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Freitag, 28. August 2020

Clemens Berger: Der Präsident

Quelle: DonkeyHotey - Donald Reagan, CC BY-SA 2.0 
Vom Tellerwäscher zum Millionär ...
Vom Schauspieler zum US-Präsidenten ...
Vom Polizisten zum Double des  US-Präsidenten ...

In Clemens Bergers satirischem Roman "Der Präsident" geht es um den amerikanischen Traum. Ich kenne zwar keinen Tellerwäscher, der es zum Millionär gebracht hat. Doch ich kenne einen Schauspieler, der es zum US-Präsidenten gebracht hat: Ronald Reagan. Und wie so viele Promis, hatte Mr. President ein Double: Julius Koch aus Österreich, der als Kind mit seiner Familie in die USA auswanderte. Clemens Berger erzählt die Geschichte dieses Mannes, der in diesem  Roman den Namen Jay Immer trägt.
Jay Immer lebte den amerikanischen Traum. Nach der Auswanderung in die USA im Jahre 1929 baute sich die Familie mit Anstand, Fleiß und Bescheidenheit ein Leben auf. Jay ist Polizist und wurde Amerikaner durch und durch. Er hat eine eigene Familie gegründet und lebt mit Ehefrau Lucy in einem Häuschen in Chicago. Tochter Barbara ist mittlerweile bereits erwachsen. Nun steht er mit 55 Jahren kurz vor der Pensionierung und freut sich auf den Ruhestand. Doch das kann nicht alles gewesen sein. Denn das Leben hält für Jay noch eine Überraschung bereit. Da Jay dem amtierenden Präsidenten Ronald Reagan verblüffend ähnlich sieht, wird er bei einer Agentur als Präsidenten-Double unter Vertrag genommen. Wäre Lucy nicht gewesen, die Jays Bewerbung ohne sein Wissen an die Agentur geschickt hat, würde er vermutlich einem unaufgeregten Ruhestand entgegensehen. Doch nichts ist mit der Ruhe.
"Er eröffnete Automessen, pries neue Gesichtscremes an und ließ sich mit Menschen ablichten, die bis zu hundert Dollar ausgaben, um sich in eine lange Schlange für ein Foto mit jenem Mann einzureihen, den man unter anderen Umständen für Ronald Reagan gehalten hätte. Lokalpolitiker ließen sich die Fotos rahmen, Unternehmer hängten sie an ihre Bürowände, Menschen trieb es Tränen in die Augen, wenn er ihnen zuwinkte."
In seiner Funktion als "der andere Präsident" tingelt er während Reagans Amtszeit von Engagement zu Engagement und vertritt seinen Doppelgänger: Geschäftseröffnungen, Hot Dog Wettessen, Firmenfeiern, Fototermine etc. etc. etc. Der Job ist lukrativ und ermöglicht Lucy und ihm ein Leben in bescheidenem Luxus. Doch etwas geschieht mit Jay. Hat ihn anfangs noch die Ähnlichkeit mit Reagan gestört, schlüpft er mit der Zeit immer mehr in die Rolle des US-Präsidenten. In seinem persönlichen Sprachgebrauch wird sein Häuschen in Chicago zum Weißen Haus, Lucy ist die First Lady (wenn auch die andere). Er kleidet sich für einen Präsidenten angemessen und genießt die Vergünstigungen, die das vermeintliche Präsidentenamt mit sich bringt. Jay wird überall erkannt, ob als der Echte oder der Andere lässt sich im Verlauf der Handlung nicht mehr bestimmen. Die Menschen sehen, was sie sehen wollen. Sein Alltag ist vom Händeschütteln, Schulterklopfen, Lächeln und dem Posieren vor der Kamera geprägt.
Politische Gruppierungen, Menschenrechtler, Umweltaktivisten ... alle versuchen, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Anfangs gelingt es Jay, sich gegen diese Versuche zu behaupten. Doch mit der Zeit entwickelt er, der sein Leben lang völlig unpolitisch war, ein politisches Gewissen. Reagan ist daran nicht unschuldig. Denn während seiner 2 Amtszeiten hat er reichlich umstrittene Entscheidungen getroffen, die bei seinem Double, je länger dieses den anderen Präsidenten spielt, für Unwillen sorgt. Jay sieht sich in der moralischen Pflicht, die eine oder andere Korrektur vorzunehmen.
"Jay kannte kaum jemanden, der an etwas glaubte und danach handelte. Reagan glaubte nur an sein Bild in den Medien. Er hatte den Menschen Gefühle verkauft. Die strahlende Stadt auf dem Hügel; ein neuer Morgen für Amerika. Aber er betrieb eine Politik gegen die Menschen, gegen den Planeten und für ein paar steinreiche Unternehmer."
Der österreichische Autor Clemens Berger hat Jays Entwicklung vom aufrechten amerikanischen Staatsbürger, der nie im Mittelpunkt stehen wollte, zum "anderen Präsidenten" sehr detailliert herausgearbeitet. Anfangs haben wir es mit einem Protagonisten zu tun, dem etwas Spießiges anhaftet, dem die Pfege seines Gartens und seines Autos extrem wichtig sind. Ein Mann, zu dem der Beruf des Polizisten perfekt passt. Er ist der Hüter von Sitte, Moral und Anstand. Werte wie Fleiß und Bescheidenheit bestimmten sein bisheriges Leben. Bloß nicht negativ auffallen, am besten gar nicht auffallen. Er hätte sich nie zugetraut, die Rolle des Ronald Reagan zu leben, wenn seine Ehefrau ihn nicht zu seinem "Glück" gezwungen hätte. Anfangs versteckt er sich noch hinter der Rolle des händeschüttelnden Staatsmannes. Doch je mehr positives Feedback er erhält, umso besser fühlt er sich in dieser Rolle aufgehoben. Er wird selbstbewusst und mutig, entwickelt ein eigenes politisches Gewissen (mit freundlicher und berechnender Unterstützung anderer) und ist bemüht, für seine Überzeugungen einzustehen. 
Clemens Berger betrachtet in diesem Roman die Amtszeit von Ronald Reagan. Er hält sich dabei an die historischen Fakten und gewährt dem Leser einen Auffrischungskurs in Sachen amerikanischer Geschichte und den Einfluss der Reagan-Ära auf das Weltgeschehen. Dabei zieht Berger den amerikanischen Way of Life durch den Kakao. Das gelingt ihm, indem er seinen österreichisch stämmigen Protagonisten amerikanischer als jeden Amerikaner wirken lässt. Jays Handlungen wirken teilweise völlig überzogen, so dass dem Leser in diesem Roman ganz viel Situationskomik begegnet. 
"Vor allem kannte er seine Landsleute. Sie liebten die Show. Sie liebten Berühmtheiten. Sie liebten den Schein. Und doch hatten nicht wenige, selbst wenn er den Mund gehalten hatte, den Schein für Wirklichkeit gehalten. Sie waren nach Hause gekommen und hatten Freunden und Familien erzählt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten begegnet zu sein."
Ich habe diesen satirischen Roman, der auf einer wahren Geschichte basiert, mit großem Vergnügen gelesen. Denn hier wird die Oberflächlichkeit der amerikanischen Gesellschaft sowie ihr Streben nach Schein und Sein auf sehr lustige Weise angeprangert. Ungewöhnlich ist dabei der Protagonist, der aufgrund eines kuriosen Zufalls in die Rolle seines Lebens gedrängt wird und dabei versucht, nach seinen eigenen Regeln zu spielen, was ihm am Ende mehr oder weniger gelingt.  

Leseempfehlung!


© Renie