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Donnerstag, 28. Mai 2020

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich

Quelle: Pixabay
In dem Roman "Für eine kurze Zeit waren wir glücklich" von William Kent Krueger tritt der Tod im Jahre 1961 in dem kleinen amerikanischen Städtchen New Bremen urplötzlich und ungewöhnlich häufig auf: als Mord, als Selbstmord, als Unfall.
Unmittelbar betroffen von den Todesfällen sind die beiden Brüder Frank Drum (13 Jahre, Ich-Erzähler) und sein jüngerer Bruder Jake. Ein bisschen viel Tod für Jungs in diesem Alter. Obwohl gerade diese beiden mit dem Tod häufiger in Berührung kommen. Denn ihr Vater, Nathan, ist der Pastor in diesem Ort. Dennoch sind sie nicht vorbereitet auf das, was die Kette an Todesfällen mit sich bringt. Ihre Welt in New Bremen ist auf einmal alles andere als in Ordnung.

Die Umstände dieser Todesfälle sind mehr als fragwürdig. Und wie das nun mal so ist, wenn Erwachsene und Kinder zusammenleben, wollen die Erwachsenen die Kinder vor den bösen Dingen in dieser Welt schützen. Aus falscher Rücksichtnahme halten sie sich den Jungs gegenüber bedeckt und möchten keine Informationen Preis geben. Doch sie haben die Rechnung ohne Frank gemacht. Er sucht nach Wahrheiten.
Quelle: Piper

"Die Stadt war mir fremd geworden, bei Nacht wirkte sie besonders bedrohlich, und ich radelte mit dem Gefühl durch die menschenleeren Straßen, dass überall ringsum Gefahr lauerte. Die unbeleuchteten Fenster waren wie dunkle Augen, die mich beobachteten. In den Schatten, die das Mondlicht warf, lauerte Schreckliches."
Frank lebt mit seiner Familie seit ca. 5 Jahren in New Bremen. In den letzten Jahren sind sie häufig umgezogen, je nach dem, für welche Gemeinde Vater Nathan zuständig  war. New Bremen liegt den Jungs am Herzen. Nicht zuletzt, weil ihre Mutter hier aufgewachsen ist und die Großeltern hier leben. Die beiden Jungs haben noch eine ältere Schwester, Ariel, die in Kürze aufs College gehen wird. Ariel hat das musikalische Talent ihrer Mutter geerbt. Sie setzt sogar noch einen drauf. Während die Mutter den örtlichen Kirchenchor leitet und für die Kirchenmusik zuständig ist, ist Ariel zu Höherem fähig. Man sagt ihr eine große Karriere als Musikerin und Komponistin voraus.
Die Kinder werden eng im christlichen Glauben erzogen. Der Beruf des Vaters dominiert das Familienleben. Doch Ruth, die Mutter, zweifelt. Sie ist nun mal die Frau des Pastors. Diese Rolle zwingt sie notgedrungen, sich dem Gemeindeleben zu widmen. Ich-Erzähler Frank beginnt ebenfalls zu zweifeln, als ein fürchterlicher Schicksalsschlag die Familie ereilt.
"Wird ein Verlust zur Tatsache, dann ist er wie ein Stein, den man in der Hand hält. Er hat Gewicht, Umfang, Konsistenz. Er ist fassbar, man kann ihn einschätzen, mit ihm umgehen. Man kann sich damit geißeln oder ihn wegwerfen."
Mit "Für eine kurze Zeit waren wir glücklich" hat der Amerikaner William Kent Krueger einen sehr vielschichtigen Roman gezaubert.
Es gibt viele unterschiedliche Aspekte dieses Romans, die unbedingt erwähnt werden sollten:
- Das Leben der Familie Drum unter dem Einfluss des Glaubens
Der Glauben der Familie wird auf eine harte Probe gestellt. Jedes einzelne Familienmitglied sieht sich angesichts der Todesfälle mit der Frage konfrontiert, ob es einen Gott gibt.
- New Bremen: Ein Ort mit Geschichte: 
Einige der Einwohner stammen von Indianern ab, gegen die vor zig Jahren Krieg geführt wurde. Die Vorbehalte der weißen Bevölkerung gegenüber ihren indianischen Mitbewohnern sind immer noch groß. Dementsprechend ist man schnell dabei, wenn es darum geht, die Schuld an den Todesfällen den Indianern zuzuschreiben.
- Die Nachwirkungen des 2. Weltkrieges
Viele der Männer New Bremens waren im Krieg; unter den seelischen Folgen haben viele heute noch in unterschiedlicher Ausprägung zu leiden: einige trinken, einige sind gewalttätig, einige wenden sich der Religion zu
- Familienzusammenhalt und Geschwisterliebe:
Der Alltag der Drums läuft unbeschwert ab, der Umgang der Familienmitglieder ist ein sehr liebevoller. Der Zusammenhalt ist extrem, wird aber brüchig als ein Schicksalsschlag  die Familie ereilt. Nicht nur der Glauben an Gott wird auf die Probe gestellt, sondern auch der Glauben an die Familie. Einzig die beiden Jungs schaffen es, aneinander festzuhalten. Sie sind sich mehr Freunde als Brüder. Und diese Freundschaft hält sie aufrecht.
- Ein literarischer Krimi
Kein Zweifel, dieser Roman ist ein literarischer Krimi. Bis zum Schluss bleibt offen, wer für die Kette der Todesfälle verantwortlich ist. Dabei werden im Verlauf der Handlung Geheimnisse aufgedeckt, die die Moral in New Bremen in Frage stellen. William Kent Krueger hat sich bisher als Krimi-Autor einen Namen gemacht. Mit "Für eine kurze Zeit waren wir glücklich" hat er sich ein neues Genre vorgenommen. Dennoch merkt man diesem Buch die schriftstellerische Vergangenheit des Autors an. Und das ist gut so. Denn "Für eine kurze Zeit waren wir glücklich" ist eine brillante Mischung aus fesselndem Krimi und anspruchsvoller Gegenwartsliteratur.

