. Die bigotte Mutter verteufelt ihren einzigen Sohn, die beiden Schwestern halten zu ihrer Mutter. Einzig der Vater versucht, seinen Sohn zu unterstützen.

Fast Tag für Tag besucht Tish Fonny im Gefängnis. Eine Stunde am Tag, mehr Zeit lässt man den beiden nicht. Tish ist bemüht, Fonny Hoffnung zu geben, was anfangs auch gelingt. Denn die Beiden bekommen ein Baby. Grund genug für Fonny, an dem Glauben an einen guten Ausgang seiner Tragödie festzuhalten. Doch mit der Zeit schwindet sein Optimismus, und es wird immer schwieriger für ihn, an ein positives Ende zu glauben.
"Wahrscheinlich kommt es nicht so oft vor, dass zwei Menschen lachen und sich dabei lieben können, sich lieben, weil sie lachen, lachen, weil sie sich lieben. Die Liebe und das Lachen sitzen an derselben Stelle, da gehen nur nicht viele Leute hin."
Die Schilderung der Liebe zwischen Tish und Fonny ist für mich ein Fels in der "Lesebrandung". Denn das dominante Gefühl in diesem Roman ist Hass, hervorgerufen durch übelste Diskriminierung. Es liegt zwar nahe, dass in diesem Roman die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung angeprangert wird. Doch dies ist nur ein Teilaspekt. Tatsächlich macht der farbige Autor James Baldwin keinen Unterschied bei der Hautfarbe. Denn hier diskriminiert jeder jeden, unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Geschlecht. Die Diskriminierung kann subtil stattfinden, in Gedanken oder durch Worte, die zunächst wie selbstverständlich erscheinen.

Aber in der Regel taucht sie bei Baldwin mit aller Wut und Brutalität auf. Diese Wut und Brutalität findet sich auch in seinem Sprachstil wieder. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich angenommen, dass dieser Roman von einem jungen Mann geschrieben wurde, der seine Wut über die Ungerechtigkeit in dieser Welt hinausschreit. (Tatsächlich war Baldwin 49 Jahre alt, als er diesen Roman schrieb)

Er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, benennt die Dinge beim Namen und zeigt sie ungeschönt in all ihrer Hässlichkeit. Das Lesen dieses Romanes wühlt daher auf. Um so besonders und wohltuend sind daher die Momente seiner poetischen und liebevollen Schilderung der Beziehung von Tish und Fonny sowie das Miteinander und der starke Zusammenhalt ihrer Familie.

Fazit:
Ein Roman, der die Diskriminierung in der Gesellschaft aufs Heftigste kritisiert. Er fasziniert durch den Sprachstil des Autors, dem es gelingt, Kraft und Wut mit Poesie zu vereinen.
Leseempfehlung!

© Renie



Über den Autor:
James Baldwin (1924-1987) in New York geboren, war und ist vieles: ein verehrter, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und eine Ikone der Gleichberechtigung aller Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Herkunftsmilieus. Er war der erste schwarze Künstler auf einem Cover des ›Time Magazine‹. Baldwin starb 1987 in Südfrankreich. (Quelle: dtv)


Donnerstag, 6. Dezember 2018

Muriel Spark: Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Es gibt Begriffe, die man ohne Nachdenken und wie selbstverständlich verwendet. Einer davon ist für mich der Ausdruck "Blütezeit". "Eine Frau in der Blütezeit ihres Lebens". Nicht ganz so poetisch kann man auch sagen "Eine Frau in ihren besten Jahren". Doch "Blütezeit" und "die besten Jahre" sorgen bei mir für Irritationen. Was bedeuten diese Begriffe eigentlich? Ich habe mich durch Google gearbeitet, um eine allgemein gültige Definition für diesen verheißungsvollen Zeitraum herauszufinden. Das ist u. a. dabei herausgekommen:
- Im Forum "Sexualität" einer bekannten Online-Partnerschaftsvermittlung gibt es mehrere Erklärungsansätze, natürlich aus sexueller Sicht: Frauen ab Ende 20 bis zum Einsetzen der Wechseljahre ... Frauen über 40, weil sie einen eigenen Kopf, Erfahrung, eigenen Stil und jede Menge Energie haben .... Frauen zwischen 45 und 56: diese Frauen sind anspruchsvoll, was dem anspruchsvollen Liebhaber wiederum zugute kommt (das meint zumindest Steve, Alter: unbekannt)
- auf einer Internetseite, die sich mit den großen und kleinen Problemen des Lebens befasst, meint der Opa einer 30-Jährigen: "natürlich in den 30ern" (da wollte er seiner Enkelin, die bei ihrem 30. Geburtstag in eine tiefe Depression versank, wohl einen Gefallen tun)
- die Bild-Zeitung beruft sich auf eine britische Studie und behauptet, Frau ist mit 31 Jahren am schönsten (Schönheit ist also mit Blüte bzw. den besten Jahren gleichzusetzen?!)
- und dann gibt es da noch den Onlineshop, der Damenpullis mit dem Aufdruck "Die besten Jahre kommen doch nach 45!" im Sortiment hat.

Dies ließe sich jetzt endlos fortführen, beantwortet jedoch nicht meine Frage. Ich will nicht wissen, wann meine besten Jahre sind, sondern was sie zu den besten Jahren macht.
Quelle: Diogenes
"'... Die Blütezeit des Lebens ist schwer zu fassen. Wenn ihr erwachsen werdet, ihr kleinen Mädchen, müsst ihr gut aufpassen, damit ihr eure Blütezeit erkennt - in welches Alter sie auch fallen mag ...'"
Eine, die sich in ihrer Blütezeit befindet, ist Miss Jean Brodie, Protagonistin aus Muriel Sparks gleichnamigen Roman. Ich glaube, sie weiss selbst nicht so genau, was ihre Blütezeit ausmacht. Aber immerhin kokettiert sie mit diesem Begriff. Als Leser stolpert man häufig über das Wort "Blütezeit".

