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Freitag, 12. Januar 2018

Matthew Quick: Anstand




Quelle: Pixabay/GDJ

Nimmt man den Roman "Anstand" von Matthew Quick in die Hand, fühlt man sich unweigerlich beobachtet. Der Mann auf dem Cover fixiert den Leser mit seinem Blick. Dabei wirkt er nicht besonders vertrauenserweckend. Sein verlebtes Gesicht deutet darauf hin, dass er einiges durchgemacht hat. Und er ist Amerikaner. Für mich könnte er Trump-Wähler sein, nur dass die Handlung des Buches "Anstand" in Obamas Amerika angesiedelt ist. Nichtsdestotrotz ist der Hauptprotagonist David Granger Republikaner (Trumps Partei), Waffennarr und Vietnamveteran. Dementsprechend verhält er sich auch - zunächst ....

Quelle: HarperCollins
Die Geschichte beginnt mit dem Krankenhausaufenthalt des 68-jährigen Grangers. Der Mann ist schwer krank und hat gerade eine Gehirnoperation hinter sich. Ob es nun an seiner OP liegt, oder ob er schon immer so war: Der Ich-Erzähler Granger nimmt kein Blatt vor den Mund. Er meckert, misstraut jedem und ist froh, so bald wie möglich, das Krankenhaus verlassen zu können. Denn er hat zwei Missionen zu erfüllen.
  • Mission 1: das Verhältnis zu seinem Sohn verbessern
  • Mission 2: sich mit seinem Erzfeind aus dem Vietnamkrieg aussöhnen
"Im Krankenhaus behandelten mich die Ärzte, als wäre ich ein Champignon: Sie ließen mich im Dunkeln und speisten mich mit Mist ab." (S. 7)
Mission 1:
Granger ist schon seit langem Witwer. Seine Ehefrau, die unter Depressionen litt, hat sich vor einigen Jahren das Leben genommen. Zu seiner Familie gehören Sohn Hank, dessen niederländische Ehefrau sowie Enkelin Ella. Hank ist das genaue Gegenteil von seinem Vater. Ist der Alte ein harter konservativer Knochen, ist Hank für seinen Vater ein unmännliches linksliberales Weichei. Die nichtamerikanische Schwiegertochter ist der Feind. Einzig Enkelin Ella ist Grangers Sonnenschein. Für sie würde er alles tun.

Episoden aus der Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt wechseln sich mit Davids Erinnerungen an die letzten 50 Jahre ab. Der Vietnamkrieg war für ihn ein prägendes Ereignis. Mit 68 Jahren hat er immer noch nicht die posttraumatische Belastung aus dem Krieg ablegen können. Zu entsetzlich waren die Ereignisse, an denen er beteiligt war. Die Angst um sein Leben hat ihn in all den Jahren nie verlassen. Daher rührt auch seine "Begeisterung" für Waffen. Er ist immer bewaffnet, sein Waffenarsenal ist beeindruckend. Seine Kleidung besteht aus Tarnanzügen. Granger ist allzeit bereit, sich und seine Lieben zu verteidigen.
Im Verlauf der Handlung lernen Hank und der Leser überraschende Seiten an Granger kennen, die so gar nicht zu dem Bild des knochenharten Vietnamveteranen und stockkonservativen Republikaners passen. Langsam schaffen Vater und Sohn, ihr Verhältnis auf ein akzeptables Niveau zu bringen.
"Zwei Klasseschwule, die 'Danke für deinen Einsatz' sagen, sind mir allemal lieber als eine Million ignorante Hetero-Arschlöcher, die Kriegsveteranen die kalte Schulter zeigen. Von mir aus können die Schwulen rumvögeln, so viel sie wollen, solange sie patriotisch sind, weil das wahre amerikanische Freiheit ist. Liebe dein Land. Punkt, aus." (S. 71)
Mission 2:
Gleich zu Beginn des Romanes erwähnt Granger den Namen Clayton Fire Bear, der auf einen indianischen Ursprung hindeutet. Dieser Name wird im Verlauf der Geschichte mehrfach genannt. Doch lange macht Granger ein Geheimnis um seinen Erzfeind aus dem Vietnamkrieg. Erst zum Ende erzählt er, was zwischen ihm und dem Indianer in Vietnam vorgefallen ist. Er begibt sich auf Wiedergutmachungstour, in der Hoffnung, dass Clayton Fire Bear ihm nach all den Jahren verzeihen kann.

Der Roman lebt von der Entwicklung des Protagonisten David Granger. Als ich dieses Buch begonnen habe, war ich nicht darauf vorbereitet, was auf mich zukommt. Grangers Entwicklung war nicht vorhersehbar, umso mehr war ich angenehm überrascht, als sich der Primitivling mit den stockkonservativen Ansichten als ein einigermaßen netter Kerl erwies, der besondere Freunde hat, clever ist (sein beruflicher Erfolg bestätigt dies), einfühlsam und sentimental. Sicher, ich musste mich an seine Eigenheiten gewöhnen. Doch die meisten dieser Eigenheiten sind seinem Einsatz im Vietnamkrieg geschuldet und den daraus resultierenden psychischen Konsequenzen.
"Nur die Guten sterben jung, und ich hatte böse gelebt. Ich habe Dinge getan, die Sie sich nicht mal vorstellen können." (S. 19)
Wie ich bereits erwähnte nimmt Granger kein Blatt vor den Mund. Er spricht die unterschiedlichsten Themen an, die die amerikanische Gesellschaft (und nicht nur die amerikanische) beschäftigen. Dabei tummelt er sich als Erzkonservativer in den unterschiedlichsten Klischees, wobei er mich mit seinen Ansichten überraschte. Es scheint, dass auch Republikaner Menschen sind - zumindest wenn sie David Granger heißen.

Seine Ausdrucksweise ist schon sehr deftig, teilweise benutzt er Wörter, von denen man Kindern erzählt, dass man diese nicht sagen darf. Das mag manchen Leser abstoßen, ich fand es jedoch sehr originell und musste oft über Grangers kernige Sprüche lachen.

Anfangs dachte ich, er spricht den Leser direkt an und lässt ihn Teil an seinen Gedankengängen haben. Doch mit der Zeit stellte sich heraus, dass er sich tatsächlich mit einer Figur in diesem Roman austauscht, was mich ein Stück weit an Verhöre durch den Geheimdienst erinnert hat. Natürlich habe ich mich gefragt, ob diese Gespräche Fantasieprodukte als eine Folge seiner Gehirn-OP sind; oder ob die Gespräche tatsächlich stattgefunden haben. Diese Frage hat mich bis zum Ende des Romans beschäftigt.

Fazit:
Ein Roman, der mich positiv überrascht hat. Das Foto auf dem Cover assoziiert einen anderen Granger als der, der sich im Verlauf der Handlung präsentiert. Der "harte Knochen" wird zum empfindsamen Mann mit viel Herz. Eine großartige Entwicklung des  Charakters, die mich begeistert hat.

© Renie



Über den Autor:
Matthew Quick wurde in Oaklyn, New Jersey geboren. Er studierte Anglistik, arbeitete als Englischlehrer und reiste anschließend lange durch Südamerika und Afrika.

Die Verfilmung seines Debüts "Silver Linings" gewann einen Golden Globe und den Oscar für die beste weibliche Hauptdarstellerin. Der New York Times Bestseller-Autor hat neben anderen Auszeichnungen den PEN/Hemingway Award Honorable Mention erhalten und ist in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Ehefrau in North Carolina. (Quelle: Harper Collins)