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Donnerstag, 27. September 2018

Howard Jacobson: Shylock

Quelle: Pixabay/Hans
„Ich, der Jude, sie, die Christen ..."
Howard Jacobson thematisiert in seinem Roman "Shylock" das Miteinander von Juden und Christen. Dabei bedient er sich vieler Klischees und überschreitet auch mal die Grenze zum Antisemitismus. Doch Jacobson darf das. Als Autor jüdischer Abstammung darf er auch politisch unkorrekte Dinge beim Namen nennen.

Der Titel des Romanes deutet darauf hin: Jacobson hat bei seinem Schriftstellerkollegen Shakespeare nachgeschlagen, dessen „Der Kaufmann von Venedig“ Namensgeber des Romanes von Jacobson ist. Denn Shylock ist besagter Kaufmann, Jude und Geldverleiher, der im Venedig des 15. Jahrhunderts einem Christen Geld leiht. Da dieser seine Schulden nicht begleichen kann, muss ein Bürge herhalten. Shylock, der unter dem Spott und der Ablehnung seiner christlichen Mitbürger zu leiden hat, nutzt die Gelegenheit, um Rache an den Christen zu üben. Der Darlehensvertrag beinhaltet eine ungewöhnliche Klausel: Die Schuld ist mit einem Pfund Fleisch zu begleichen, herausgeschnitten aus dem Körper des Bürgen. Nur leider hat der jüdische Kaufmann nicht mit der Cleverness der venezianischen Christen gerechnet. Im Rahmen einer Gerichtsverhandlung wird er ausgetrickst. Am Ende fließt kein Blut, nur Shylocks Reichtümer. Und der dumme Jude steht am Ende mittellos dar, und die Christen sind schadenfroh.
(Das war die Kurzzusammenfassung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig".)
Quelle: Randomhouse/Knaus