Miss Brodie ist Lehrerin an einer Mädchenschule in Edingburgh. Sechs ihrer Schülerinnen werden sich als die Brodie-Clique herauskristallisieren. Diese Mädchen stehen im Fokus der Erziehungs- und Lehrbemühungen von Miss Brodie. Die Clique wird über Jahre Bestand haben. Zu Beginn des Romans sind die Mädchen um die 10 Jahre alt. Der Kontakt untereinander und zu ihrer Lehrerin wird bis ins Erwachsenenalter anhalten.
Die Erziehungsmethoden von Miss Brodie sind unkonventionell, gemessen an der Zeit in der der Roman spielt (40/50er Jahre). Sie hält sich selten an den Lehrplan und versucht die Mädchen auf das Leben vorzubereiten, was vom Grundsatz her zu befürworten wäre. Nur Miss Brodie hat ihre ganz eigenen Vorstellungen, was das Leben betrifft. Eine Frau hat selbstständig zu sein, romantisch und der Politik zugewandt. Dabei will Miss Brodie ein leuchtendes Vorbild für ihre Mädchen sein. Sie ist unverheiratet, sorgt für sich selbst, hat Affären, träumt von der großen romantischen Liebe und begeistert sich für den Faschismus. Hitlers Auftreten in der Politik kann sie viel Positives abgewinnen, was sie jedoch später revidieren wird. Sie befindet sich in der Blütezeit ihres Lebens, an der sie die Mädchen teilhaben lässt. So infiltriert sie nach und nach die Gedanken und Phantasien der Mädchen mit ihrer eigenen speziellen Sichtweise über das Leben einer Frau. Anfangs lassen sich die Mädchen von ihrer Lehrerin beeinflussen. Doch mit zunehmendem Alter, spätestens mit Einsetzen der Pubertät, entwickeln die Mädchen ihren eigenen Kopf.
"Für Miss Brodie gab es nichts, was sie nicht noch lernen konnte - damit brüstete sie sich. .. Sie dehnte sich aus, diese Blütezeit der Miss Brodie, war immer noch im Werden begriffen, als die Mädchen schon längst im Teenageralter waren. Und über die Grundsätze, die am Ende ihrer Blütezeit herrschten, hätte sie sich am Anfang sehr gewundert."
Muriel Sparks Sprachstil zeichnet sich durch Eleganz und Präzision aus. Sie hält sich nicht mit ausschweifenden Beschreibungen auf, sondern schafft es, mit wenigen Worten ein buntes Szenario vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen. 

Darüberhinaus wendet sie in ihrem Roman einen stilistischen Kniff an. Trotzdem die Handlung in den 40er Jahren einsetzt und über viele Jahre verlaufen wird, verschafft sie dem Leser anhand von Zeitsprüngen in die Zukunft regelmäßige Einblicke, was aus den einzelnen Mädchen der Brodie-Clique werden wird. Und auch wenn der Eindruck naheliegt, dass Miss Brodie die Protagonistin dieses Romanes ist, sind es doch die Mädchen und ihre Entwicklung, die die Handlung dominieren. Miss Brodie ist dabei jedoch immer präsent, wenn nicht körperlich, dann im Denken der Mädchen.

Mein Fazit:
Ein Roman über eine bemerkenswerte Frau, deren Lebenseinstellung man nicht in jedem Punkt teilen muss, die aber durch ihr Selbstbewusstsein und ihre Willensstärke in einer Zeit, in der die Gleichberechtigung der Frauen noch nicht weit fortgeschritten war, beeindruckt. Der Fokus liegt dabei nicht auf dieser einzelnen Frau, sondern auf ihren Schützlingen und deren Erwachsenwerden. Der präzise und elegante Sprachstil von Muriel Spark hat dazu beigetragen, dass ich die Geschichte mit großem Vergnügen gelesen habe.


Und was hat es jetzt mit der "Blütezeit" auf sich?
Ich bin immer noch ratlos. Doch eines weiß ich mit Gewissheit: Die Blütezeit meines Lebens werde ich wahrscheinlich erst benennen können, wenn ich im Sterben liege. Schließlich kann ich heute noch nicht wissen, was das Leben noch an blühenden Momenten für mich bereit hält. Und da werden noch etliche kommen. Ich freue mich darauf!

© Renie




Über die Autorin:
Muriel Spark, geboren 1918 in Edinburgh, Autorin von Romanen, Theaterstücken, Kinderbüchern und Gedichten. Zahlreiche ihrer Bücher wurden verfilmt. 1986 wurde sie zum Commandeur des Arts et des Lettres ernannt, 1993 zur Dame Commander of the British Empire; 1999 erhielt sie den Ehrendoktortitel für Literatur der Oxford University. ›Die Blütezeit der Miss Jean Brodie‹ wurde mit Maggie Smith in der Titelrolle verfilmt. Muriel Spark, die 2006 in Florenz verstarb, wird gerade international wiederentdeckt und gefeiert. (Quelle: Diogenes)

Montag, 26. November 2018

Eckhart Nickel: Hysteria

Quelle: Pixabay/pixel2013
"Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht."
Dies ist der erste Satz aus Eckhart Nickels Roman "Hysteria".
Nun ja, wenn's nur die Himbeeren wären. Aber mit der ganzen Geschichte stimmt etwas nicht.
Dieser Roman ist eine Dystopie, ist aber ganz dicht an unserer Gegenwart dran.

Worum geht es in diesem sehr speziellen Roman?
Die Künstlichkeit hält Einzug in unser Leben. Was heutzutage z. B. die Tomaten sind, die nicht mehr nach Tomaten schmecken, aber dafür wie gemalt aussehen, ist in diesem Roman das kleinste Übel. Denn hier wird die "Verbesserung" von Lebensmitteln fast schon als Kunstform betrieben und beeinflusst unser Leben. Das vorrangige Ziel dieser "Verbesserung" ist die Wahrung unserer Natur. Die Natur und deren Produkte werden künstlich nachempfunden, um so nicht auf die natürlichen und begrenzten Ressourcen zurückgreifen zu müssen. Aber wenn dies so einfach wäre. Natürlich gibt es durchaus vernünftige Ansätze. Aber vieles, was entwickelt wird, weist mehr oder weniger offensichtliche Mängel auf. Da ist der wässrige Geschmack der Tomate durchaus noch zu tolerieren. 
Quelle: Piper
"'... Eine hochmoderne Arche Noah, ein multidimensionales Terrarium mit allen Tier- und Pflanzenarten der lebendigen Welt. Jede Spezies hat ihre Nische, ihren Raum, ihr ureigenes Biotop. .. Und wie schön unsere Kreaturen sind! Sie werden sprachlos sein, weil Sie ihresgleichen nicht einmal in alten Büchern oder Filmen jemals so gesehen haben. Und alles ist wirklich und lebendig.... das Beste beider Welten. Absolute Vollkommenheit und absolute Natürlichkeit friedlich vereint. Ein Meisterwerk, fraglos.'"
Es gibt da dieses "Kulinarische Institut", das federführend in der Disziplin der "Künstlichkeit" ist. Zum Einen hat es sich auf die Fahne geschrieben, Perfektion bei der Nachbildung zu erlangen. Zum Anderen sieht es sich auch als Bewahrer der Natur. 
Und in diesem Institut passieren scheinbar mysteriöse Dinge.

