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Donnerstag, 9. März 2017

Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate

Quelle: Pixabay/John-Silver
"Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen" - Dieser Ausspruch von Wittgenstein findet man zu Beginn der Novellensammlung "Die Waldsteinsonate" von Hartmut Lange und gibt die Stimmung, die durch seine Erzählungen klingen, perfekt wieder. Es ist ein Buch voller Schwermut und Verzweiflung, gewöhnungsbedürftig und ein Wagnis, denn wer liest schon gerne Geschichten über Unglück und Tod? Doch manchmal muss man als Leser mit seinen Lesegewohnheiten brechen und wird in diesem Fall dafür belohnt.

Der Erzählband umfasst 5 Novellen, deren unglückliche Protagonisten allesamt lebensmüde oder bereits aus dem Leben geschieden sind. Dabei handelt es sich größtenteils um prominente Personen aus der Vergangenheit, die für ihre Schwermut bekannt waren und an ihrem eigenen Bewusstsein gescheitert sind.

"Über die Alpen" führt uns in das Turin des 18. Jahrhunderts. Friedrich Nietzsche streift durch die Gassen. Hartmut Lange lässt Nietzsche in dieser Erzählung langsam in den Wahnsinn gleiten. Der Philosoph wirkt wie ein Getriebener, getrieben von seinem Denken und seinem Genie. Für den Leser ist es zunächst schwierig, sich die Erzählung zueigen zu machen. Denn Nietzsches Wahnsinn klingt in jedem Satz durch. Trotzdem kommt irgendwann der Moment, in dem man die Erzählung einfach nur wirken lässt und sich von der Verzweiflung, die Nietzsche ausstrahlt, vereinnahmen lässt.
"Ja, er erwäge, ob der Wahnsinn nicht der einzig mögliche Weg sei, den Menschen in sich zu überwinden. Er habe versucht, über andere Möglichkeiten nachzudenken, aber mann solle ihm glauben, wenn er sage: Man kann auf dieser Welt kein Mensch unter Menschen sein!" (S. 37)
In "Die Waldsteinsonate" treffen wir auf Magda Goebbels und ihren Mann, am Abend des 1. Mai 1945 im Führerbunker. Der Entschluss, die eigenen Kinder zu töten und anschließend sich selbst das Leben zu nehmen, steht fest. Und doch nagen Zweifel an Magda Goebbels. Sie ist zerrissen zwischen Mutterinstinkten und den daraus resultierenden Schuldgefühlen sowie ihrer Hörigkeit vor der Ideologie des Nationalsozialismus. Ein merkwürdiger Gast befindet sich in Frau Goebbels Gesellschaft: Franz Liszt, der Komponist und Musiker, (gestorben 1886). Liszt, der Virtuose am Klavier, spielt für die Goebbels Beethovens "Waldsteinsonate". Solange er musiziert, wird der Mord an den Kindern aufgeschoben.
Dieses Aufeinandertreffen von Persönlichkeiten, die in unterschiedlichen Zeiten gelebt haben, verschafft dieser Novelle etwas Gespenstisches und Surreales. Liszt scheint die Verkörperung von Magda Goebbels Gewissen zu sein. Man spürt ihre innere Zerrissenheit und ihre Zweifel. Das ist harter Tobak für den Leser. Die eigenen Kinder zu töten, ist einfach unvorstellbar. Die Schuld, die Frau Goebbels dadurch auf sich lädt, ist für den Leser fast körperlich spürbar. Lesen mit einem Kloß im Hals!
Quelle: Diogenes