Samstag, 23. Mai 2020

Jeremy Tiang: Das Gewicht der Zeit


Quelle: Pixabay/Engin_Akyurt

Malaysia - ein Land von faszinierender Vielfalt, so zumindest wird dieser kleine Staat in Südostasien auf der offiziellen Tourismus Website des Landes angepriesen. Doch wie überall auf dieser Welt gilt auch hier: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Diesen Eindruck von Malaysia vermittelt der Roman "Das Gewicht der Zeit" von Jeremy Tiang. Der Autor ist in Singapur geboren und lebt in den USA.
In seinem Roman geht es um die Geschichte Malaysias und Singapur von den 50er Jahren bis in die Gegenwart.
Wir lernen ein geheimnisvolles Land kennen, das bis zur eigenen Unabhängigkeit im Jahre 1957 politischer Spielball diverser Länder war, u. a. Großbritannien, China, Japan, Indonesien, Thailand. Während eines in der Historie kurzen Zeitraums von nicht einmal 150 Jahren, haben diese Staaten vergeblich versucht, sich Malaysia zueigen zu machen. Die langjährige Präsenz dieser Länder und ihre Eigenheiten haben Spuren hinterlassen. Die Bevölkerung Malaysias setzt sich aus einem bunten Völkergemisch zusammen.
Malaysia gilt heutzutage ökonomisch und politisch als eines der stabilsten Länder Südostasiens. Doch das war nicht immer so.
Quelle: Residenz Verlag
"Was für einen Wert hatte Demokratie, wenn man nur zwischen mehr oder weniger schlechten Möglichkeiten wählen konnte?"
Jeremy Tiang erzählt die Geschichte von Malaysia am Beispiel von 6 Personen, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist.  Er konzentriert sich dabei auf die Zeit zwischen den 50er und 90er Jahren. Auf den ersten Blick scheinen nur wenige dieser Protagonisten einen Bezug zueinander zu haben:
Jason: Vater und verlassener Ehemann, mittlerweile 76 Jahre; die Handlung um Jason spielt im Singapur der heutigen Zeit
Siew Li: Mutter und kommunistische Widerstandskämpferin; die Handlung um Siew Li spielt in den 50er Jahren
Nam Teck: Sohn, Automechaniker und Widerstandskämfer in den 60er Jahren
Revathi: Journalistin aus London mit malayischen Wurzeln, die sich in den 70er Jahren auf Recherchereise nach Malaysia begibt, um über ein Verbrechen an der Menschlichkeit aus dem Jahre 1948 zu recherchieren
Stella: Tochter, Cousine und Lehrerin, die in den 70er Jahren in Malaysia zu Unrecht inhaftiert ist
Henry: Sohn, Schriftsteller, Bruder und Freund, der in den 90er Jahren aus familiären Gründen nach Singapur reist
"Die Hitze war wie ein Schaufelschlag ins Gesicht, ein stumpfer Gegenstand, der auf ihren Körper einprügelte. Die Erinnerung kam zurück. Sie wappnete sich gegen die Temperatur, aber die feuchtigkeitgesättigte Luft erwies sich als unerwartet aggressiv .... Doch die Einheimischen schienen ungerührt, vermieden jede schnelle oder überflüssige Bewegung, gingen ihrem Alltag nach, als wäre dieses Land nicht ein einziger Backofen."
