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Freitag, 29. Dezember 2017

Gaël Faye: Kleines Land

Quelle: Pixabay/teetasse
In seinem autobiografischen Roman "Kleines Land" beschreibt der Autor Gaël Faye seine Kindheit in Burundi, einem der kleinsten Staaten Afrikas.
Mit einer Fläche von gerade mal 27.834 Quadratkilometer ist dieses Land kleiner als Nordrhein-Westfalen (34.110 Quadratkilometer), hat aber die größeren  Probleme: eine hohe Kindersterblichkeitsrate, eine durchschnittliche Lebenserwartung von 56 Jahren, rivalisierende Bevölkerungsgruppen, Bürgerkriege. Amnesty International, Human Right Watch und Unicef sehen die Lebensverhältnisse in Burundi als problematisch an. Nicht zuletzt die Kinder, sind die Leidtragenden in diesem Kleinen Land: Ausbeutung und Missbrauch von Kindern gehören zum Alltag dazu. Kinder als billige Arbeitskräfte, Kinder als Prostituierte, Kinder als Soldaten.
Doch es gibt auch Kinder in Burundi, die ihre Kindheit genießen können - zumindest bis ihnen der nächste Bürgerkrieg einen Strich durch die Rechnung macht. Eines dieser Kinder ist der Hauptprotagonist dieses Romans - Gabriel, genannt Gaby.
"Die Menschen in dieser Gegend waren wie die Erde. Hinter scheinbarer Ruhe, einer lächelnden Fassade und großen optimistischen Reden waren beständig dunkle, unterirdische Kräfte am Werk, um Gewalt und Zerstörung freizusetzen, die in wiederkehrenden Perioden durchs Land fegten wie tückische Winde: 1965, 1972, 1988. Ein böser Geist schaute regelmäßig vorbei, um die Menschen daran zu erinnern, dass Friede nur ein kleines Intervall zwischen zwei Kriegen ist." (S. 116 f.)
Quelle: Piper
Gaby hat seine Kindheit in seinem eigenen kleinen Land verbracht. Er lebte mit seiner Familie in einer Sackgasse in Bujumbura, der Hauptstadt Burundis. In dieser Sackgasse war die Welt noch in Ordnung. Kinder, die hier aufwuchsen, waren privilegiert. Ihre Eltern waren wohlhabend und konnten sich und ihren Familien ein sorgenfreies Leben ermöglichen. Gabys Vater war Franzose, seine Mutter kam aus dem benachbarten Ruanda. Die Kinder, die in dieser Sackgasse lebten, waren dicke Freunde. Sie hatten viel Spaß miteinander und machten natürlich auch viel Blödsinn. Sie lebten in einem geschützten Kokon. Die Jungs bekamen zunächst nicht viel von den Problemen mit, die in Burundi bzw. im Nachbarland Ruanda herrschten. Doch irgendwann war Schluss mit der Idylle. Der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen Hutu und Tutsi, der im Genozid an den Tutsi gipfelte, machte auch vor Burundi nicht halt. Gabys Mutter machte sich auf die Suche nach ihren verschollenen Angehörigen in Ruanda. Der Vater blieb mit seinen Kindern (Gaby und dessen Schwester Ana) zurück. Als Gefahr und Terror in Burundi immer größer wurden, entschloss er sich, die Kinder nach Frankreich zu schicken.
"Völkermord ist ein schwarzer Sumpf, wer nicht darin untergeht, ist für sein Leben verseucht." (S. 188)
Etwa 20 Jahre später erzählt Gaby die Geschichte seiner Kindheit. In Frankreich fühlt er sich entwurzelt, hat Sehnsucht nach seiner Heimat und will wieder zurückgehen. Der Roman endet schließlich mit der Rückkehr von Gaby nach Burundi.