Mit "Shylock" hat Howard Jacobson eine moderne Nacherzählung zu Shakespeares Kaufmann geschrieben. Dabei hat er sich nur in Ansätzen an die Handlung gehalten. Er konzentriert sich auf das Thema des Antisemitismus, das auch im Original zu finden ist, sowie das Miteinander von Juden und Christen in der heutigen Zeit.
"'Ob es eine Schwäche oder eine Strategie ist, kann ich nicht sagen. Sie rücken sich ins Zentrum jedweden Dramas, menschlicher wie theologischer Natur. Immer schon tun sie das. Ich sehe es als eine politische Traurigkeit. Der Kleister des Selbstmitleids ist stark. Wie emotionale Erpressung.'" (S. 36)
Zum Inhalt von "Shylock":
Irgendwo im England des 20. Jahrhunderts lebt Strulovitch, reicher jüdischer Kunsthändler und leidgeprüfter Vater einer 16-jährigen Tochter. Er ist ein gemäßigter Jude, der die Gesetze seiner Religion sehr großzügig auslegt. Er möchte nicht, dass das Jüdischsein sein Leben bestimmt. Ganz anders Shylock, eine Zufallsbekanntschaft von Strulovitch und streng gläubiger Jude, der mit seinen Ansichten wie ein Mensch aus einer anderen Zeit wirkt. Er quartiert sich bei Strulovitch ein. Die beiden führen Grundsatzdiskussionen zu der Frage „Was bedeutet es, ein Jude zu sein?“. Beide haben konträre Ansichten. Strulovitch wird jedoch eines Besseren belehrt, als Tochter Beatrice sich Gratan, Christ und Profi-Fußballer, an den Hals wirft, und er tatsächlich feststellen muss, dass er ein Problem mit der Glaubensrichtung des Auserwählten hat. Ganz abgesehen davon, dass der Profi-Fußballer mehr durch Skandale als durch sportliche Leistungen berühmt geworden ist. Der Freund der Tochter ist also alles andere als ein Traum-Schwiegersohn. Strulovitch fühlt sich seiner Tochter beraubt und sinnt genau wie Shakespeares Kaufmann auf blutige Rache, wobei ihm in seinem Fall ein bis zwei Gramm Fleisch genügen würden. Man ahnt, dass Strulovitchs Rachegelüste nicht in dem Maße befriedigt werden, wie er sich das vorstellt.
"Mit Nicht-Juden an sich hatte Strulovitch keine Probleme, wenn es allerdings darum ging, wen seine Tochter heiraten würde (und mit wem vielleicht schlafen), hatte er seine Vorbehalte. Wenn Strulovitch an den ehelichen Bund dachte, wurde der Christ zu einem Höhlenbewohner." (S. 89)
Howard Jacobsons Roman ist im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projektes entstanden. Hier sind namhafte Autoren aufgefordert, ein Werk Shakespeares in ihrer eigenen Version nachzuerzählen. Mit diesem Wissen neigt man als Leser dazu, enge Parallelen zu dem Ursprungswerk zu suchen. In einer andere Nacherzählung, die ich bereits aus diesem Projekt gelesen habe, hat das wunderbar funktioniert. Bei Shylock tut man sich aber keinen Gefallen, wenn man nach diesen Parallelen sucht. Denn Jacobson hat sich einige schriftstellerische Freiheiten genommen, was die Auslegung des Originals angeht. Hauptsächlich konzentriert er sich auf die Frage: Was bedeutet es, ein Jude zu sein? 
Shylock und Strulovitch - der Hardliner und der gemäßigte Jude - treten in diesem Roman zur Beantwortung dieser Frage gegeneinander an. Die beiden führen dabei innige Gespräche, die mit viel Ironie und Sarkasmus gewürzt und allein deshalb schon sehr unterhaltsam sind. Die Gespräche machen nachdenklich, sind vollgestopft mit Stereotypen, Vorurteilen, aber auch existenziellen Fragen zum Judentum. Soviel geballte Argumentation kann jedoch ermüden. Doch Howard Jacobson bietet dem Leser Verschnaufpausen. So wechselt Tiefsinn mit Slapstick. Strulovitchs christlicher Gegner ist D'Anton, Mitglied der B-Promi-Szene, zu der auch Strulovitchs Töcherterchen dank des Promi-Fußballers Gratan, in den sie sich verguckt hat, Zugang hat. Diese B-Promi-Szene ist ein Fegefeuer der Eitelkeiten und Dümmlichkeiten, das genügend Potenzial für humoristische Einlagen bietet, die Jacobson genüsslich ausschlachtet.
"Gratan war grundsätzlich kein Rassist (wann hatte man schon gesehen, dass er einen schwarzen oder asiatischen Spieler verhöhnt hätte?) und konnte klar belegen, dass er kein Antisemit war. Nennen Sie eine einzige Gelegenheit, bei der ich einen jüdischen Spieler gefoult hätte. Und mindestens eine seiner Frauen (er war so aus dem Stand nicht sicher, welche) war ein bisschen jüdisch gewesen." (S. 52)
Fazit:
Die Frage, was es bedeutet, heutzutage Jude zu sein, lässt sich auch nach der Lektüre dieses Romanes nicht beantworten. Ich war nur erstaunt, welche existenziellen Gedanken einem Juden zu schaffen machen. Viele dieser Gedanken habe ich ungläubig in Frage gestellt. Vielleicht ließen sich diese Überlegungen einer anderen Zeit als der heutigen zuschreiben? Sicher bin ich nicht. Auf jeden Fall hat mich der Roman für Vorurteile zwischen Juden und Christen sensibilisiert. Diese Vorurteile sind seit Jahrhunderten präsent, wenn auch heute wahrscheinlich in subtilerer Form.
In Anbetracht der Tatsache, dass "Shylock" dem Hogwarth Shakespeare Projekt zuzuordnen ist, ist das bisschen "Shakespeare", das sich in diesem Roman finden lässt, mit Sicherheit für den Shakespeare-affinen Leser nicht genug. Ich konnte mit diesem Aspekt gut leben. Denn am Ende hat mir der Roman aufgrund seiner Thematik und der scharfsinnigen Dialoge zwischen Shylock und Strulovitch gefallen.

© Renie





Über den Autor:
Howard Jacobson, 1942 in Manchester geboren, lebt in London. Er hat bisher dreizehn Romane und vier Sachbücher vorgelegt und zählt zu den renommiertesten Autoren Großbritanniens. Seine Romane erscheinen in zwanzig Ländern und wurden schon vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er für „Die Finkler-Frage“ 2010 den Booker-Preis, den wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt. Nach „Liebesdienst“ (2012) und „Im Zoo“ (2014), für den er den Bollinger Everyman Wodehouse Prize for Comic Fiction erhalten hat, ist "J" Jacobsons neuester Roman. Er stand 2014 auf der Shortlist des Booker-Preises. (Quelle: Randomhouse/Knaus)