Wenn man in die einzelnen Handlungsstränge eintaucht, rätselt man, welche Verbindungen es zwischen den Charakteren gibt. Denn diese Verbindungen existieren. Nicht alle Protagonisten sind miteinander verwandt. Das wäre zu einfach. Und es ist meist nicht das Offensichtliche, das diese Charaktere miteinander verbindet. Daher steckt dieser Roman voller Überraschungen.
Gleichzeitig konzentriert sich der Autor auf die Geschichte des Landes und stellt die chaotischen politischen Entwicklungen dar, mit denen Malaysia und seine Einwohner zu kämpfen hatten. Dabei bekommt man den geschichtlichen Hintergrund nicht auf dem Silbertablett serviert. Denn Jeremy Tiang setzt beim Leser einiges an Hintergrundwissen voraus. Das macht er allerdings in einer Art und Weise, die nicht fordernd ist, sondern eher die Neugierde des Lesers anregt. Man will wissen, wer gegen wen und warum gekämpft hat, und wodurch Feindschaften, die einem in diesem Buch begegnen, entstanden sind. Die Geschichte Malaysias lässt einen also nicht los. Wissenslücken wollen geschlossen werden. Und wer kennt sich schon in der nötigen Tiefe mit der Geschichte Malaysias aus? Da hilft nur eins: Google und Wikipedia. Aber man sucht sich gern diese Hilfestellungen. Denn die Geschichten der Protagonisten sind einfach zu faszinierend, als dass man sie nicht in den politischen und historischen Kontext Malaysias einbinden möchte.
Dabei bedient sich Jeremy Tiang einer Sprache, die den Leser durch ihre Lebhaftigkeit durch das Buch eilen lässt. Die unterschiedlichen Schicksale und Geschichten der einzelnen Protagonisten gehen zunahe und verdeutlichen, wie sehr das Leben eines Einzelnen von der Willkür politischer Gruppierungen abhängig ist.
"Das ist der Vorteil des Älterwerdens: angesichts der Summe der erlittenen Verwundungen erscheint die einzelne Verletzung weniger bedeutend."
Fazit:
Ein fesselnder Malaysia-Roman, der nicht nur als Familienroman betrachtet werden darf, sondern gleichzeitig als historischer und politischer Roman. Die Geschichten und Schicksale der einzelnen Charaktere fügen sich zu einem bunt schillernden Gesamtbild zusammen. Am Ende des Romans bleibt folgender Eindruck: Malaysia scheint tatsächlich ein Land von faszinierender Vielfalt zu sein.

© Renie

Samstag, 9. Mai 2020

Frédéric Brun: Perla

"Mondaufgang am Meer" - Caspar David Friedrich
Der Roman "Perla" von Frédéric Bruns ist ein Buch über Liebe, Trauer und Schönheit.
Von dem Einband dieses Buches blickt mich eine wunderschöne Frau an. Sie hat ein bezauberndes Lächeln. Und dennoch strahlt ihr Blick eine Traurigkeit aus, die mir - noch bevor ich eine Seite in diesem Buch gelesen habe - zunahe geht.