Die Stimmung, die in diesem Roman vermittelt wird, ist eine Mischung aus Unbeschwertheit und tiefer Traurigkeit. Der Autor Gaël Faye schildert eine Kindheit, die an Lausbubengeschichten erinnert. Die Welt ist in Ordnung, die Kinder haben Spaß, der eine oder andere Streich gehört zum Kindsein dazu. Doch in dem Moment, wo sich die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die Kinder zeigen, nimmt die tiefe Traurigkeit in diesem Roman zu. Der Ich-Erzähler Gaby spürt, wie seine heile Welt zerbricht. Die Anzeichen machen ihm Angst. Er spürt, dass seine Kindheit ein abruptes Ende nehmen wird. Der Sprachstil des Autors tut sein Übriges dazu. Mit seinen leisen Tönen versteht er es, den Leser zu berühren. Gaël Faye hat die Angewohnheit, die einzelnen Kapitel mit einem bedeutungsschwangeren Satz enden zu lassen. Das sind Sätze, die andeuten und nachhallen. Die Wirkung, die er damit erzielt ist eine tiefe Betroffenheit beim Leser. Die Traurigkeit, die Gaby ausstrahlt ist dadurch nahezu körperlich spürbar.
"Ich hatte keine Erklärung für den Tod der einen und den Hass der anderen. Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht." (S. 200)
Fazit:
"Kleines Land" ist ein Buch, das mich durch die Intensität der Gefühle, die vermittelt werden, gefesselt hat. Der Autor Gaël Faye schafft es, Unbeschwertheit und Traurigkeit miteinander in Einklang zu bringen. Es gibt Passagen in diesem Roman, die liest man mit einem Lächeln. Andere wiederum machen tief betroffen. Ein großartiges Buch, das ich gern weiterempfehle.

© Renie


Über den Autor:
Gaël Faye, 1982 in Burundi geboren, wuchs als Kind einer ruandischen Mutter und eines französischen Vaters auf, bevor er 1995 als Folge des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten musste. Nach dem Ende seines Wirtschaftsstudiums arbeitete er zwei Jahre als Investmentbanker in London, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, um dort als Autor, Musiker und Sänger zu arbeiten. Sein erster Roman »Kleines Land« war nominiert für den Prix Goncourt und erhielt unter anderem den Prix Goncourt des Lycéens. (Quelle: Piper)

Freitag, 22. Dezember 2017

Bernd Mittenzwei: Die zweite Luft

Pixabay/Ratfink1973
Die Novelle "Die zweite Luft" von Bernd Mittenzwei gehört zweifellos zu einem meiner Glücksgriffe ins Bücherregal. Wobei der Verlag A. Fritz kräftig nachgeholfen hat. Hätte mir der Verlag dieses kleine, aber feine Büchlein nicht vor einiger Zeit als Leseexemplar angeboten, wäre es nie in mein Regal gelangt. Die Buchbeschreibung hat mich jedoch neugierig gemacht. Die entscheidende Frage war für mich: "Und das soll funktionieren?"
In diesem Buch geht es um drei einander fremde Personen, die an einer Kreuzung irgendwo in der Oberpfalz der 80er Jahre zufällig aufeinandertreffen. Nicht mehr und nicht weniger. Und aus diesem banalen Ansatz heraus hat der Autor Bernd Mittenzwei eine Geschichte geschaffen, die mich schlichtweg umgehauen hat.

Die Novelle beginnt mit Lydia. Diese tritt zu ihrer morgendlichen Laufrunde an. Und sie läuft und läuft, dabei schießen ihr diverse Gedanken durch den Kopf, die sie mit dem Leser teilt.

Am Abend zuvor ist Ernst Stenger mit seiner Frau Nadine bei den Nachbarn eingeladen. Stenger kann seinen Nachbarn nicht ausstehen, würde am liebsten absagen, gibt aber dem Druck seiner Frau nach. Frauen haben so ihre Mittelchen, um ihre Männer gefügig zu machen. Der Abend beginnt, wie Stenger befürchtet hat .... unerträglich. Da hilft nur Alkohol.