Das zum Rahmen der Handlung. Der Roman beginnt mit Himbeeren und Bergmann. Bergmann ist der Ich-Erzähler dieses Romans, der auch den Zustand der Beeren in Frage stellt. Er ist hypersensibel, d. h. seine Sinneswahrnehmungen sind stärker ausgeprägt als bei anderen Menschen. Dadurch nimmt er Reize und Veränderungen in sehr extremer Weise auf.
So, wie Bergheim die Geschichte schildert, kommt er fast schon autistisch rüber, was das Lesen nicht einfach macht. Er ist dermaßen auf die Reize seiner Umwelt konzentriert, dass er diese auch in den kleinsten Details schildert.
Bergmann landet nun in diesem Institut. Aber warum er dort landet, ist mir nicht klargeworden. Hat es an den Himbeeren gelegen? Keine Ahnung. Er ist auf jeden Fall irgendetwas auf der Spur. Was er jetzt sucht, wird bis zum Ende des Romans nicht deutlich. Was den Eindruck der autistischen Schilderungen angeht, haben diese im weiteren Verlauf des Romans keinen Bestand, genausowenig, wie Bergmanns Hypersensibilität. Die tritt tatsächlich in den Hintergrund. Einerseits wurde das Lesen dadurch leichter, andererseits fand ich es schade, dass dieser wichtige Aspekt des Protagonisten vernachlässigt wurde. 
"Bergheim fiel wieder einmal auf, wie gut sauber gehaltenen Tiefgaragen rochen. Der Geruch von Waschmittel verband sich mit Benzin, einer Note von Wandfarbe und frisch verputztem Zement. Hier war auch noch Magnesium im Spiel. Falls ihn jemand fragen sollte, wie seine Wohnung im Idealfall zu riechen habe, dann so reinlich wie hier."
Wer allerdings glaubt, dass die Handlung sich von jetzt an auf die Aufdeckung des Geheimnisses um das Institut konzentriert, liegt falsch. Denn tatsächlich besteht der größte Teil des Romans aus Erinnerungen des Protagonisten Bergmann an seine Studentenzeit. Und, oh Wunder, in dem Institut läuft er seiner Studentenliebe und einem Freund aus dieser Zeit über den Weg. Die beiden sind in irgendeiner Form in die geheimnisvollen Geschehnisse in dem Institut involviert. Die Welt ist klein. 

Im letzten Viertel des Romans geht es dann endlich zur Sache. Hier kommt dann auch Spannung auf, und es gibt so etwas wie einen Showdown. Das Geheimnis wird gelüftet, hat aber vermutlich wenig damit zutun, dass Bergheim in dieses Institut gegangen ist. 

Insgesamt lässt sich sagen: Eine gute Idee, die vom Autor schlecht umgesetzt wurde. "Der geheime Einzug der Künstlichkeit in unsere Welt" ist ein sehr interessantes Thema, finden sich doch bereits viele offensichtliche Ansätze in unserer heutigen Welt. So geheim ist dieser Einzug daher eigentlich nicht. Aber, egal. Leider legt der Autor den Fokus auf Bergheim und seine Erinnerungen. Der dystopische Gedanke liefert dabei lediglich den Rahmen. Bergmann ist für mich jedoch nicht greifbar. Anfangs der Eindruck des autistischen Verhaltens, zwischendurch ein Mensch, der sich mit seinen Erinnerungen beschäftigt, die zwar künstlich, durch irgendein Zauber-Gadget hervorgerufen werden, aber dadurch immer noch ein lang andauernder Rückblick auf die Vergangenheit bleiben. Und zum Ende entwickelt Bergmann heldenhafte Anwandlungen. Das ist mir zu diffus. Dieser Roman hat für mich zuviele Ansätze, die nicht konsequent weiterverfolgt werden. 

Dieser Roman hat es zwar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 geschafft.  Dennoch konnte er mich nicht überzeugen. Schade!

© Renie



Über den Autor:
Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehörte zum popliterarischen Quintett »Tristesse Royale« (1999) und debütierte 2000 mit dem Erzählband »Was ich davon halte«. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift Der Freund in Kathmandu. Heute schreibt er vorwiegend für die FAS, die FAZ und ihr Magazin. Bei Piper erschien u.a. die »Gebrauchsanweisung für Portugal«. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er für den Beginn von »Hysteria« mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. (Quelle: Piper)

Donnerstag, 22. November 2018

John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

Quelle: Pixabay/geralt
Himmel, wer hat sich nur diesen Titel ausgedacht? Ein Titel wie "Liebe ist die beste Therapie" weckt bei mir abschreckende Assoziationen: Sie trifft ihn, er trifft sie, Schmetterlinge im Bauch  ... Probleme ... Probleme gelöst ... das Ganze mit viel Kitsch und Schmalz zugekleistert ... und am Ende kriegen sie sich. Also kein Buch, das ich lesen würde - Liebesschnulzen sind halt nicht mein Genre.

ABER .... der Verfasser dieses Romans, John Jay Osborn, scheint mir kein typischer Schnulzenschreiber zu sein. Er ist Anwalt und Jura-Professor. Jemand mit diesem Hintergrund schreibt doch keine kitschigen Liebesromane, oder etwa doch? Jetzt will ich es wissen.

Sie trifft ihn, er trifft sie, Schmetterlinge im Bauch ... Die Protagonisten dieses Romanes habe diese Phase bereits abgeschlossen. Mittlerweile sind sie verheiratet, haben zwei niedliche Kinder, sind finanziell gut aufgestellt.