Freitag, 21. September 2018

William Boyd: Die Fotografin

Quelle: Pixabay/Bru-nO
Der schottische Schriftsteller William Boyd scheint ein Schlitzohr zu sein. Zumindest hat er Spaß daran, seinen Mitmenschen einen Bären aufzubinden: 1998 sorgte er mit seiner Biografie über den expressionistischen Maler Nat Tate (1928 bis 1960) in New York für Furore. Viele Promis rühmten sich, Nat Tate zeitlebens persönlich gekannt zu haben. Kaum einer, der nicht die Gemälde von Nat Tate zu schätzen wusste. ABER: Nat Tate hat es nie gegeben. Er, genauso wie seine Gemälde, sind ein Fantasieprodukt von William Boyd. Den Namen Nat Tate leitete Boyd von den beiden britischen Kunstmuseen National Gallery und Tate Gallery ab. Als der Schwindel herauskam, gab es einen riesigen Skandal, bei dem sich William Boyd mit Sicherheit eins ins Fäustchen gelacht hat.

Die Biografie über den Maler, den es nie gegeben hat, ist nur eines von unzähligen Büchern, die der vielseitige William Boyd bisher veröffentlicht hat. Er schreibt Komödien, Gesellschaftsromane, Kriegsromane oder auch Thriller. Und immer wieder schreibt er über interessante Persönlichkeiten ihrer Zeit. Wie auch in dem von mir gelesenen Roman "Die Fotografin".
Hier präsentiert Boyd Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts auf sehr ansprechende Weise, indem er sie anhand des faszinierenden Lebens der englischen Fotografin Amory Clay erzählt.
"Mein siebzig Jahre währendes Leben war erfüllt, unendlich traurig, faszinierend, komisch, absurd und beängstigend - manchmal jedenfalls -, schwierig, schmerzlich und voller Glück. Anders gesagt, kompliziert."
Quelle: Piper
Amory wurde 1908 geboren - in einer Zeit, in der es undenkbar war, dass eine Frau den Beruf der Fotografin ergreift. Und doch hat Amory allen Widerständen zum Trotz genau diesen Berufsweg gewählt. Das nötige Talent hatte sie dazu.
Als Kind erlebte sie den 1. Weltkrieg, tummelte sich in ihrer Anfangszeit als Fotografin in London und dem Berlin der 30er Jahre. Sie erlebte den 2. Weltkrieg, war während der deutschen Besatzungszeit in Paris und zog schließlich der Liebe und Karriere wegen nach New York. Auch der Vietnamkrieg der 60er Jahre war eine Etappe in ihrem Fotografenleben. Ihr Leben war von Aufregung geprägt, selten ist sie zur Ruhe gekommen. Fast wie eine Getriebene war sie immer auf der Suche nach dem ultimativen Foto, wobei sie Fotografie nicht nur als journalistisches Mittel der Dokumentation sondern auch als Kunstform ansah.

Über Amory Clay gibt es viel zu berichten. William Boyd hat seinen 555 Seiten starken Roman in insgesamt 8 Abschnitte (Bücher) aufgeteilt, zuzüglich Prolog und Abschlusskapitel. Jeder dieser Abschnitte ist ein Genuss für sich und behandelt eine wichtige Etappe in Amory Clays Leben, angefangen bei ihrer Kindheit bis hin zu ihrem letzten Lebensabschnitt. Viele ihrer Fotos befinden sich in diesem Buch, die ihr eindrucksvolles Leben dokumentieren und einen besonderen Augenschmaus darstellen. Darunter befinden sich nicht nur journalistische Aufnahmen, sondern auch sehr persönliche, über ihr Leben und ihre Weggefährten. 
"Unter den wenigen Bildern, die ich geschossen habe, gab es ein paar Farbfotos - Kodachrome-Dias, sie waren teuer, setzten sich aber allmählich durch. Doch obwohl mir klar war, dass bunte Bilder die Welt zeigen, wie sie ist, wollte ich die Welt lieber so, wie sie nicht ist - einfarbig. Das war eigentlich mein Medium, und es wurde mir so deutlich bewusst, dass ich mich fragte, ob nicht etwas Entscheidendes verlorenging, als alle Welt sich der Farbfotografie zuwandte. 
William Boyd konzentriert sich nicht nur auf Amorys Rolle als Fotografin sondern beschreibt eine moderne Frau, die mit all ihrem Mut, Selbstbewusstsein und Kampfgeist eine Vorbildfunktion für jede Frau einnehmen könnte, sowohl damals als auch heute.