Desweiteren trifft der Leser auf Stefan, den Altenpfleger, der einen besonders anstrengenden Zögling betreut, und welcher Stefan völlig unverblümt sein Durchschnittsleben vorwirft. Das Schlimme ist, dass der Alte auch noch Recht hat.
Für Stefan und Stenger endet der Abend sehr überraschend - nicht nur für sie selber, sondern auch für den Leser.
Denn am nächsten Tag kommt es morgens zu einem Aufeinanderprallen der 3 Fremden. Sie durchleben ein Ereignis, mit dem keiner gerechnet hat.

Die Charaktere:
Mein Leserherz schlägt für die beiden Männer. Obwohl Stenger Alkoholiker ist, mit allem, was dazu gehört, habe ich große Sympathien für ihn entwickelt. Er, der sich in sein Schicksal fügen und den unsympathischen Nachbarn ertragen muss. Stenger versucht, sich den Abend schön zu trinken. Manchmal hilft halt nur Alkohol. Dabei ist Stenger lustig und bietet dem nervigen Nachbarn verbal die Stirn, fernab von jeder Höflichkeit. Stender läuft in dieser Situation zur Höchstform auf und den Leser freut soviel hemmungslose Offenheit. Aber Stenger hat auch eine Vergangenheit, die ihn zu dem Alkoholiker und Zyniker gemacht hat, der er heute ist. Erst zum Schluss erfährt der Leser die ganze Wahrheit um Stenger.
"Und einer wie er selbst, einer, der das Leben sieht wie es ist, der geradeheraus ist und keinem etwas vormacht, der gibt das Arschloch für euch alle. Ja, glaubt denn hier irgendwer, es macht Spaß, das Arschloch zu sein?" (S. 124 f.)
Stefan ist eigentlich als Altenpfleger zufrieden mit seinem Leben. Doch andere sind es nicht. Insbesondere seine Eltern hätten sich für ihren Sohn einen ambitionierteren Beruf gewünscht. So ficht Stefan einen ständigen Kampf aus: das, was er will gegen das, was andere für ihn wollen. Wenn ihn dann auch noch seine Zöglinge kritisieren, dass er aus seinem Leben nichts gemacht hat, und er ein Versager ist, läuft das Fass über. Stefan setzt sich auf seine ganz eigene Art zur Wehr. Nur an die Konsequenzen hat er in diesem Moment nicht gedacht.
"Er lebte in einer anderen Welt. Einer Welt, in der es stank, in der es Leid gab, einer Welt, in der man starb. Das war in ihren Augen unverzeihlich." (S. 90)
Bleibt noch Lydia, die ewig Laufende. Laufen ist für sie ein Mittel, den Kopf freizukriegen. Beruflich läuft es nicht, privat auch nicht. Während sie durch die Oberpfalz läuft und ihren Gedanken nachgeht, lernt man eine Lydia kennen, die sehr zurückhaltend ist und mit einem Mangel an Selbstbewusstsein zu kämpfen hat. Erst das Zusammentreffen mit Stenger und Stefan macht aus der schwachen Lydia eine starke Lydia. Fast scheint es, als ob dieses Aufeinanderprallen der drei Fremden der Schlüssel zu Lydias Selbstvertrauen ist. Die beiden Männer sind handlungsunfähig - der eine, weil er sturzbetrunken ist, der andere, weil es ihn mit dem Fahrrad zerlegt hat. Lydia nimmt das Zepter in die Hand, sagt den beiden Männern, was zu tun ist und strotzt nur so vor Sicherheit. Lydia ist am Ende die gute Fee, die den beiden Männern den Weg zurück in ein geordnetes Leben weist.

Erwähnen möchte ich noch den Sprachstil von Bernd Mittenzwei. Seine Sprache zeichnet sich durch geistreichen Wortwitz aus. Es macht Spaß, seinen sehr bildhaften Ausführungen zu folgen. Der Autor scheint ein Freund von Metaphern und Vergleichen zu sein. Das bin ich auch. Doch manchmal war es mir in dieser Novelle des Guten zu viel. Als "die Sonne eine Blutorange war, die sich an der ausgezackten Silhouette der Nürnberger Innenstadt zerquetschte und ihren Saft zwischen den Straßenschluchten des Bahnhofsviertels verströmte", zuckte ich beim Lesen zusammen. Ich könnte noch ein, zwei Stellen nennen, bei denen es mir ähnlich erging. Mancher Leser mag dies als fantasievolle Ausdrucksweise bezeichnen, mich hat es in jenen Momenten gestört. Nichtsdestotrotz habe ich die Sprache von Bernd Mittenzwei aufgrund ihres Wortwitzes sehr genossen. Über diese wenigen Momente der überbordenden Fantasie bin ich dann am Ende gern hinweg gegangen.