Probleme ... Aber sicher, das Ehepaar lebt getrennt. Er ist fremdgegangen, was sie sich nicht hat bieten lassen. Und schon sitzen die Beiden bei der Paartherapeutin Sandy. Vielleicht lässt sich die Ehe doch noch retten. Die Chancen sind jedoch minimal.
"Wenn man einmal so weit gekommen war wie Steve und Charlotte, war es sehr schwer, den Scheidungszug noch aufzuhalten."
Quelle: Diogenes
Der Roman beschreibt die Paartherapie, die über mehrere Monate geht. Der Schauplatz ist das Therapiezimmer mit der modernen Ikea-Sitzgruppe (3 Stühle) sowie einem alten grünen Sessel, der so gar nicht in das Einrichtungskonzept passt und während der Sitzungen immer unbesetzt bleibt. Es geht ausschließlich um die Gespräche, die in diesem Raum stattfinden, entweder in der Dreier-Konstellation oder in Einzelgesprächen zwischen Sandy und einem der Eheleute, wobei sich der alte grüne Sessel als Symbol erweisen wird.

Kaum zu glauben, dass ein Roman mit solch einer reduzierten Handlung funktioniert. Aber das tut er ganz hervorragend. Sandy ist für mich dabei der herausragende Charakter. Sie seziert das Verhalten der Eheleute und lockt sie durch eine unkonventionelle Fragestellung aus der Reserve. Ich habe mich oft dabei ertappt, dass ich durch ihre Fragen selbst verblüfft wurde und das eine oder andere Aha-Erlebnis hatte. Sandy spricht Dinge aus, die in jeder Beziehung selbstverständlich sein sollten, aber gern unter dem Deckmantel der Gewohnheit verborgen sind. Das macht den Reiz dieses Buches aus. Denn jeder, der in einer Beziehung ist, wird sich und seinen Partner hier wieder finden.
"'... Was für eine Beziehung wollen Sie am Ende haben? Eine mit einem Regelkatalog, was alles erlaubt ist und was nicht? Es gibt nun mal kein Richtig und kein Falsch in einer Beziehung!'"
Probleme gelöst .... In gewisser Weise schon, das Ehepaar ist zumindest auf dem richtigen Weg.

Das Ganze mit viel Kitsch und Schmalz zugekleistert ... Auf gar keinen Fall!!! Spätestens mit dem Sprachstil hebt sich dieser Roman mehr als deutlich von einer Liebesschnulze ab. Auf die Tränendrüse drückt dieser Roman erst recht nicht. Die Einzige, die heult, ist die Ehefrau, wenn sie emotional mal wieder an ihre Grenzen getrieben wird; doch die Kleenex-Dose ist immer in greifbarer Nähe (ein Klischee muss schließlich sein ;-)); John Jay Osborn schafft es, jegliche Gefühlsduselei zu vermeiden. Stattdessen hat er mich durch einen sehr geradlinigen und schnörkellosen Sprachstil begeistert.

Und am Ende kriegen sie sich ... Wer weiß?!
"' ... Sie haben gemeinsam etwas geschaffen, und es ist Ihnen sicher nicht in den Schoß gefallen. Sie haben eine Ehe aufgebaut. Und auf deren Seite bin ich, für sie spreche ich, weil von Ihnen niemand für dieses unsichtbare Gebilde einsteht, das Sie gemeinsam gebaut haben.'"
Um das klarzustellen: Ich habe diesen Roman geliebt, wozu Sprachstil des Autors sowie die sehr anregenden Therapiegespräche beigetragen haben. Man kann nicht anders, als sich in den vielen Aspekten einer Beziehung wiederzufinden.

Bleibt am Ende nur die Frage, wie ein Jurist einen Roman über solch ein Thema schreiben kann. Hier hätte man doch eher einen Thriller erwartet, bestenfalls über einen Rosenkrieg. Stattdessen begibt sich der Jurist mit Bravour auf die psychologische Ebene und schildert die Arbeit der Therapeutin auf sehr authentische Weise. Wahrscheinlich steckt insgeheim in jedem Juristen ein Psychotherapeut.

© Renie




Über den Autor:
John Jay Osborn, geboren 1945, ist ein US-amerikanischer Anwalt, Jura-Professor und Autor. Während seines Studiums an der Harvard Law School schrieb er seinen ersten Roman, der unter dem Titel ›Zeit der Prüfungen‹ mit Timothy Bottoms und John Houseman verfilmt und mit einem Oscar prämiert wurde. John Jay Osborn lebt in Palo Alto. (Quelle: Diogenes)

Sonntag, 18. November 2018

Min Jin Lee: Ein einfaches Leben

By MichaelMaggs - Own work, CC BY-SA 3.0, 
Die amerikanische Autorin Min Jin Lee ist 1968 in Südkorea geboren. Im Alter von 8 Jahren ist sie mit ihrer Familie in die USA immigriert. Mittlerweile ist sie 51 Jahre alt, hat also den größten Teil ihres Lebens in Amerika verbracht. Dennoch hatte sie das Bedürfnis, einen Roman über die Kultur zu schreiben, in der sie geboren wurde. Für ihren Roman "Ein einfaches Leben" hat Min Jin Lee etwa 20 Jahre gebraucht. So "einfach"scheint das Leben einer koreanischen Familie, welches sie hier beschreibt, also doch nicht gewesen zu sein.
Entstanden ist ein Familienepos über mehrere Generationen, angefangen 1910 bis hin zum Jahr 1989. Hauptschauplätze sind Korea und Japan.