Die Stimmung in diesem Roman ist von Nostalgie bestimmt. Die Geschehnisse werden aus der Sicht von Amory geschildert. Sie schwelgt dabei in Erinnerungen. Der sehr lebhafte Sprachstil Boyds verstärkt den Eindruck, dass es sich bei Amory um eine sehr temperamentvolle, intelligente, eigensinnige und humorvolle Frau gehandelt haben muss, die ihren eigenen Weg gegangen ist. 

Alles in allem, hat mir das Buch sehr viel Spaß gemacht. Die geschichtlichen Hintergründe werden auf sehr ansprechende Weise vermittelt und bilden den Rahmen für die bewegte Lebensgeschichte von Amory Clay.

Wer sich jetzt näher mit Amory Clay beschäftigen möchte, dem sei jedoch gesagt: Oops, he did it again ;-)

© Renie


Donnerstag, 13. September 2018

George Saunders: Lincoln im Bardo

Quelle: Pixabay/dennisflarsen
Meine übliche Herangehensweise an ein Buch besteht darin, mich grob über den Inhalt zu informieren. Dabei lasse ich Klappentexte, Rezensionen etc. außen vor. Ich möchte mich nicht vorab beeinflussen lassen. Allerdings war mein erster Gedanke, als ich den Roman "Lincoln im Bardo" von George Saunders das allererste Mal aufgeschlagen habe: "Ach, du Schande! Hättest du dich mal vorher schlau gemacht. Da hast du dich wohl von dem Prädikat "Man Booker Prize 2017" blenden lassen."

Nach den ersten Seiten habe ich dieses Buch gehasst, ein paar Seiten später wollte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Und am Ende war ich süchtig danach und habe es in Rekordzeit gelesen.

Der erste Eindruck deutet darauf hin, dass dieser Roman eine Aneinanderreihung von Gesprächsfetzen ist. Das ist gewöhnungsbedürftig und nicht leicht zu lesen, zumal diese Gesprächsfetzen von einer Vielzahl unterschiedlicher Personen kommen (irgendwo habe ich die Zahl 160 gelesen), die sich gerade am Anfang weder zuordnen noch auseinanderhalten lassen. Hinzu kommen Auszüge aus Texten von fiktiven und realen Chronisten aus der Zeit von Abraham Lincoln (1809 - 1865). Auf den ersten Blick ist das Buch ein großes chaotisches Durcheinander. Es gibt nur selten Fließtext, bestenfalls erinnert die Textform an ein Drehbuch oder ein Theaterstück. Erstaunlich, dass sich beim Lesen ein Sog entwickelt hat, der mich geschmeidig durch die Handlung gleiten ließ.
Quelle: Randomhouse/Luchterhand
"Oh, wie pathetisch! - abgezehrt, von eingegrabenen Zügen unsagbarer Traurigkeit gezeichnet, das Aussehen eines einsamen Mannes, einer Seele mit so tiefem Kummer, so tiefer Bitternis, dass kein menschliches Mitgefühl je heranreichen könnte. Dies war weniger der Präsident der Vereinigten Staaten, besagte mein gewonnener Eindruck, als vielmehr der traurigste Mensch der Welt."
Und darum geht es in diesem Buch:
Nachdem Willie, der 11-jährige Sohn von Abraham Lincoln (16. Präsident der USA), gestorben ist, findet er sich auf dem Friedhof wieder. Sein Zustand scheint eine Übergangsstation zwischen dem Leben und dem, was danach kommt, zu sein ( = Bardo: ein Begriff aus dem tibetischen Buddismus, der einen Bewusstseinszustand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bezeichnet - ganz grob erklärt). Hier trifft er auf unzählige Gestalten, die hier ebenfalls wandeln, die Einen bereits seit Jahren, die Anderen erst seit Kurzem. Alle habe eines gemein: sie sehen sich nicht als "tot" an. Stattdessen sind sie in einer Warteposition, um wieder in ihr altes Leben zurückzukehren oder auf, ihnen nahestehende Menschen zu warten, die ebenfalls irgendwann das Zeitliche segnen werden. Willie unterscheidet sich von den anderen Gestalten. Er ist jung, und er erhält Besuch von seinem Vater. In der Nacht nach der Beerdigung seines Sohnes, kommt Lincoln nochmal allein zur Gruft, in der sein Sohn begraben ist. Voller Trauer und Verzweiflung will er Abschied nehmen. Und das, was anschließend in dieser Nacht geschieht, lässt sich nicht mit Vernunft und gesundem  Menschenverstand erklären. Nur soviel: auch Geister haben Gefühle.
"Während die Toten sich in unvorstellbaren Mengen häuften und sich Kummer zu Kummer gesellte, klagte eine Nation, die bislang wenig Opfer bringen musste, Lincoln wegen schlechter, zaudernder Kriegsführung an." (S. 297)
Abraham Lincoln erleidet diesen tragischen Verlust zu einer Zeit, in der sein Land zweigeteilt ist und einen Bürgerkrieg führt. Er wird in seiner Rolle als Präsident 100%ig gefordert. Doch hier zeichnet sich ein nahezu unlösbarer Konflikt zwischen trauerndem Vater und Staatsoberhaupt ab. Die politische Lage lässt dem Privatmenschen nicht viel Freiraum. Und doch nimmt er sich die Freiheit zu trauern, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Gleichzeitig wird ihm bewusst, welche Auswirkungen der Krieg auf die Bürger seines Landes hat. Mit jedem gefallenen Soldaten gibt es Menschen, welche dieselbe schmerzhafte Trauer erdulden müssen, wie er selbst, durch den Verlust seines Sohnes.