Fazit:
  • eine Geschichte voller Überraschungen 
  • Charaktere, die mir ans Herz gewachsen sind 
  • ein Autor mit einem Sprachstil zum Genießen, auch wenn es manchmal zuviel des Guten ist

© Renie




Über den Autor:
Bernd Mittenzwei wurde 1961 geboren und wuchs in einem Arbeiterviertel in der Nürnberger Südstadt auf. Studium der Germanistik und Theologie. Pflegehilfskraft, Hausmeister, Journalist, Herausgeber einer Literaturzeitschrift, schließlich Lehrer. Lebt in der fränkischen Provinz. (Quelle: A. Fritz Verlag)

Freitag, 15. Dezember 2017

Yael Inokai: Mahlstrom

Quelle: Pixabay/Noupload
"Mahlstrom" - ein treffender Titel für einen Roman, dessen Handlung einen Sog entwickelt, der mich förmlich mitgerissen hat. Für mich ist dieser beeindruckende Roman der Schweizerin Yael Inokai eine meiner Entdeckungen dieses Jahres.


Die Autorin führt den Leser in ein schweizerisches Bergdorf, in der die Welt alles andere als in Ordnung ist. Die Geschichte beginnt mit dem Selbstmord von Barbara, einer jungen Frau, die von Geburt an hier gelebt hat. Man findet ihre Leiche im Fluss. Natürlich stellt sich die Frage, was Barbara dazu getrieben hat, Selbstmord zu begehen. Erzählt wird die Geschichte aus mehreren Perspektiven. Barbara gehörte zu einer Clique von 6 jungen Menschen, die zusammen in diesem Dorf aufgewachsen sind. Diese Personen erinnern sich an Episoden aus ihrer gemeinsamen Kindheit bis hin zur Gegenwart. Dabei entwickeln sich Bilder von der Dorfgemeinschaft und ihrem Miteinander, die nur schwer zu verdauen sind.

"Wir dürfen sie beerdigen, stand schließlich auf einem Formular.
Die Eltern und der Bruder suchten einen Sarg aus.
Die Gärtnerin fing mit Graben an.
Der Geistliche begann zu schreiben.
Wir anderen lagen im Dunkel unserer Häuser und gaben vor zu schlafen." (S. 8)

Quelle: Rotpunkt Verlag
Wer davon ausgeht ist, dass die 6 Personen Freunde seit Kindheitstagen sind, wird eines Besseren belehrt. Der "Freundeskreis" wird im Verlauf der Erzählung förmlich seziert. Im Roman taucht der Satz auf: "..., dass man ein ganzes Leben zusammen sein kann, ohne sich je gegenseitig zu sehen und wahrzunehmen." (S. 129). Diese Aussage trifft das Leben der Freunde in diesem Dorf auf den Punkt. Sie geben wenig von sich Preis. Sollte ich die einzelnen Personen charakterisieren, ich könnte es nicht. Selbst wenn sie als Kinder viel Zeit miteinander verbracht haben, sind sie sich doch fremd geblieben. 



Das Leben in diesem Dorf ist kein Zuckerschlecken. Yael Inokai beschreibt eine Dorfgemeinschaft, die herzlich wenig mit dem Idyll eines Bullerbü zu tun hat. Stattdessen trifft man auf Misstrauen, Gehässigkeit und Falschheit. Schwächen und Andersartigkeit werden nicht verziehen. Ganz im Gegenteil. Hier herrscht eine Hackordnung, in der Schwächere bestraft werden. Diese Mentalität findet sich von klein auf in dieser Dorfwelt. "Kinder können grausam sein" - ein Gedanke, der einem bei der Lektüre dieses Romanes mehrfach durch den Kopf schießen wird.

