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Samstag, 23. Mai 2020

Jeremy Tiang: Das Gewicht der Zeit


Quelle: Pixabay/Engin_Akyurt

Malaysia - ein Land von faszinierender Vielfalt, so zumindest wird dieser kleine Staat in Südostasien auf der offiziellen Tourismus Website des Landes angepriesen. Doch wie überall auf dieser Welt gilt auch hier: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Diesen Eindruck von Malaysia vermittelt der Roman "Das Gewicht der Zeit" von Jeremy Tiang. Der Autor ist in Singapur geboren und lebt in den USA.
In seinem Roman geht es um die Geschichte Malaysias und Singapur von den 50er Jahren bis in die Gegenwart.
Wir lernen ein geheimnisvolles Land kennen, das bis zur eigenen Unabhängigkeit im Jahre 1957 politischer Spielball diverser Länder war, u. a. Großbritannien, China, Japan, Indonesien, Thailand. Während eines in der Historie kurzen Zeitraums von nicht einmal 150 Jahren, haben diese Staaten vergeblich versucht, sich Malaysia zueigen zu machen. Die langjährige Präsenz dieser Länder und ihre Eigenheiten haben Spuren hinterlassen. Die Bevölkerung Malaysias setzt sich aus einem bunten Völkergemisch zusammen.
Malaysia gilt heutzutage ökonomisch und politisch als eines der stabilsten Länder Südostasiens. Doch das war nicht immer so.
Quelle: Residenz Verlag
"Was für einen Wert hatte Demokratie, wenn man nur zwischen mehr oder weniger schlechten Möglichkeiten wählen konnte?"
Jeremy Tiang erzählt die Geschichte von Malaysia am Beispiel von 6 Personen, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist.  Er konzentriert sich dabei auf die Zeit zwischen den 50er und 90er Jahren. Auf den ersten Blick scheinen nur wenige dieser Protagonisten einen Bezug zueinander zu haben:
Jason: Vater und verlassener Ehemann, mittlerweile 76 Jahre; die Handlung um Jason spielt im Singapur der heutigen Zeit
Siew Li: Mutter und kommunistische Widerstandskämpferin; die Handlung um Siew Li spielt in den 50er Jahren
Nam Teck: Sohn, Automechaniker und Widerstandskämfer in den 60er Jahren
Revathi: Journalistin aus London mit malayischen Wurzeln, die sich in den 70er Jahren auf Recherchereise nach Malaysia begibt, um über ein Verbrechen an der Menschlichkeit aus dem Jahre 1948 zu recherchieren
Stella: Tochter, Cousine und Lehrerin, die in den 70er Jahren in Malaysia zu Unrecht inhaftiert ist
Henry: Sohn, Schriftsteller, Bruder und Freund, der in den 90er Jahren aus familiären Gründen nach Singapur reist
"Die Hitze war wie ein Schaufelschlag ins Gesicht, ein stumpfer Gegenstand, der auf ihren Körper einprügelte. Die Erinnerung kam zurück. Sie wappnete sich gegen die Temperatur, aber die feuchtigkeitgesättigte Luft erwies sich als unerwartet aggressiv .... Doch die Einheimischen schienen ungerührt, vermieden jede schnelle oder überflüssige Bewegung, gingen ihrem Alltag nach, als wäre dieses Land nicht ein einziger Backofen."
Wenn man in die einzelnen Handlungsstränge eintaucht, rätselt man, welche Verbindungen es zwischen den Charakteren gibt. Denn diese Verbindungen existieren. Nicht alle Protagonisten sind miteinander verwandt. Das wäre zu einfach. Und es ist meist nicht das Offensichtliche, das diese Charaktere miteinander verbindet. Daher steckt dieser Roman voller Überraschungen.
Gleichzeitig konzentriert sich der Autor auf die Geschichte des Landes und stellt die chaotischen politischen Entwicklungen dar, mit denen Malaysia und seine Einwohner zu kämpfen hatten. Dabei bekommt man den geschichtlichen Hintergrund nicht auf dem Silbertablett serviert. Denn Jeremy Tiang setzt beim Leser einiges an Hintergrundwissen voraus. Das macht er allerdings in einer Art und Weise, die nicht fordernd ist, sondern eher die Neugierde des Lesers anregt. Man will wissen, wer gegen wen und warum gekämpft hat, und wodurch Feindschaften, die einem in diesem Buch begegnen, entstanden sind. Die Geschichte Malaysias lässt einen also nicht los. Wissenslücken wollen geschlossen werden. Und wer kennt sich schon in der nötigen Tiefe mit der Geschichte Malaysias aus? Da hilft nur eins: Google und Wikipedia. Aber man sucht sich gern diese Hilfestellungen. Denn die Geschichten der Protagonisten sind einfach zu faszinierend, als dass man sie nicht in den politischen und historischen Kontext Malaysias einbinden möchte.
Dabei bedient sich Jeremy Tiang einer Sprache, die den Leser durch ihre Lebhaftigkeit durch das Buch eilen lässt. Die unterschiedlichen Schicksale und Geschichten der einzelnen Protagonisten gehen zunahe und verdeutlichen, wie sehr das Leben eines Einzelnen von der Willkür politischer Gruppierungen abhängig ist.
"Das ist der Vorteil des Älterwerdens: angesichts der Summe der erlittenen Verwundungen erscheint die einzelne Verletzung weniger bedeutend."
Fazit:
Ein fesselnder Malaysia-Roman, der nicht nur als Familienroman betrachtet werden darf, sondern gleichzeitig als historischer und politischer Roman. Die Geschichten und Schicksale der einzelnen Charaktere fügen sich zu einem bunt schillernden Gesamtbild zusammen. Am Ende des Romans bleibt folgender Eindruck: Malaysia scheint tatsächlich ein Land von faszinierender Vielfalt zu sein.

© Renie