Eine Besonderheit dieses Romanes sind die Charaktere, i. d. R. sind dies Tote im Bardo. Sie bilden einen Querschnitt der damaligen (oder auch heutigen?) amerikanischen Gesellschaft. Es sind Arme und Reiche, Weiße und Farbige, Ehrenwerte und Kriminelle, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Moralische und Unmoralische...
Und jeder hat eine Geschichte zu erzählen - die Geschichte der letzten Jahre seines Lebens sowie die Umstände des persönlichen Ablebens. Dabei kommen Geschichten zu Tage, die traurig sind, skurril, lustig, abstoßend, Mitleid erregend. Die Geschichten beinhalten sehr viel schwarzen Humor. Doch bei aller Skurrilität, die George Saunders seinen Charakteren angedichtet hat, hat man stets den Eindruck, dass er ihnen sehr viel Sympathie und Verständnis entgegenbringt. Er stellt Fehler in den Vordergrund, welche Menschen menschlich machen.
"Bei uns allen, die wir hier sind, ist es natürlich für jede Änderung zu spät. Alles ist getan. Wir sind unstoffliche Schatten, und da sich das Urteil darauf bezieht, was wir in der vorherigen (stofflichen) Welt getan (oder nicht getan) haben, befindet sich jegliche Besserung für immer außerhalb unserer Möglichkeiten. Unser Tun dort liegt hinter uns; wir warten nur darauf, dafür zu bezahlen." (S. 246)
Fazit:
Ich habe bisher noch nichts Vergleichbares gelesen. George Saunders hat mit "Lincoln im Bardo" eine bizarre Geschichte entworfen. Gesunder Menschenverstand ist hier fehl am Platze. Stattdessen lässt man sich als Leser auf ein eigentlich gruseliges Kammerspiel ein, das die Vorlage für einen Horrorfilm liefern könnte. Belohnt wird man dafür mit einer beeindruckenden Geschichte über einen Vater und seinen Sohn, über einen Staatsmann und seinen Krieg, über Liebe, Verlust, Trauer und Mitgefühl. Eine Geschichte, die unter die Haut geht, die lustig ist, die spannend ist, die schräg ist, die nachdenklich stimmt, und die ich uneingeschränkt empfehlen kann.

© Renie



Über den Autor:
... George Saunders gilt als einer der besten Shortstory-Autoren der Gegenwart und neben David Foster Wallace als einer der bedeutendsten modernen Autoren Amerikas. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Oneonta, New York. Das Echo auf seinen ersten Roman »Lincoln im Bardo« war überwältigend: Man Booker Prize 2017, New York Times-Nr.1-Bestseller, SWR-Bestenliste Platz 1 und Spiegel-Bestseller. (Quelle: Randomhouse / Luchterhand)

Donnerstag, 6. September 2018

Bernhard Strobel: Im Vorgarten der Palme

Quelle: Pixabay/skeeze
Das saftige Rasengrün, die grell leuchtenden Lilien, Tagetes, Zinnien, über deren Blüten die Bienen und Hummeln kreisten, unentschlossen, in welchen Kelch des üppigen Büffets sie ihre Saugrüssel zuerst stecken sollten, die Bäume mit ihren behaglichen Schatten unter den dichten Kronen. Wem würden bei einem solchen Anblick unter der strahlenden Nachmittagssonne nicht die Knie weich werden?
... und Herr über dieses idyllische Vorstadtparadies ist Leidegger, dessen Kleinod in dieser botanischen Herrlichkeit seine Palme im Vorgarten ist. Sie hegt und pflegt er. In diesem Paradies führt er mit Ehefrau Martina und der gerade geborenen Tochter ein fast perfektes Leben.