Um die Bedeutung dieses Romans zu verstehen, sollte man sich zunächst einen kurzen Einblick über die Geschichte in dieser Region verschaffen. Der Roman beginnt in Korea, zu einer Zeit, als dieses Land eine Kolonie Japans war. Dieser Zustand hielt bis zum Ende des 2. Weltkrieges an. Nach der Unabhängigkeit von Japan kamen die Besatzungsmächte USA und Russland ins Spiel, die Korea der Einfachheit halber in Nord- und Südkorea geteilt haben. Der Koreakrieg 1950 tat sein Übriges, damit die Teilung des Landes verfestigt wurde. Der Konflikt zwischen Nord und Süd hält auch heute noch an, nicht zuletzt aufgrund der Machtstruktur in Nordkorea.
Quelle: dtv

Ein wesentliches Thema in diesem Roman ist die Diskriminierung der koreanischen Bevölkerung in Japan. Diese Diskriminierung fand ihren Anfang während der Kolonialzeit und ist auch heute noch in den Köpfen vieler Japaner und Koreaner verwurzelt. In der Zeit zwischen 1910 und dem Ende des 2. Weltkrieges sind viele Koreaner nach Japan ausgewandert - einige aus freien Stücken, aufgrund der besseren Arbeitsmöglichkeiten, andere wiederum wurden zwangsausgesiedelt, um die japanische Industrie aufzubauen. Mit dem Ende des 2. Weltkrieges sind viele Koreaner wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Andere wiederum blieben, weil sie sich in Japan eine Existenz aufgebaut haben bzw. nur einen geringen Bezug zur alten Heimat hatten. Dies betraf insbesondere die jüngere Generation. Egal, ob in Japan oder Korea angesiedelt, Koreaner waren (und sind) für Japaner Menschen zweiter Klasse und werden auch als solche behandelt. Bestenfalls sind sie in Japan geduldet, aber selten akzeptiert.
"' .. Dieses Land wird sich nie ändern. Koreaner wie ich können nicht weggehen. Wo sollen wir hin? Aber die Koreaner zuhause ändern sich auch nicht. In Seoul werden solche wie ich japanische Bastarde genannt, und in Japan bin ich immer weiter ein schmutziger Koreaner, egal, wieviel Geld ich verdiene oder wie nett ich bin. So ist das! ..'"
Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte der Familie um Sunja angesiedelt. Sunja ist in einem kleinen Dorf in Korea geboren. Die Familie hält sich nach dem Tod des Vaters mit einem Logierhaus über Wasser. Als Sunja heiratet, zieht sie mit ihrem Mann Isak, einem christlichen Geistlichen, nach Japan. Hier lebt die Familie über Jahre zusammen mit Isaks Bruder und dessen Frau. Sunja bekommt zwei Söhne, Noa und Mozasu, die zwischen 2 Kulturen leben. Über ihre familiären Wurzeln bekommen sie die koreanische Kultur vermittelt, lernen aber gleichzeitig, dass sie als Koreaner in ihrem Geburtsland Japan nicht willkommen sind. Die Jahre vergehen, die politische Situation verändert sich, Familienmitglieder sterben und Familienmitglieder werden geboren. Die Familie bringt es mit den Jahren zu einigem Wohlstand, nicht zuletzt aufgrund ihres Unternehmertums im Glücksspiel, dem Pachinko.
"Für Mosazu war das Leben wie ein Spiel, bei dem der Spieler die Rädchen einstellen konnte, aber auch mit Faktoren rechnen musste, die außerhalb seiner Kontrolle lagen und Ungewissheit bedeuteten. Er verstand, warum seine Kunden an einer Maschine spielen wollten, die vorhersagbar schien, aber trotzdem Platz für Zufall und Hoffnung ließ."
Min Jin Lee liefert mit diesem Roman ein beeindruckendes Porträt einer Gesellschaft, die mir bisher mehr als fremd war. Sie konzentriert sich dabei auf die persönlichen Schicksale ihrer Charaktere. Durch stetig wechselnde Erzählperspektiven lässt sie nahezu jedes Familienmitglied zu Wort kommen und bringt sie dem Leser dadurch sehr nah. Darüberhinaus gibt sie auch noch Randfiguren Raum, um deren persönliche Schicksale zu beleuchten. Das Ergebnis ist ein schillerndes Bild einer Gesellschaft, die versucht, als ethnische Minderheit in Japan zurechtzukommen.
Dieser Roman lässt sich jedoch nicht auf das Thema der Diskriminierung reduzieren. Min Jin Lee packt viele Themen an, die für den Alltag in Korea bedeutsam sind: Familienleben, Bedeutung des Ehrbegriffs, Rolle der Frau ... um nur einige zu nennen.

Die Autorin hat nicht nur viel erzählen, sie erzählt es auch auf eine wunderschöne Weise. Als ich die ersten Sätze dieses Roman gelesen habe, stellte sich bei mir eine merkwürdige Stimmung ein: In meinen Kopf tauchten ganz viele Bilder auf, die jedoch alle hinter einem zarten Schleier lagen. Damit will ich sagen, von jetzt auf sofort ist man in einer völlig fremden Welt, die eine ungeheure Faszination ausübt.
Diese "Schleier"-Stimmung habe ich irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Ich habe Min Jin Lees Sprachstil jedoch als sehr lebhaft und eindringlich empfunden. Sie versteht es, den Leser zu fesseln. Die Handlung hat eine treibende Kraft, die mich in ihren Bann gezogen hat. Einerseits berührt sie den Leser, lässt ihn Anteil nehmen an den Sorgen und Nöten der Charaktere. Andererseits lässt sie aber immer noch genügend Distanz zu, so dass die Stimmung niemals ins Rührselige umschlägt.

Fazit:
Ein großartiges Familienepos aus einem fremden Kulturkreis! Eines meiner Highlights in diesem Jahr! Leseempfehlung!

© Renie



Über die Autorin:
Min Jin Lee wurde 1968 in Seoul/Südkorea geboren und immigrierte, als sie acht Jahre alt war, mit ihrer Familie in die USA. Sie hat in Yale studiert und vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans als Anwältin gearbeitet. ›Ein einfaches Leben‹ stand auf der Shortlist des National Book Award und auf allen Bestsellerlisten der USA. Min Jin Lee lebt in New York. (Quelle: dtv)

