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Dienstag, 3. November 2020

Charles Lewinsky: Der Halbbart

Mittlerweile kann ich mich blind darauf verlassen, dass mir ein Roman gefallen wird, sobald das Prädikat "Lewinsky" auf dem Buchcover zu finden ist. "Lewinsky" steht für mich für literarische Überraschungen. Denn selten bin ich darauf vorbereitet, was mich in einem Buch des Autors Charles Lewinsky erwarten wird. Ob er nun die Geschichte eines berühmten Schauspielers erzählt oder eines kriminellen Stotterers oder einer Familie über mehrere Generationen, ob er eine Biografie, einen Krimi oder ein Kinderbuch schreibt, ich bin jedes Mal aufs Neue verblüfft, was der Autor aus einem Thema macht - so auch dieses Mal bei seinem aktuellen Roman "Der Halbbart".
"Der Halbbart" ist ein Roman, der auf einem historischen Ereignis basiert: der Marchenstreit zwischen dem Schweizer Kloster Einsiedeln und dem Ort Schwyz im 13./14. Jahrhundert. Hierbei ging es um Besitzrechte an den Ländereien in dieser Gegend. 

Charles Lewinsky hat sich also diesmal ein unpopuläres historisches Thema vorgenommen, denn welcher Nicht-Schweizer kennt sich schon mit der Schweizer Geschichte zur Zeit des späten Mittelalters aus. Der Freiheitskämpfer Wilhelm Tell, der zur selben Zeit gelebt hat, mag vielen noch ein Begriff sein. Aber "Marchenstreit"? (s. Wikipedia)
Daher war ich doch sehr gespannt, wie der Autor an dieses Thema herangeht, und vor allem, was er daraus macht.
Quelle: Diogenes

Der erzählende Protagonist dieses Romans ist Eusebius, Sebi genannt, ein 13-jähriger Zeitzeuge, der mit seiner Familie in Schwyz gelebt hat.

"'Die Menschheit ist wie ein Körper', hat er mir erklärt, 'Die Geistlichkeit ist der Kopf, der alles lenkt, die Ritter sind die Arme, die es zum Kämpfen braucht, und die Bauern sind die stinkigen Füße und müssen die anderen tragen.'"

Dieser Sebi ist ein herzerfrischender Charakter. Er hat eine blühende Fantasie, ist ein cleveres Kerlchen und ein aufmerksamer Beobachter. Doch in einem Dorf, dessen Leben von Ackerbau bestimmt und eher Muskelkraft als Klugheit benötigt wird, sind Sebis Fähigkeiten kaum gefragt. Daher wird er leider selten für voll genommen. Einer der wenigen, die ihn ernst nehmen, ist der geheimnisvolle Halbbart. 

Eines Tages taucht dieser Halbbart in Sebis Dorf auf und lässt sich hier nieder. Keiner weiß, woher er gekommen ist, keiner weiß, was ihm Schreckliches widerfahren ist. Denn dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist, ist deutlich sichtbar. Das Gesicht des Halbart ist durch große Brandnarben verunstaltet. Die Dörfler sind zunächst misstrauisch gegenüber dem unheimlichen Fremden. Einzig der Sebi freundet sich mit dem Halbbart an. Nach und nach erfährt er dessen Geschichte. Auch die Dorfbewohner gewöhnen sich langsam an den Fremden, und er wird zu einem festen Bestandteil der Dorfgemeinschaft, was nicht zuletzt an seinem Wissen über Kräuterkunde und Heilmethoden liegt. 
"Es ist etwas Eigenes mit dem Halbbart: Die Menschen werden entweder ganz schnell seine Freunde, oder sie mögen ihn überhaupt nicht."
Der Titel dieses Romans verleitet natürlich dazu, die Geschichte des Halbbart in den Mittelpunkt zu rücken. Doch dem ist nicht so. Tatsächlich entwickelt sich dieser Charakter zu einem Nebendarsteller, der anfangs größeren Einfluss auf die Handlung hat als zum Ende hin. Der Halbbart ist der väterliche Freund des Protagonisten Sebi und prägt dessen Entwicklung.
Unser Sebi reift in diesem Roman. Vom anfänglichen Lausbuben, der träumerisch durchs Leben geht, entwickelt er sich in kurzer Zeit zu einem jungen Menschen, der weiß, was er will und der vernünftiger erscheint als manch einer, der mehr Lebenserfahrung besitzt als er. Wodurch sich Sebi jedoch immer auszeichnet, ist sein Mitgefühl und sein gesunder Menschenverstand. Diese beiden Eigenschaften unterscheiden ihn deutlich von den Meisten der Charaktere in diesem Buch. Man sollte meinen, dass der Sebi zu gut für die Welt ist - zumindest für die Welt des Jahres 1313, indem die Handlung dieses Romans stattfindet.