"Manchmal bist du eben dran, sagte er, nachdem wir uns aufs Bett gesetzt hatten, aber dann sind auch wieder andere dran. Das darfst du nicht persönlich nehmen." (S. 110)

Mein Highlight in diesem Roman ist der eindringliche Sprachstil der 28-jährigen Autorin, der mich von der ersten Seite an fasziniert hat. Er sorgt für eine Stimmung, die ich zwar als bedrückend empfunden habe, der ich mich aber auf gar keinen Fall entziehen wollte. Denn Yael Inokai spielt mit der Sprache, indem sie ungewöhnliche Vergleiche und Metaphern verwendet. Dadurch wirkt ihr Stil sehr poetisch. Durch geschicktes Platzieren von Andeutungen entwickelt sich eine Spannung in dem Roman, die einen nicht loslässt. Die Frage nach dem Warum von Barbaras Selbstmord, tritt mit der Zeit in den Hintergrund. In den Vordergrund rückt dafür das Miteinander der "Freunde" und ein gemeinsames Geheimnis, das im Verlauf der Geschichte aufgedeckt wird.

Fazit:
"Mahlstrom" ist hohe Erzählkunst. Der Roman fasziniert durch seinen poetischen Sprachstil und die Stimmung, die auf den Leser übertragen wird. Yael Inokai ist für mich eine Entdeckung. Ich freue mich schon auf weitere Bücher von ihr.

© Renie



Über die Autorin:



Yael Inokai (vormals Pieren) wurde 1989 als Tochter einer Deutschen und eines Ungarn in Basel geboren. Philosophiestudium in Basel und Wien; seit 2014 Studiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. Tätigkeit als Fremdenführerin. Publikationen in verschiedenen Literaturzeitschriften sowie auf Zeit online. Aufenthaltsstipendium Literarisches Colloquium Berlin; Hildesheimer Stadtschreiberin für Bella Triste. Nach ihrem viel beachteten Debüt Storchenbiss (2012) legt sie mit Mahlstrom nun ihren zweiten Roman vor. (Quelle: Rotpunkt Verlag)

Freitag, 8. Dezember 2017

Arnoldo Gálvez Suárez: Die Rache der Mercedes Lima

Quelle: Edition Büchergilde/Kirchner PR

Jedes Jahr werden in Deutschland um die 100.000 Bücher veröffentlicht. Wieviel es weltweit sind, weiß ich nicht, mag es mir auch kaum vorstellen. Ich lese sehr viel, werde aber im Leben nicht alles lesen können, was ich möchte. Lesezeit ist leider begrenzt. Daher werden mir unzählige lesenswerte Bücher durch die Lappen gehen, zum Einen, weil mir die Zeit fehlt, sie zu lesen, zum Anderen, weil ich überhaupt nicht weiß, dass sie existieren. Ich bin daher dankbar, dass es Portale wie Lit.Prom gibt, die regelmäßig über Literatur aus anderen Ländern und Kulturkreisen informieren. Literatur, über die in Deutschland sonst kaum jemand sprechen würde, die aber aufgrund ihrer Qualität durchaus viel Aufmerksamkeit verdient hätten.
Auch einige deutsche Verlage räumen den Exoten einen Platz in ihrem Programm ein. Dazu gehört auch die Büchergilde, die mit ihrer Reihe "Weltlese" die deutschsprachige Leserschaft an "weitgehend unbekannten Autoren und Autorinnen, ungewöhnlichen Themen und vergessenen Kleinodien" teilhaben lässt. Herausgeber dieser Reihe ist der Schriftsteller Ilija Trojanow, der mir aus der Seele spricht, wenn er meint "Es ist schade, einen wunderbaren Roman zu verpassen, nur weil er das Pech hat, zum Beispiel in Haiti geschrieben worden zu sein." (Auszug aus einem Interview, Quelle: Büchergilde)