Mittwoch, 14. November 2018

Deb Spera: Alligatoren

Quelle: Pixabay/bobmann
"Einen Menschen töten ist leichter als einen Alligator töten, aber Geduld brauchst du für beides."
Gertrude Pardee eine der Protagonistinnen des Romanes "Alligatoren" von Deb Spera, hat sehr viel Geduld, genauso, wie sie viele Kinder und viele blaue Flecken hat - dank der speziellen Fürsorge ihres stets betrunkenen Mannes. Irgendwann wird sie feststellen, dass sie und ihre Kinder ohne Mann besser und leichter durchs Leben kommen.
"Es ist was Furchtbares, wenn die eigenen Kinder Angst vor der Welt haben, aber das müssen sie, wenn sie überleben wollen. Unsichtbare Dinge sind überall um uns rum, und es ist besser, wenn sie das jetzt schon lernen."
Der Roman spielt im Süden der USA, in den Jahren vor dem Börsencrash 1929, der eine Weltwirtschaftskrise zur Folge hatte. Der Süden der USA war bereits vor diesem Zeitpunkt von Armut und Hunger geplagt. Dies betraf viele Teile der Bevölkerung. Auf der einen Seite gab es die Plantagenbesitzer, denen es noch einigermaßen gut ging, auf der anderen Seite gab es einfache Menschen wie Gertrude Pardee und ihre Familie, die am Limit lebten und jeden Tag auf's Neue um ihr Überleben kämpfen mussten.
Quelle: HarperCollins

Hinzu kam die Diskriminierung der farbigen Bevölkerung. Auch wenn die Sklaverei bereits seit Jahrzehnten abgeschafft war, war sie doch noch in den Köpfen der Menschen verwurzelt. Es gab eine klare Rollenverteilung zwischen Schwarz und Weiß. Weiße waren Herrscher, Farbige waren Diener.
Zu diesen Gruppen gehören die beiden anderen Protagonistinnen dieses Romans:

Annie Cole
Ihre Familie gehört zu den wohlhabendsten in der Gegend. Ihr Mann Edwin und Sohn Eddie führen die Plantage der Familie. Annie selbst und der jüngste Sohn Lonnie betreiben eine Näherei. Plantage und Näherei liefern wertvolle Arbeitsplätze. Auch Gertrude wird hier eine Anstellung finden.

Oretta - genannt Retta - ist die gute Seele der Familie Cole, ist sie doch als Köchin angestellt und führt deren Haushalt. Retta arbeitet bereits ihr Leben lang für die Familie, gehört irgendwie dazu ... solange sie weiß, wo ihr Platz in der Rangordnung ist. Und als Farbige steht sie ganz am Ende.
"Die Zeiten ändern sich, aber die Menschen nie. Neger dürfen ruhig die ganze Arbeit machen, aber eine Meinung dürfen sie nicht haben."
Deb Spera erzählt die gemeinsame Geschichte dieser drei Frauen, die zwar völlig unterschiedlich sind, deren Schicksale sich jedoch nicht voneinander trennen lassen.

Die beiden weißen Frauen haben mit der Dominanz der Männer zu kämpfen. Gertrude ist ihrem trinkendem und brutalem Ehemann ausgeliefert und nimmt vieles auf sich, um ihre 4 Mädchen vor ihm zu schützen. Brutalität in der Ehe ist in dieser Zeit gesellschaftsfähig. Da Gertrude auf keinerlei Hilfe von Außen hoffen kann, nimmt sie ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand. Sie zieht mit ihren Kindern in ein Haus in Rettas Nachbarschaft. Vermieterin ist Annie Cole, die Gertrude auch als Näherin einstellt.

Annies Mann ist der ehrgeizige und erfolgshungrige Edwin, der sich gern als Machtmensch sieht und die Bewunderung anderer genießt. Die Landwirtschaft läuft leider nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Trotzdem tut er die erfolgreiche und boomende Näherei, die von seiner Frau und seinem jüngsten Sohn betrieben wird, als Hirngespinst ab. Insbesondere seinen Sohn lässt er seine Verachtung spüren und sieht in dem stotternden Lonnie einen Schwächling. Edwin ist also ein Familiendespot, wie er im Buche steht. Es gibt in dieser Familie noch zwei, mittlerweile erwachsene Töchter. Die Beiden haben ihr Elternhaus bereits früh verlassen, da sie sich mit den Eltern überworfen haben. Sie meiden den Kontakt zu ihnen.

Dank einer Verfügung von Annies mittlerweile verstorbenem Vater, hat sie die alleinige Verantwortung für die Näherei, was ihrem Mann natürlich ein Dorn im Auge ist, neidet er ihr doch den Erfolg bei ihrer Arbeit.

Retta kennt die Coles-Kinder von klein auf und hat auch das konfliktbehaftete Familienleben begleitet. Sie lebt mit ihrem Mann Odell in einer harmonischen Ehe. Die beiden sind Seelenverwandte, die auch den frühen Tod der Tochter gemeinsam bewältigt haben.

Jede der drei Frauen für sich ist eine starke Persönlichkeit, auch wenn ihnen durch die Männer Grenzen aufgezeigt werden.

Aus der ehemaligen Zweckbeziehung (Annie als Arbeitgeberin von Retta und Gertrude; Retta als Unterstützung für Gertrude und ihre Mädchen) wächst mit der Zeit ein intensiveres Verhältnis zwischen den Frauen, das von einem Geheimnis um Annies Mann überschattet wird. Als Leser ahnt man, was Edwin zu verbergen hat. Was es mit Edwin auf sich hat, wird immer deutlicher, je tiefer man in die Handlung dieses Romans eintaucht. Und zum Ende kommt es zum klassischen Showdown zwischen Mann und Frau.
"Für irgendwen in dieser Stadt braut sich was zusammen. Noch ist nichts passiert, aber es wird was passieren."
"Alligatoren" ist ein atmosphärischer Südstaatenroman, wie man ihn sich vorstellt: Hitze, Fliegen, Sümpfe, Baumwolle, Mystik und Aberglauben. Hier findet sich alles, was das Südstaatenherz begehrt. Hinzu kommt eine unterschwellige Spannung, die diesen Roman durchzieht. Und im Mittelpunkt stehen 3 starke Frauen unterschiedlicher Herkunft, denen es gelingt, trotz der Dominanz der Männer ihren eigenen Weg zu gehen. Ein großartiger Roman!

