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"Ein Teil der Dinge, die ich hier preisgebe, ist mir tatsächlich passiert.
Bei einem anderen Teil habe ich Todesangst, dass sie mir passieren könnten.
Für einen weiteren Teil hoffe ich inständig, dass sie mir passieren werden."
Die ist ein Auszug aus Eshkol Nevos Roman "Die Wahrheit ist", in welchem sich der Autor in einem Online Interview den Fragen seiner Leserschaft stellt.
Ein derartiges Interview kann für den Einen eine Herausforderung sein und für den Anderen eine Zumutung. Der Eine ist in diesem Fall der Leser, Blogger, Journalist o. ä., der krampfhaft auf der Suche nach der ultimativen Frage ist, die diesem Autor noch nie zuvor gestellt wurde; der Andere ist Eshkol Nevo, für den es scheinbar keine Frage gibt, die ihm noch nicht gestellt wurde, und die er nicht bereits schon unzählige Male beantwortet hat.
Dennoch widmet sich der Autor mit einer Engelsgeduld der Beantwortung dieser Fragen, leidet er doch seit geraumer Zeit an einer Schreibblockade, und irgendetwas muss ein Schriftsteller schreiben - Schreiben ist schließlich sein Beruf. Er lässt sich Zeit mit der Beantwortung der Fragen, hangelt sich von Fragestellung zu Fragestellung. Seine Antworten sind selten präzise. In der Regel schweift er ab, nimmt die Fragen zum Anlass, seine Gedanken wandern zu lassen, erinnert sich an Menschen und Episoden seines Lebens, die ihn zu demjenigen gemacht haben, der er heute ist: Ehemann, Vater, Schriftsteller, Israeli, bester Freund.
Quelle: dtv |
"Dabei sollte ich dieses Jahr eigentlich einen Roman verfassen. Und schreibe stattdessen Antworten für dieses Interview hier, das auf 'einer Auswahl von Fragen unserer User' basiert, die mir irgendein Onlineredakteur übermittelt hat. Ich hätte auf diese Fragen die üblichen, vorgefertigten Antworten geben sollen - aber stattdessen habe ich angefangen, ehrlich zu antworten. Und was bloß ein Interview und nicht mehr hätte werden sollen, gerät nach und nach - denn offenbar kann ich nicht anders - zu einer Geschichte."
Der Autor antwortet ehrlich? Tatsächlich kann man sich nie sicher sein, ob Eshkol Nevos Gedanken und Erinnerungen der Wahrheit entsprechen. Behauptet er an dieser Stelle, seine Antworten seien ehrlich, weist er jedoch an anderen Stellen darauf hin, dass das, was er erzählt, nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, eventuell aber entsprechen könnte.
Ja, was denn jetzt?
Mit diesem Roman präsentiert er sich als ein verletzlicher und an sich selbst zweifelnder Schriftsteller - wenn es denn wahr ist, was er schreibt. Seine Gedanken und Geschichten leuchten den Menschen Eshkol Nevo bis in den letzten Winkel seiner Seele aus. Doch indem er die Möglichkeit offen lässt, dass seine sehr persönlichen Geschichten seiner Fantasie entsprungen sind, schafft er doch noch einen Schutzwall zwischen seinem Innersten und seiner Leserschaft.
Tatsächlich gibt es Geschichten in diesem Buch, von denen man sich wünscht, dass sie wahr wären. Das kann der beste Freund Ari sein. Hier schildert Nevo eine Freundschaft zwischen zwei Männern, die völlig unterschiedlich sind, aber dennoch Seelenverwandte und im Leben durch Dick und Dünn gegangen sind. Diese Freundschaft ist so intensiv und besonders und wird mit soviel Liebe geschildert, dass man nicht glauben will, dass diese Beziehung nicht der Wahrheit entspricht.
Genauso wie die Liebe des Autors zu seiner Frau Dikla. Die Ehe der beiden ist ein zentrales Thema dieses Romans. Leider steht diese Verbindung auf dem Prüfstand, und der Autor versucht alles, um seine Ehe zu retten.
"Ein intimes Gespräch mit einem dir wirklich nahen Menschen ist in meinen Augen eines der beiden größten Vergnügen, die das Leben zu bieten hat. Aber damit ein solches Gespräch möglich wird, braucht es einen Partner, der es sowohl versteht zuzuhören als auch aus sich herauszugehen; der gleichermaßen ehrlich wie nicht zimperlich ist, der weder vorhersehbar noch bedrohlich ist. Und natürlich braucht es Zeit; beide Seiten müssen genügend Zeit haben, sich in etwas zu vertiefen. Und einen Ort. Der all das ermöglicht. Kurzum, wir reden hier von nicht weniger als einem offensichtlichen Wunder, das nur sehr selten geschieht."
Was auch immer in diesem Buch der Wahrheit entspricht .... eigentlich spielt es keine Rolle. Denn der Wahrheitsgehalt hat keinen Einfluss auf die Qualität dieses Romans. Eshkol Nevo wird wohl der Schalk im Nacken gesessen haben, als er die Fragen seiner Leserschaft auf seine ganz spezielle Art beantwortet hat und sich daraus ein Roman entwickelt hat, der seine Lebensgeschichte erzählt - oder auch nicht erzählt. Der Autor nimmt sich die Freiheit und veräppelt seine Leserschaft mehr oder weniger offensichtlich, aber immer auf sehr charmante Art. Und als Leser lässt man sich sehr gern veräppeln, wird man doch dafür mit einem sehr vielschichtigen und liebevoll erzählten Roman belohnt.
Leseempfehlung!
© Renie