Einer dieser Entdeckungen von Ilija Trojanow ist der Roman "Die Rache der Mercedes Lima" des guatemaltekischen Schriftstellers Arnoldo Gálvez Suárez.
Dieser sehr vielschichtige Roman über den Tod des Geschichtsprofessors Daniel Rodriguez Mena ist eine ungewöhnliche Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte des, vom Bürgerkrieg gebeutelten Guatemala.
"Ich roch Blut und hörte Schluchzen und die Unterhaltungen von Staatsanwälten und Sensationsreportern, die fähig sind, angesichts einer verstümmelten, von Schüssen durchsiebten oder gefolterten Leiche einen Muffin und Würstchen mit Spiegelei zu frühstücken." (S. 63)
Der Roman beginnt mit einem prägenden Kindheitserlebnis von Alberto (Ich-Erzähler), einem der beiden Söhne des Professors. Er beobachtete vor ca. 25 Jahren eine nächtliche Szene zwischen seinen Eltern: der blutverschmierte Vater, weinend und voller Angst, der von seiner Frau im Arm gehalten wird. Wenige Tage später ist Albertos Vater tot, wahrscheinlich ist er ein weiteres Opfer der Militärdiktatur geworden.

Die genauen Umstände des Todes sind den Jungen verschwiegen worden. Zu der damaligen Zeit lebte noch eine Studentin des Vaters (Mercedes Lima) für ein paar Wochen mit der Familie zusammen. Ungewöhnlich, dass eine Studentin bei ihrem Professor wohnt. Aber da sie sich in einer Notlage befand, sah der Professor es als seine Pflicht an, sich um sie zu kümmern. Sehr zum Ärger und Unverständnis seiner Frau. Jahre später vermutet Alberto, dass Mercedes Lima in irgendeiner Form in die Geschehnisse um seinen Vater verwickelt war. Als er sie per Zufall wieder trifft, reift in ihm der Gedanke, dass sie ihm bei der Aufklärung über die wahren Umstände, die zum Tod seines Vaters geführt haben, helfen könnte. Zunächst stellt er ihr heimlich nach. Irgendwann ertappt sie ihn dabei, so dass er sich gezwungen sieht, sie direkt mit seinen Fragen zu konfrontieren. Die beiden kommen sich mit der Zeit näher. Nach und nach erzählt Mercedes Lima, was damals wirklich geschah.
"Mercedes Lima lacht und weint. Es ist nicht auszumachen, wo das Lachen aufhört und das Weinen anfängt, es ist das Gleiche." (S. 234)
Es stellt sich jedoch die Frage, ob Mercedes Lima aufrichtig ist, in dem, was sie Alberto über seinen Vater und ihr Verhältnis zu ihm erzählt. Denn die Handlung um Alberto, die in der Gegenwart spielt, wird zwischenzeitlich von der Geschichte des Vaters (der 2. Ich-Erzähler) unterbrochen, die natürlich in der Vergangenheit stattfindet. Der Vater schildert die Ereignisse aus seiner Sicht. Dabei wird der Leser minimale Abweichungen von Mercedes' Version entdecken, die an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln lassen.
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Ich habe den Charakter der Mercedes Lima zwiespältig wahrgenommen. Aus der Sicht des Vaters dargestellt, ist sie eine junge Studentin, schüchtern, ängstlich, schutzbedürftig und natürlich gut aussehend. Der Vater ist von ihr verzaubert, ähnelt sie zudem einer früheren Studentin, deren Tod Schuldgefühle bei ihm ausgelöst hat. Insofern sieht er sich (quasi als Wiedergutmachung) in der Verantwortung, sich um Mercedes Lima, die in Schwierigkeiten steckt, zu kümmern.
25 Jahre später hat Mercedes nur noch wenig von dem, was sie für den Vater faszinierend gemacht hat - abgesehen von ihrem guten Aussehen, auf das auch der Sohn anspricht. Die Jahre haben sie reifer und abgeklärter gemacht. Sie hat gelernt, im Leben allein zurecht zu kommen und das nicht gerade schlecht. In ihrem Leben sind Dinge geschehen, um die sie ein großes Geheimnis macht. Erst nach und nach zeichnet sich ab, worum es dabei geht.