© Renie

Freitag, 9. November 2018

Aka Morchiladze: Der Filmvorführer

Quelle: Pixabay/falco
"Er war ein ehrenhafter Mann, der beste überhaupt. Was er hatte, war eine merkwürdige, unausgesprochene Würde."
Der, von dem hier die Rede ist, heißt Islam Sultanow. Der Mann mit der "merkwürdigen, unausgesprochenen Würde" ist Filmvorführer in einer ländlichen Kleinstadt in Georgien. Trotzdem er hier schon seit vielen Jahren lebt, wird er von den Bewohnern immer noch misstrauisch beäugt. Er lebt nahezu isoliert in einem kleinen Zimmer neben dem Vorführraum. Es wird viel spekuliert über Islam. Nur die wenigsten wissen, warum er in dieser Kleinstadt lebt. Einer von ihnen ist Beso, 40 Jahre jünger als Islam, ein Kind als die Beiden sich kennenlernen. Trotz des hohen Altersunterschied verbindet beide eine tiefe Freundschaft. Islam hat nicht immer als Filmvorführer gearbeitet. Er stammt aus einem russischen Adelsgeschlecht, welches von den Kommunisten bei der Machtübernahme in Russland fast ausgerottet wurde. Einzig Islam überlebte und wurde, nachdem er einige Jahre in einem Straflager verbracht hat, von den Kommunisten zwangsausgesiedelt. So ist er in dieser Kleinstad in Georgien gelandet. 

Vielleicht sind seine persönlichen Erfahrungen auch der Grund, dass er mit der Isolation gut leben kann. Die Freundschaft zu Beso genügt ihm. Und vielleicht sind auch die Erfahrungen von Islam der Grund, warum Beso unbeschadet durch den Afghanistankrieg kommt. Die Geschichte von Beso und Islam beginnt in den 70er und 80er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Georgien noch zur Sowjetunion. Als die Sowjets 1979 in Afghanistan einmarschieren und somit einen 10 Jahre andauernden Stellvertreterkrieg gegen die USA, Saudi-Arabien und Pakistan einläuten, werden die georgischen Männer ebenfalls rekrutiert. Der schützende Einfluss von Islam reicht sehr weit, bis in das Kriegsgebiet und rettet Beso das Leben. Islam wird über Jahre der väterliche Ratgeber von Beso sein.
"Afghanistan bedeutete den Tod. In unsere Stadt wurden in den letzten acht Jahren drei junge Männer tot zurückgebracht. Keiner von ihnen war Soldat, alle arbeiteten als Fahrer. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was Afghanistan war. Ich wußte nur, daß dort Krieg herrschte und daß man unsere Jungs dorthin schickte, und die Gefallenen in Zinksärgen zurückbrachte."
Das Leben in Georgien wird nicht nur durch die Politik sondern insbesondere durch Traditionen bestimmt. Traditionen, die einem Westeuropäer teilweise sehr befremdlich vorkommen. Beso wird in diesem Roman oft sagen "Bei uns ist das so.". Er ist mit diesen Traditionen aufgewachsen und stellt sie auch nicht in Frage. Genausowenig wird er die politische Entwicklung seines Landes in Frage stellt - nicht weil er sie befürwortet, sondern weil er sie mit fast schon stoischer Gelassenheit hinnimmt, da dies seinem Naturell entspricht.
"Ich begriff, daß dieses Land in Wirklichkeit völlig anders war. Vielleicht spürte das damals jeder Mensch, aber nicht alle wollten es sich anmerken lassen. Denn wenn du dir etwas anmerken läßt, dann mußt du auch handeln."
Der Roman ist ein Rückblick auf das Leben von Beso. Der Anfang spielt dabei in der heutigen Zeit. Gleich zu Beginn erfährt der Leser, dass Beso, mittlerweile Familienvater,  als Chauffeur für eine internationale Organisation arbeitet und verschwunden ist. Peter, der Mann, dem Beso als Fahrer zugeteilt war, fühlt sich verantwortlich für den Georgier und begibt sich auf die Suche nach ihm. Dabei gelangt er an ein Schreibheft, indem Beso seine Geschichte aufgezeichnet hat. Der Text wirkt auf den Leser sehr authentisch. Stellenweise ist er sehr einfach strukturiert und formuliert, erscheint dadurch fast kindlich. Beso hat seine Geschichte in Englisch niedergeschrieben, also einer Sprache, die nicht seine Muttersprache ist, was die Schlichtheit des Textes erklärt. Was jedoch zählt, ist der Inhalt seiner Geschichte, die er mit viel Ruhe und Gelassenheit erzählt. Die politischen Rahmenbedingungen treten dabei in den Hintergrund. Im Vordergrund steht die Entwicklung von Beso und das Leben, das ihm die Freundschaft seines väterlichen Freundes Islam ermöglichen konnte.

Fazit:
Ein wohltuend schlichter Roman. Beso beschreibt sein Leben in Georgien in einer Gelassenheit, die die Handlung in diesem Roman dahinplätschern lässt. Egal, ob Traditionen oder politische Querelen, so ist nun mal das Leben.
Ein Buch, das einerseits durch diese ganz besondere Freundschaft zwischen den beiden Männern besticht und gleichzeitig einen tiefen Einblick in die georgische Kultur gewährt.

© Renie




Über den Autor:
Aka Morchiladze (1966 in Tiflis geboren) ist einer der meistgelesenen Autoren Georgiens. Er studierte Georgische Geschichte an der Staatlichen Universität Tiflis; anschließend lehrte er dort als Dozent. Außerdem arbeitete er viele Jahre als Journalist. Insgesamt veröffentlichte er zwanzig Romane und drei Sammlungen mit Kurzgeschichten. Seine Bücher wurden in Georgien zu Best sellern und teilweise verfilmt. Aka Morchiladze wurde fünfmal mit dem wichtigen georgischen Literaturpreis Saba ausgezeichnet, zuletzt 2012. Der Filmvorführer stammt aus dem Jahr 2009. Im Weidle Verlag ist der Roman Reise nach Karabach erschienen, übersetzt von Iunona Guruli. (Quelle: Weidle Verlag)

