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Sonntag, 9. Juli 2017

Gaye Boralioglu: Der Fall Ibrahim

Ausschnitt aus "Die sieben Todsünden" von Hieronymus Bosch (1450 - 1516)

Viele meiner Bekannten, Freunde und Nachbarn sind türkischer Abstammung. Der beste Freund meines 12-jährigen Sohnes kommt aus einer türkischen Familie. Ganz ehrlich: wenn die Türken, die ich kenne, auch nur einen Hauch der Mentalität zeigen würden, die die Charaktere in Gaye Boralioglus Roman "Der Fall Ibrahim" an den Tag legen, hätten ich und meine Familie nichts mit ihnen zu tun. Denn die türkische Autorin und Journalistin zeichnet ein derart erschreckendes Bild der türkischen Gesellschaft, auf das man als Leser nur mit Ablehnung reagieren kann. 

Der Roman "Der Fall Ibrahim" ist nach einer wahren Begebenheit entstanden und beschäftigt sich mit dem Geheimnis um das mysteriöse Verschwinden des jungen Türken Ibrahim.
"'Wenn ich nichts sage und die ganze Welt die Augen schließt, dann kann niemand, aber auch gar niemand auf der Welt wissen, ob es mich gibt oder nicht.'" (S. 61)

Eine Journalistin reist durch die Türkei und versucht der Spur von Ibrahim zu folgen. Sie beginnt ihre Recherche im Heimatort von Ibrahim. Hier wird zunächst die Familie befragt. Von da aus führt sie die Spur über mehrere Stationen bis hin nach Istanbul.
Der Roman ist eine Ansammlung von Interviews mit Menschen, die Ibrahim gekannt haben.  Die Interviews sind aufgenommen worden. In dem Roman werden lediglich die Antworten der Befragten wieder gegeben. Die Fragestellung ergibt sich für den Leser aus den jeweiligen Antworten der Protagonisten. Dabei fühlt sich der Leser in die Rolle eines Kameramannes versetzt. Man sieht förmlich, wie die Befragten sich drehen und winden, sich bei unangenehmen Fragen herausreden. Denn die Befragten haben alle eines gemeinsam: Sie sind nicht ganz aufrichtig, haben scheinbar viel zu verbergen. Mit jedem weiteren Zeugen entdeckt der Leser Widersprüche in den Aussagen.

Mit der Zeit eröffnet sich das ganze Ausmaß um die Tragödie des Lebens von Ibrahim, der scheinbar ein sehr sensibler und tiefsinniger Mensch ist, von Zweifeln geplagt und immer auf der Suche nach Antworten. Er stellt Fragen, die verstören können und die Weltanschauung seiner türkischen Mitmenschen in Frage stellt. Das kommt in der, von Männern dominierten türkischen Gesellschaft nicht gut an.
"Man konnte ihm nicht längere Zeit ins Gesicht schauen. Vielleicht wusste er das ja und hielt darum seine Augenlider halb geschlossen. Er war wie ein Engel. Genau wie ein Engel. Einem Engel können sie ja auch nicht länger in die Augen schauen, sonst kriegen sie Angst, werden vom Gefühl erfasst, es könnte ihnen etwas passieren. Sie zittern innerlich. So einer war er." (S. 90)
Was tatsächlich mit Ibrahim geschah, lässt dieser Roman offen, so dass der Leser das Buch mit einer Mischung aus Betroffenheit und Hoffnung beenden wird. 

Auffällig ist, wie ich bereits erwähnte, das Bild, das die Autorin von der Türkei transportiert. Am treffendsten lässt sich dieses Bild mit den "7 Todsünden" der katholischen Theologie beschreiben. Es mag merkwürdig erscheinen, ein Buch aus dem islamischen Kulturkreis mit einem Begriff der katholischen Kirche in Verbindung zu bringen. Aber ich konnte einfach nicht anders, da sich mir der Begriff der "7 Todsünden" zwischendurch immer wieder aufdrängte (auch, wenn ich nicht sehr gläubig bin) und nicht mehr aus dem Kopf ging. Die "7 Todsünden" sind: Hochmut, Geiz, Wollust, Jähzorn, Völlerei, Neid, Faulheit. Diese Eigenschaften finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in den Charaktere dieses Romanes wieder. Gäbe es noch eine 8. Todsünde, wäre es wohl das bedingungslose Festhalten an dem türkischen Ehrbegriff. 

Der Islam wird in diesem Roman durch einen Scheich vertreten. Dieser berichtet von Ibrahim und den Eindruck, den er bei ihm hinterlassen hat. Er gibt eine detaillierte Zusammenfassung der Gespräche wieder, die zwischen den beiden stattgefunden haben. Dabei offenbart sich eine islamische Weltanschauung, die in Zeiten von IS und Terror einen empfindlichen Punkt beim Leser trifft.
"Was für ein Unterschied besteht zwischen dem Gedanken an ein vereintes Europa und Hitlers Traum von einem Groß-Deutschland? Der verfaulende Gestank des Westens ist bis hierher zu riechen. Ein schwerer, intensiver, säuerlicher Geruch, das bedauernswerte Ende einer großen Zivilisation, die im Todeskampf liegt." (S. 122)
Die Journalistin ist auf ihrer Reise durch die Türkei von einem armenischen Fotografen begleitet worden. Die eindrucksvollen Fotos, die dabei entstanden sind, finden sich in diesem Roman wieder. Die Schwarz-Weiß Fotos beschönigen nichts und dokumentieren die Fremdartigkeit. Sie vermitteln eine düstere und bedrohliche Stimmung. Es gibt kaum ein lachendes Gesicht, stattdessen Ernsthaftigkeit. Es werden Alltagsszenen gezeigt, die den Anschein vermitteln, dass die Fotografierten den Fotografen nicht wahrnehmen (wollen).

Fazit
"Der Fall Ibrahim" ist ein beeindruckendes Buch, das von der Spannung her mit jedem guten Thriller mithalten kann. Es liefert mit seiner Ansammlung von Interviews und den Schwarz-weiß Fotografien leider ein sehr düsteres Bild der türkischen Gesellschaft. 
Der Roman macht fassungslos und zeigt, wie fremd die Türkei uns Europäern ist. Aber eines ist klar. Die von Männern dominierte Gesellschaft, geprägt von Gewalt und Missbrauch, hat herzlich wenig mit den türkischstämmigen Menschen zu tun, die in Deutschand leben. Und das ist gut so.

Leseempfehlung!

© Renie




Über die Autorin:
Gaye Boralıoğlu, 1963 in Istanbul geboren, studierte Philosophie und arbeitete lange Zeit als Journalistin, Werbetexterin und Drehbuchautorin. Unter dem Titel »Hepsi Hikâye« erschien 2001 ihr erster Erzählband gefolgt von ihrem Romandebüt »Meçhul« (2004). Für ihren 2009 veröffentlichten Roman »Aksak Ritim« wurde sie mit dem Literaturpreis Notre Dame de Sion ausgezeichnet, 2013 erschien das Werk unter dem Titel »Der hinkende Rhythmus« im binooki Verlag auf Deutsch. Für den Band »Mübarek Kadınlar« erhielt sie 2015 den Yunus Nadi Preis für Kurzgeschichten, der Band erschien auf Deutsch unter dem Titel »Die Frauen von Istanbul« (Größenwahn Verlag, 2015)