Sebi muss lernen, dass scheinbar jeder Mensch eine dunkle Seele in sich birgt, die sich selten unterdrücken lässt. Diese Erkenntnis trägt dazu bei, dass Sebi seine Naivität und Gutgläubigkeit im Umgang mit den Menschen um ihn herum langsam  verliert.
"'... Man meint bei vielen Sachen, sie könnten nicht anders sein, als sie sind, so wie die Sonne aufgeht und wieder unter oder der Mond voll wird und wieder leer. Aber was zwischen den Menschen passiert, das hat nicht der Himmel gemacht, sondern wir selber, und manchmal könnte man glauben, es sei der Teufel gewesen. ...'"
In diesem Roman spielen Kirche und Religion eine große Rolle. Der Einfluss der Kirche auf das damalige Leben war unermesslich, wobei die Kirche weniger als geistlicher Beistand anzusehen war, denn als Großgrundbesitzer. Denn der Kirche gehörten große Teile der Ländereien, die von der Bevölkerung bewirtschaftet wurde, inklusive der Wälder. Und wie es sich für Großgrundbesitzer gehört, lebten die Klerikalen in besseren Verhältnissen als der Rest der Bevölkerung, was natürlich zu Unzufriedenheit führte. Losgelöst von der Vorherrschaft der Kirchen waren die Menschen streng religiös. Glaube und Aberglaube bestimmte deren Alltag. Jede Lebenslage hatte ihren Heiligen, an dessen Wundertaten voller Ehrfurcht geglaubt wurde.

Genauso wie der Halbbart wird auch der Marchenstreit in den Hintergrund dieser Geschichte treten. Dieser Konflikt gibt zwar immer noch den Rahmen für die Handlung vor. Dennoch werden die Menschen dieser Gegend, mit all ihren Tugenden und Lastern, im Mittelpunkt stehen. Der Sebi wird uns viele bunte Geschichten über seine Zeitgenossen erzählen, die diesen Roman zu einem großen Vergnügen machen.
"Geschichten ausdenken ist wie lügen, aber auf eine schöne Art."
Der Sprachstil in diesem Roman ist auf die damalige Zeit, seinem jugendlichen Ich-Erzähler aus einfachen Verhältnissen sowie dem Schauplatz angepasst. Wir befinden uns im dunklen Mittelalter. Demenstprechend düster erscheint die Stimmung in dieser Geschichte, wird aber immer wieder von der herzerfrischend jugendlichen Erzählweise des Sebi aufgelockert. 

In der Sprache dieses Romans finden sich viele Begriffe aus dem Schweizerdeutschen. Diese sind wie selbstverständlich in die Geschichte  integriert. Anfangs mag das befremdlich erscheinen, doch schnell wird man feststellen, dass sich das Verständnis dieser Ausdrücke aus dem Zusammenhang ergibt. (Und wer es genau wissen will, kann in einem Glossar auf der Diogenes Seite nachschlagen). Sebi ist ein Junge aus einfachen Verhältnissen, der weder lesen noch schreiben kann. Er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, inklusive freizügiger Grammatik und simpler Wortwahl. Doch gerade diese simple Ausdrucksweise in Kombination mit dem Schweizerdeutsch erhöht die Glaubwürdigkeit des Sprachstils. Man nimmt dem Autor das Mittelalter ab. 

Mein Fazit:
Auf das Prädikat "Lewinsky" kann man sich blind verlassen. Denn Erzählkünstler Charles Lewinsky ist mit "Der Halbbart" zur Höchstform aufgelaufen und hat aus einem unpopulären historischen Thema ein schillerndes literarisches Kunstwerk gemacht. 
Ich bin restlos begeistert von diesem Roman!

Leseempfehlung!

© Renie