Sonntag, 4. November 2018

Christine Mangan: Nacht über Tanger

Quelle: Pixabay/MonicaVolpin
"Nacht über Tanger" von Christine Mangan - ein Roman, der es in sich hat: ein entspanntes Lesen ist das nicht. Eher ein angespanntes. Denn der Roman ist herrlich nervenaufreibend und zum Nägelkauen spannend.
Es geht um die Freundschaft zweier Frauen - Alice und Lucy. Ihre "Freundschaft" begann in den 40/50er Jahren auf der Highschool, wo sie Zimmergenossinnen waren. Es fällt mir schwer, von einer Freundschaft zu sprechen. Denn tatsächlich handelt es sich hier um ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis. Alice, Tochter reicher Eltern, die leider vor einigen Jahren verstorben sind, ist die Schwache in dieser Beziehung. Der Tod ihrer Eltern hat sie in ein seelischen Tief gestürzt, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Sie ist psychisch angeschlagen, ohne Selbstbewusstsein. Das Gegenteil von ihr ist Lucy, ebenfalls Waise. Sie ist taff, selbstbewusst und gibt in der Beziehung der beiden Mädchen den Ton an. Mit beiden stimmt etwas nicht. Lucys Zuneigung zu ihrer Freundin ist obssessiv und manipulativ. Sie wäre gern wie Alice (was ihre Herkunft angeht, denn Alice kommt aus einer wohlhabenden Familie). Alice hat sie durchschaut, hat aber nicht die Kraft, gegen Lucy aufzubegehren.
"Es war mein sehnlichster Wunsch, dass alles wieder so war wie früher; vor dieser schrecklichen Nacht. Diese Hoffnung lebte noch immer in mir, wenn auch verborgen in meinem leeren Herzen. Doch ihre Körperhaltung, ihr Art, sich zu bewegen - wie ein verängstigter, eingesperrter Vogel, fand ich -, machten mich stutzig, und ich fragt mich, ob das Problem gar nicht die Geheimnisse waren, die wir teilten, sondern vielmehr etwas völlig anderes." 
Quelle: Blessing
Die Geschichte der Anfänge ihrer Freundschaft erfährt man in der Retroperspektive. Denn eigentlich spielt der Roman in Tanger (1956), wo sich die beiden Frauen ein paar Jahre nach ihrer gemeinsamen Schulzeit wiedersehen. Alice ist mittlerweile verheiratet und mit ihrem Mann nach Marokko gezogen. Lucy steht eines Tages bei Alice überraschend vor der Tür. In den letzten Jahren scheint viel geschehen zu sein. Man erfährt, dass es damals an der Schule ein mysteriöses Ereignis gab, welches die Ursache für das abrupte Ende der Freundschaft war. Doch für Lucy scheint die Freundschaft noch lange nicht vorbei zu sein. Heute wie damals hat Alice nicht die Kraft, sich gegen Lucy zur Wehr zu setzen. Alice scheint Menschen, die Besitzansprüche auf sie erheben wollen, förmlich anzuziehen. Denn Ehemann John hat sie wegen ihres Vermögens geheiratet. Solange er mit Alice zusammen ist, braucht er sich keine Sorgen um seine finanzielle Zukunft zu machen. So betrachten sich Lucy und John gegenseitig als Störfaktoren, wenn es darum geht, Alice zu vereinnahmen. 
"Mein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her; dem Ehepaar; und ich kam zu dem Schluss, dass irgendwas nicht stimmte - ich konnte es spüren, denn es füllte den Raum aus, knisternd, zischend, es schrie förmlich danach, bemerkt zu werden."
Die Geschichte wird im Wechsel aus der Sicht von Lucy und Alice erzählt. Das ist hochinteressant. Denn dieselben Ereignisse sind noch lange nicht dieselben Ereignisse. Und man wird das Gefühl nicht los, dass beide Frauen nicht ganz richtig im Kopf sind. Die Autorin macht das ganz geschickt: Jede der Frauen wirkt im ersten Ansatz völlig normal und weckt Sympathie. Doch auf einmal kommt eine klitzekleine Andeutung im Text, die Zweifel an der jeweiligen Person weckt. Nach und nach stellt sich heraus, was damals in der Schule passiert ist. Scheinbar kann jede der Frauen zu allem fähig sein.
Das Lesen wird von der ersten Zeile an von einer unterschwelligen Spannung begleitet. (Daher das "angespannte Lesen", s. o.) Hier bahnt sich etwas an. Und schnell ist man sich sicher: Mindestens eine(r) der Protagonisten wird auf der Strecke bleiben. 

Ich habe über die Autorin gelesen, dass sie Creative Writing studiert und zur Gothic Literature (läuft in Wikipedia unter Schauerliteratur) promoviert hat. Es hat sich gelohnt, denn Christine Mangan beherrscht diese Disziplin par excellence: "Nacht über Tanger" ist richtig richtig schaurig, aber schaurig genial.
"Jetzt fiel mir auf, dass Tanger in vielerlei Hinsicht eine Geisterstadt war. Nur war sie nicht tot, leer und öde, sondern lebendig. Sie blühte und quoll über vor Erinnerungen an die großartigen Denker, die durch ihre Gassen geschlendert waren. Die hier nachgedacht und Tee getrunken hatten und inspiriert worden waren. Sie war ein Zeugnis, ein Grabmal derjenigen, die vorher hier gewesen waren. Doch die Stadt machte nicht den Eindruck, als sei schon alles vorbei. In ihr blühte und schäumte noch immer etwas, das darauf wartete, entdeckt oder freigesetzt zu werden. Ich konnte es spüren, an dem Kribbeln in meinen Händen."
Bemerkenswert ist auch die Stimmung, die diesen Roman durchzieht. Neben der permanenten unterschwelligen Spannung, der man ausgesetzt ist, meint man auch "Tanger" zu spüren: unerträgliche Hitze, grelles Sonnenlicht, das pulsierende Leben in einer arabischen Stadt, exotische Gerüche, fremde Menschen, die etwas Bedrohliches an sich haben. Die Autorin zieht hier sämtliche Register und hat damit einen Roman geschaffen, der der Bezeichnung Schauerliteratur alle Ehre macht.
Lesempfehlung!

© Renie



Über die Autorin:
Christine Mangan, geboren 1982, hat Creative Writing studiert und am University College Dublin zur Gothic Literature promoviert. Nacht über Tanger ist ihr erster Roman, der sich in 20 Länder verkauft hat. Die Filmrechte gingen an die Produktionsfirma von George Clooney. Christine Mangan lebt in Brooklyn, New York, und schreibt an ihrem zweiten Rom (Quelle: Blessing)