In der Erzählung "Im November" haben Heinrich von Kleist und die krebskranke Henriette Vogel beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Der Leser begleitet die beiden Protagonisten an den letzten beiden Tagen ihres Lebens. Die beiden vermitteln eine fast schon heitere Stimmung. Der Entschluss ist gefasst, jetzt gilt es zu organisieren. Fast schon generalstabsmäßig bereiten sich die beiden auf den Tod vor.
Diese Erzählung hat etwas Absurdes an sich. Diese Kombination aus Heiterkeit und aus dem Leben scheiden will nicht so recht zusammenpassen und ist schwer zu ertragen. Doch gelingt es Hartmut Lange mit einem sehr feinfühligen Sprachstil ein sehr stimmungsvolles Szenario zu schaffen, so dass man die Geschichte fast genießen kann - so merkwürdig dies auch klingen mag.
"'Ach', dachte er, 'was ist dies für eine Welt! Wie kann ein edles Wesen, ein denkendes und empfindendes wie der Mensch, hier glücklich sein! Wie kann er es nur wollen, hier, wo alles mit dem Tode endigt! Wir begegnen uns, drei Frühlinge lieben wir uns, und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander!'" (S. 77)
In "Seidel" verbringt der Nihilist Alfred Seidel die letzten Tage seines Lebens in der Psychiatrie. Die Novelle wird aus seiner Sicht erzählt. Er wird wegen Depressionen behandelt, sein Selbstmord ist beschlossene Sache. Daher trifft er entsprechende Vorkehrungen, um ungehindert aus dem Leben scheiden zu können. Seidel erscheint deplatziert inmitten der anderen Patienten. Sein Wahnsinn ist subtil. Man merkt ihm seine Gefühlslage nicht an. Er fühlt sich den anderen Patienten gegenüber überlegen. Nur der Leser weiß, dass Seidel sich am Ende umbringen wird.

Die ungewöhnlichste Erzählung ist mit Sicherheit die letzte in diesem Buch: "Die Heiterkeit des Todes"
Da trifft ein Ich-Erzähler bei einem Spaziergang am See auf 2 Personen, die vor einiger Zeit gewaltsam aus dem Leben geschieden sind. Sie ist Jüdin, erschossen im Konzentrationslager; er ist SS-Offizier und ihr Mörder. Der Ich-Erzähler, genau wie der Leser, begegnet der Beziehung der beiden mit Unverständnis. Denn entgegen jeder Vernunft und Logik sind die beiden ein Paar, sozusagen im Tod vereint. Was bringt die Jüdin dazu, ihrem Mörder post mortem zu verzeihen? Die Antwort auf diese Frage wird den Leser ordentlich beschäftigen.
"' ... Und wann, mein Herr, wenn nicht im Tod, soll die Schuld, die wir am Leben haben, endlich einmal beglichen sein?'" (S. 117)
Hartmut Langes Erzählungen haben eine große Faszination auf mich ausgeübt, an der sein Sprachstil einen großen Anteil hatte. Hartmut Lange ist ein Stimmungsmacher. Er versetzt den Leser in Stimmungen, die von Traurigkeit bis hin zu melancholischer Heiterkeit reichen. In dem überaus interessanten Nachwort zu diesem Buch erfahren wir, dass Hartmut Lange insbesondere in seiner Kindheit und Jugend sein Kreuz zu tragen hatte. Angst, Verzweiflung und Wahnsinn sind ihm demnach nicht fremd. Diese Erfahrung merkt man seiner Ausdrucksweise an, die sehr überlegt, bedächtig und lebenserfahren wirkt.

Seine Sprache ist der jeweiligen Zeit, in der seine Erzählungen stattfinden, angepasst. So finden sich häufig Begriffe, die man mit großer Verwunderung liest. Diese Ausdrücke werden heute nicht mehr oder nur noch sehr selten verwendet. Die vorliegenden Erzählungen sind erstmalig 1984 veröffentlicht worden. Doch Langes Novellen wirken älter als sie sind. Man neigt dazu, zu vergessen, dass diese Novellen der Gegenwartsliteratur zuzuordnen sind. Hätte mir jemand dieses Buch als Klassiker aus einem weiter zurückliegenden Jahrhundert angepriesen, hätte ich ihm dies glatt abgenommen.

Fazit:
Die ist kein Buch für Leser, die zu Schwermut neigen. Die Verzweiflung und das Unglück seiner Protagonisten überträgt sich auf den Leser. Trotzdem versteht Hartmut Lange mit seinen Geschichten zu faszinieren, was größtenteils seinem Sprachstil geschuldet ist. Die Geschichten werden mich noch lange beschäftigen.

© Renie






Über den Autor:
Hartmut Lange, geboren 1937 in Berlin-Spandau, studierte an der Filmhochschule Babelsberg Dramaturgie. 1960 erhielt er eine Anstellung als Dramaturg am Deutschen Theater in Ostberlin. Von einer Reise nach Jugoslawien kehrte er nicht in die DDR zurück. Er ging nach Westberlin, arbeitete für die Schaubühne am Halleschen Ufer, für die Berliner Staatsbühnen und am Schiller- und am Schlosspark-Theater. Hartmut Lange wurde für seine Dramen, Essays und Prosa vielfach mit Preisen ausgezeichnet. (Quelle: Diogenes)