Die Lebenswege von Vater und Sohn weisen viele Parallelen auf. Die Figur des Vaters lässt sich folgendermaßen beschreiben: ein farbloser Typ, mit einer mittelmäßigen Karriere und einem unaufgeregten Leben; verheiratet mit einer gleichgültigen Frau, die er nicht liebt - zumindest hat er verlernt, sie zu lieben. Der Mann hat sich an sein Leben gewöhnt, träumt jedoch davon, aus seinem Durchschnittsleben auszubrechen, mal etwas zu riskieren. Die politische Situation in seinem Land jagt ihm Angst ein. Als Akademiker ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, ins Visier der Machthaber zu geraten. Daher versucht er, sich möglichst unsichtbar zu machen und sich nicht einzumischen. Er schämt sich seiner Feigheit und träumt sich daher Mut herbei. Mercedes Lima bietet ihm diese Gelegenheit.
"Er denkt: Das spielt keine Rolle, Daniel, du hast eine zweite Chance bekommen, das Mädchen mit dem langen, schwarzen, glänzenden Haar wird endlich in Frieden ruhen, dir nicht mehr ins Ohr flüstern: 'Sie müssen handeln, Ihre bürgerliche Bequemlichkeit abschütteln, aufhören, nur Zuschauer zu sein. Tun Sie endlich was, Herr Dozent!'" (S. 198)
Der Sohn Alberto hat in seinem Erwachsenenleben große Ähnlichkeit mit seinem Vater. Beruflich kommt er nicht voran, das Zusammenleben mit seiner Freundin ist von Gleichgültigkeit geprägt. Auch ihm bietet Mercedes Lima die Gelegenheit, aus seiner Routine auszubrechen.
"Es ist nicht die Angst vor dem Tod oder davor, Schrecken und Leid zu erleben. Es ist die nackte Angst, ein schweres Bleirad auf der Brust, die keinen Anfang und kein Ende hat." (S. 95)
Dieser Roman ist keine leichte Kost. Die jüngste Geschichte Guatemalas hat dem Leben in diesem Land seinen Stempel aufgedrückt. Die Angst scheint ein ständiger Begleiter im Alltag zu sein. Die Protagonisten dieses Romanes scheinen sich damit arrangiert zu haben. Gewalt und Brutalität drohen überall. Da hilft nur, den Kopf einzuziehen. Aber manchmal schafft man es nicht, sich schnell genug weg zu ducken und wird somit schneller zum Opfer als man denkt. Der Sprachstil von Suárez ist sehr eindringlich. Er beschönigt nichts. Stattdessen schildert er die Brutalität mit einer Nüchternheit, die sie umso verstörender macht.

Fazit:
Wenn man das Buchcover der Edition Büchergilde betrachtet, welches das Gemälde "La Hermandad" des guatemaltekischen Malers Carlos Perez darstellt, wird man unweigerlich von den traurigen Augen des abgebildeten Mädchens angezogen. Man verliert sich förmlich in ihrem eindringlichen Blick. Und genauso hat mich dieser besondere Roman in seinen Bann gezogen. Eindringlich, teilweise verstörend, aber fesselnd bis zum Schluss!

© Renie



Über den Autor:
Arnoldo Gálvez Suárez, geboren 1982 in Guatemala-Stadt, ist Schriftsteller und Professor für Journalistische Textgestaltung. Seit 2011 koordiniert er das Kommunikationsteam von interpeace, einer unabhängigen internationalen Organisation für Friedensarbeit. Sein Debütroman Los Jueces (2008) wurde mit dem Mario Monteforte Toledo Prize for Fictionausgzeichnet, 2013 folgte ein hochgelobter Band mit Kurzgeschichten. Der vorliegende Roman erhielt 2015 den BAM Letras Prize for Fiction. (Quelle: Edition Büchergilde)