Seiten

Freitag, 21. September 2018

William Boyd: Die Fotografin

Quelle: Pixabay/Bru-nO
Der schottische Schriftsteller William Boyd scheint ein Schlitzohr zu sein. Zumindest hat er Spaß daran, seinen Mitmenschen einen Bären aufzubinden: 1998 sorgte er mit seiner Biografie über den expressionistischen Maler Nat Tate (1928 bis 1960) in New York für Furore. Viele Promis rühmten sich, Nat Tate zeitlebens persönlich gekannt zu haben. Kaum einer, der nicht die Gemälde von Nat Tate zu schätzen wusste. ABER: Nat Tate hat es nie gegeben. Er, genauso wie seine Gemälde, sind ein Fantasieprodukt von William Boyd. Den Namen Nat Tate leitete Boyd von den beiden britischen Kunstmuseen National Gallery und Tate Gallery ab. Als der Schwindel herauskam, gab es einen riesigen Skandal, bei dem sich William Boyd mit Sicherheit eins ins Fäustchen gelacht hat.

Die Biografie über den Maler, den es nie gegeben hat, ist nur eines von unzähligen Büchern, die der vielseitige William Boyd bisher veröffentlicht hat. Er schreibt Komödien, Gesellschaftsromane, Kriegsromane oder auch Thriller. Und immer wieder schreibt er über interessante Persönlichkeiten ihrer Zeit. Wie auch in dem von mir gelesenen Roman "Die Fotografin".
Hier präsentiert Boyd Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts auf sehr ansprechende Weise, indem er sie anhand des faszinierenden Lebens der englischen Fotografin Amory Clay erzählt.
"Mein siebzig Jahre währendes Leben war erfüllt, unendlich traurig, faszinierend, komisch, absurd und beängstigend - manchmal jedenfalls -, schwierig, schmerzlich und voller Glück. Anders gesagt, kompliziert."
Quelle: Piper
Amory wurde 1908 geboren - in einer Zeit, in der es undenkbar war, dass eine Frau den Beruf der Fotografin ergreift. Und doch hat Amory allen Widerständen zum Trotz genau diesen Berufsweg gewählt. Das nötige Talent hatte sie dazu.
Als Kind erlebte sie den 1. Weltkrieg, tummelte sich in ihrer Anfangszeit als Fotografin in London und dem Berlin der 30er Jahre. Sie erlebte den 2. Weltkrieg, war während der deutschen Besatzungszeit in Paris und zog schließlich der Liebe und Karriere wegen nach New York. Auch der Vietnamkrieg der 60er Jahre war eine Etappe in ihrem Fotografenleben. Ihr Leben war von Aufregung geprägt, selten ist sie zur Ruhe gekommen. Fast wie eine Getriebene war sie immer auf der Suche nach dem ultimativen Foto, wobei sie Fotografie nicht nur als journalistisches Mittel der Dokumentation sondern auch als Kunstform ansah.

Über Amory Clay gibt es viel zu berichten. William Boyd hat seinen 555 Seiten starken Roman in insgesamt 8 Abschnitte (Bücher) aufgeteilt, zuzüglich Prolog und Abschlusskapitel. Jeder dieser Abschnitte ist ein Genuss für sich und behandelt eine wichtige Etappe in Amory Clays Leben, angefangen bei ihrer Kindheit bis hin zu ihrem letzten Lebensabschnitt. Viele ihrer Fotos befinden sich in diesem Buch, die ihr eindrucksvolles Leben dokumentieren und einen besonderen Augenschmaus darstellen. Darunter befinden sich nicht nur journalistische Aufnahmen, sondern auch sehr persönliche, über ihr Leben und ihre Weggefährten. 
"Unter den wenigen Bildern, die ich geschossen habe, gab es ein paar Farbfotos - Kodachrome-Dias, sie waren teuer, setzten sich aber allmählich durch. Doch obwohl mir klar war, dass bunte Bilder die Welt zeigen, wie sie ist, wollte ich die Welt lieber so, wie sie nicht ist - einfarbig. Das war eigentlich mein Medium, und es wurde mir so deutlich bewusst, dass ich mich fragte, ob nicht etwas Entscheidendes verlorenging, als alle Welt sich der Farbfotografie zuwandte. 
William Boyd konzentriert sich nicht nur auf Amorys Rolle als Fotografin sondern beschreibt eine moderne Frau, die mit all ihrem Mut, Selbstbewusstsein und Kampfgeist eine Vorbildfunktion für jede Frau einnehmen könnte, sowohl damals als auch heute.

Die Stimmung in diesem Roman ist von Nostalgie bestimmt. Die Geschehnisse werden aus der Sicht von Amory geschildert. Sie schwelgt dabei in Erinnerungen. Der sehr lebhafte Sprachstil Boyds verstärkt den Eindruck, dass es sich bei Amory um eine sehr temperamentvolle, intelligente, eigensinnige und humorvolle Frau gehandelt haben muss, die ihren eigenen Weg gegangen ist. 

Alles in allem, hat mir das Buch sehr viel Spaß gemacht. Die geschichtlichen Hintergründe werden auf sehr ansprechende Weise vermittelt und bilden den Rahmen für die bewegte Lebensgeschichte von Amory Clay.

Wer sich jetzt näher mit Amory Clay beschäftigen möchte, dem sei jedoch gesagt: Oops, he did it again ;-)

© Renie