Aber, wie jeder weiß, gehen Geschichten, die im Paradies spielen, selten gut aus. Bei dem einen ist es eine Schlange mit Apfel, die den Frieden stört. Bei Leidegger ist es eine SMS auf seinem Handy, die von seiner Frau Martina gelesen wird. Und schon ist das paradiesische Zusammenleben dahin. Bernhard Strobels Roman "Im Vorgarten der Palme" behandelt den dramatischen Konflikt zwischen den beiden Eheleuten, der aus einer eigentlich unverfänglichen Nachricht heraus entstanden ist. Ist dieser Konflikt tatsächlich dramatisch? Es kommt auf das Auge des Betrachters bzw. Lesers an. Ist die Nachricht tatsächlich unverfänglich? Auch hier kommt es auf das Auge des Betrachters an. Martina betrachtet diese Nachricht auf jeden Fall mit anderen Augen als ihr Mann.
Quelle: Kirchner PR/Droschl

Wer aufgrund der angedeuteten Dramatik mit einem Rosenkrieg rechnet, ist schief gewickelt. Wie gehen die Eheleute also miteinander um?

Diese Frage lässt sich nur aus der Sicht von Leidegger beantworten. Denn die tagelange Auseinandersetzung mit Martina findet selten im Gespräch der Eheleute statt, sondern hauptsächlich auf der non-verbalen Ebene. Leidegger vermutet, Leidegger spekuliert, Leidegger unterstellt, Leidegger nimmt vorweg. Hier wird das Problem, das zwischen den Eheleuten vorherrscht, selten beim Namen genannt. Der Konflikt lebt von Andeutungen, Mutmaßungen und Interpretationen, die jeder mit sich selber austrägt.
Aus Erfahrung wusste er, dass Martina dazu neigte, die Pflanzen zu überwässern. Er hatte sie mehr als einmal gebeten, die Palme zu verschonen und sie allein seiner Obhut zu überlassen. Plötzlich ertappte er sich bei einem Gedanken: Goss sie aus Langeweile oder wollte sie mit diesem Gießen etwas bewirkten? Was konnte sie damit bewirken wollen? Sollte es sich um eine Drohung handeln? Beabsichtigte sie, weil sie sich nicht in der Lage sah, Leidegger körperlich zuzusetzen, an seiner Stelle die Palme zu traktieren? Gleich einem lästigen Insekt fächelte er den Gedanken beiseite, so abwegig kam er ihm vor.

Und Leidegger entwickelt sich zu einem wahren Interpretationskünstler. Der Roman gibt seine inneren Diskussionen wieder, seine Spekulationen, seine Gefühlslage. Er seziert und analysiert das Verhalten seiner Frau. Und das macht diesen Roman aus. Denn hier werden sehr akribisch die Endlosdiskussionen, die Leidegger innerlich führt, wiedergegeben. Das hat anfangs einen gewissen Unterhaltungswert. Insbesondere wenn sich Leidegger dabei als Spießer, der keiner sein möchte, präsentiert und sich selbst in der Rolle des überlegenen Strategen im Krieg mit seiner Frau sieht, was er natürlich nicht ist.

Doch mit der Zeit musste ich feststellen, dass mich diese endlosen Selbstdiskussionen anfingen, zu langweilen. Am Ende frage ich mich, ob dieses sicherlich sehr originelle Thema eines Ehekonfliktes ausreichend Potenzial für einen Roman liefert. Die Handlung ist überschaubar. Es passiert nicht viel. Ehefrau Martina bleibt für den Leser im Hintergrund. Das Buch wird daher durch den inneren Kampf von Leidegger bestimmt. Dieser Aspekt nutzt sich nur leider mit der Zeit ab.
Herausragend ist jedoch für mich der Sprachstil des Autors Bernhard Strobel. Seine fantasievollen Satzkonstruktionen und seine fast schon poetischen Vergleiche haben mir sehr viel Freude gemacht. Der Sprachstil wirkt sehr opulent und schwelgerisch.

Wer also Freude an fantasievoller Sprache hat, ist mit diesem Roman sehr gut aufgehoben, sollte sich jedoch darauf einstellen, dass die Handlungen überschaubar sind.

© Renie




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