Seiten

Samstag, 29. April 2017

Lucas Grimm: Nach dem Schmerz

Quelle: Pixabay/falco
In zwei Jahren werden wir den 30. Jahrestag der Maueröffnung feiern. Die Machenschaften des ehemaligen DDR-Regimes liegen also schon lange zurück, haben aber immer noch, nach so langer Zeit, große Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen. Von diesen Auswirkungen erzählt der spannend-düstere Thriller "Nach dem Schmerz" von Lucas Grimm.

Die Kindheit der heute 34-jährigen Star-Cellistin Hannah Gold nahm ein brutales Ende, als sie im Alter von 7 Jahren im Keller der russischen Botschaft in Ostberlin aufs grausamste gefoltert wurde. Ihr Vater, Max Gold, musste dabei zusehen. Als hoher DDR-Funktionär war er Geheimnisträger vieler brisanter Informationen über Ost und West. Mit der Gewalt an seiner Tochter versuchte man, bestimmte Geheimnisse aus ihm herauszupressen, die er jedoch nicht Preis geben konnte oder wollte. Hannah kam damals mit dem Leben davon, ihr Vater nach Sibirien, wo er während seiner Gefangenschaft verstarb.

Heute, nach 27 Jahren, ist Hannah zwar eine gefeierte Cellistin, doch aller Ruhm lenkt nicht davon ab, dass sie damals in Berlin massive seelische Schäden erlitten hat, die sie ihr Leben lang begleiten werden. Einige Zeit nach dem entsetzlichen Vorfall stellte man fest, dass sich Hannahs Schmerzempfinden verändert hatte. Sie kann bis heute keine körperlichen Schmerzen empfinden.
"'... Noch vor vier, fünf Jahren habe ich in den Fingerkuppen die Saiten gespürt. Ich habe gespürt, wenn ich über die Windungen geglitten bin. Seitdem wird es immer weniger. Ich fühle die Saiten nicht mehr. Weißt du, was das heißt? Vielleicht ist es egal, wenn man Bläser ist, oder Paukist, aber nicht, wenn man ein Streichinstrument spielt. Das ist wie ein Koch, der seinen Geschmackssinn verliert. Irgendwann werde ich gar nichts mehr fühlen.'" (S. 186)
Quelle: Piper
Hannah versucht, mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen. Denn die Frage, die sie permanent begleitet und nicht zur Ruhe kommen lässt, ist die nach der Schuld ihres Vaters. Konnte er die heiß begehrten Geheimnisse, die der Anlass für ihre Folterei waren, nicht zur Verfügung stellen, weil er sie nicht hatte? Oder wollte er die Informationen nicht zur Verfügung stellen, weil diese ihm wertvoller erschienen als die Gesundheit seiner Tochter?
Sie erhofft sich Antworten auf diese Fragen, indem sie herausfinden will, um welche Geheimnisse es damals ging.

Auch heute noch scheinen diese Informationen einen unermesslichen Wert zu haben. Warum tauchen auf einmal Leute auf, die sich immer noch für diese Informationen interessieren und auch nicht davor zurückschrecken, diese mit aller Gewalt zu erhalten.

Unterstützung erhalten sowohl Hannah als auch ihre Feinde von dem Journalisten David Berkoff, der sich vor einiger Zeit einen Namen als Kriegs- und Enthüllungsreporter gemacht hat, seinen besten Zeiten aber schon lange hinterher rennt. Er ist eher ein abgewrackter Schreiberling als ein strahlender Starreporter, wozu sein Alkohol- und Drogenkonsum einiges beiträgt. So spielt er also ein doppeltes Spiel, das er sich fürstlich entlohnen lassen möchte. Er präsentiert sich Hannah als Retter und Unterstützer in der Not und hofft so, an die wichtigen Informationen zu geraten, für die seine Auftraggeber bereit sind zu töten.
"Aber die meiste Zeit war sein Alkoholpegel hoch genug gewesen, um zu glauben, er sei nicht wirklich bestechlich. Er könnte sich moralisch sauber halten. Wenn der Pegel allerdings, wie jetzt, unter ein Promille fiel, sah er, dass das eine Lüge war." (S. 123)
Hannah und Berkhoff geben eine interessante Paarung ab. Beide sind mit einem labilen Seelenkostüm ausgestattet, beide ecken bei ihren Mitmenschen an, beide sind auf ihren eigenen Willen fixiert und versuchen, diesen ohne Rücksichtnahme auf andere durchzusetzen.

Auffällig ist, dass in Lucas Grimms Thriller kein Charakter dabei ist, auf den man als Leser mit Sympathie reagiert: Hannah hat mit ihrer Schmerzlosigkeit etwas von einem Freak, Berkhoffs unmäßiger Alkoholkonsum ist ekelerregend, sein falsches Spiel gegenüber Hannah liefert auch keine Sympathiepunkte, und seine Auftraggeber nebst Entourage sind die Verkörperung von Skrupellosigkeit und Boshaftigkeit.

Dieser Thriller ist megaspannend. Lucas Grimm beschreibt in seinem Roman einige dunkle Abgründe, in die sich ein Mensch begeben kann. Beim Lesen wird man kein Wohlgefühl empfinden sondern eher Beklemmung und Fassungslosigkeit über die geschilderten Machenschaften. Besonders gelungen sind die Verfolgungsjagden in dieser Geschichte. Verfolgt wird i. d. R. Hannah. Da der Roman u. a. aus ihrer Perspektive geschrieben ist (eine weitere Erzählperspektive ist die von Berghoff), spürt man die Bedrohung, der Hannah ausgesetzt ist, fast schon körperlich. Der Adrenalinpegel steigt daher beim Lesen fast schon ins Unerträgliche an.
"Sie spürte, dass ihre Wut stärker wurde. Wechsel von Moll zurück nach Dur. Irgendeine schwere Tonart. Fis-Dur, weil es mit seinen sieben Kreuzen synästhetisch Wut bedeutet." (S. 34)
Eine Besonderheit dieses Thrillers ist seine Sprache. Denn Lucas Grimm unternimmt - ganz im Sinne seiner Protagonistin - immer wieder sprachliche Ausflüge in die Musik, indem er Stimmungen in Tonarten beschreibt. Dadurch ergibt sich ein faszinierender Kontrast zwischen der Schönheit von Musik und der Hässlichkeit der hier geschilderten menschlichen Abgründe.

Fazit:
Ein sehr gelungener Thriller, der uns Einblick in verstörende seelische Abgründe verschafft und durch seine kontrastreiche Sprache besticht. Der Leser wird unter Hochspannung gesetzt, zum Durchatmen kommt er erst zum Ende des Romans. Leseempfehlung!

© Renie





Über den Autor:
Lucas Grimm ist das Pseudonym eines erfolgreichen Drehbuchautors, der sein Leben jahrelang als Musiker, Schauspieler, Filmemacher und Entrepreneur gefristet hat. Nach einem Schicksalsschlag ist er mehrere Monate durch Amerika, Indien, Tansania und Israel gereist und hat begonnen zu schreiben. 2017 erschien sein erster Roman "Nach dem Schmerz".