Es ist Perla. Mutter des Autors.
"Perla, ich werde immer eine Mappe auf dem Rücken tragen, die Mappe eines Kindes, das zur Schule des Lebens aufbricht. Du packst mir immer noch etwas hinein. Eine Mutter ist unsterblich."
Quelle: Faber und Faber
Frédéric Brun hat mit diesem Roman ein Buch über seine Mutter geschrieben. Er beginnt ihn unmittelbar nach dem Tod von Perla. In Gedanken an das Leben mit ihr wird ihm bewusst, dass sie ein wichtiges Kapitel ihrer Geschichte vor ihrer Familie abgeschirmt hat: 1944 kam sie für sieben Monate nach Auschwitz. Und wie so viele Überlebende der Konzentrationslager sah Perla sich außer Stande, ihre Erinnerungen an diese Zeit mit anderen Menschen zu teilen - auch nicht mit ihrer Familie. 
"Perla verzichtete in ihrer Depression auf das Leben. Das war ihre Art, das Unverständnis über die Welt sichtbar werden zu lassen. Was gibt es nach Auschwitz noch zu erklären? Was ich davon in Erinnerung behalte, ist ihre Krankheit. Ich habe den Eindruck, dass sich meine Mutter so verständlich machen wollte, weil sie nicht fähig war, das Erlebte anders zu artikulieren, davon zu sprechen oder ein Buch darüber zu schreiben. Die Depression war umso vieles eindeutiger als alles reden. Sieben Monate in ihrem Leben bedeuteten letztendlich jahrzehntelange Qual. Wieviel benötigt ein Mensch, um ein anderes menschliches Wesen zu zerstören? Eine Woche, einen Tag, eine Stunde?" 
Um seiner Mutter auch nach ihrem Tod verbunden zu bleiben, begibt sich Frédéric Brun in die Vergangenheit und versucht zu verstehen, was mit Perla geschehen ist. Er stellt sich seine Mutter im Konzentrationslager vor, ihren Kampf ums Überleben, ihren Hunger, ihre Qual. Seine Gedanken werden ihm keine Erkenntnisse bringen, was ihr in diesen schrecklichen Monaten widerfahren ist. Über Mutmaßungen wird er nicht hinauskommen. Die Reise in Perlas Vergangenheit bringt ihn seiner Mutter Stück für Stück näher. Am Ende dieses Buches wird er mit der Trauer über den Verlust seiner Mutter leben können. Er wird anerkennen, dass Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verbunden sind, und dass Perla immer ein Teil von ihm und seinen Nachkommen sein wird.

In dem Buch "Perla" schildert also der Autor seine Gedanken über das Leben seiner Mutter, seinem eigenen Leben, dem Leben an sich. Das Buch ist dabei in mehrere Kapitel unterteilt, die sich auf einzelne Gedankengänge konzentrieren. Mit Ende eines Kapitels werden diese Gedankengänge unterbrochen und an anderer Stelle wieder aufgenommen.
Diese Gedankengänge sind
- Schilderungen über das Leben mit Perla, die unter Depressionen litt und sich in ihren düsteren Phasen aus dem Familienleben zurückzog
- Mutmaßungen über das Leben und den Alltag in Auschwitz
- Reflexionen über Frédéric Bruns Leben und den Einfluss seiner Mutter auf seine Entwicklung
- Gedanken zu den 4 Friedrichen der Romantik, deren Werke und Philosphie Wegbereiter für das  nationalsozialistische Gedankengut waren und - welch Ironie - gleichzeitig Inspiration für Bruns Schriftstellerei und sein Leben bedeuten: die Schriftsteller und Philosophen Schlegel, Novalis und Hölderlin sowie der Maler Caspar David Friedrich.

Frédéric Bruns Gedanken besitzen dabei eine Intensität und Tiefgründigkeit, die unter die Haut gehen. Von der ersten Zeile an wird in diesem Buch deutlich, welche Erschütterung Perlas Schicksal und ihr Tod für sein eigenes Leben bedeuten. Dabei verwendet er eine Sprache, die hochemotional und unfassbar poetisch ist.

In diesem Roman liegen Traurigkeit und Schönheit sehr dicht beieinander. Es ist nicht nur der Text, der berührt, sondern auch alte Schwarzweiß-Fotografien mit Motiven des Konzentrationslagers in Auschwitz. Demgegenüber stehen Abbildungen von Gemälden von Caspar David Friedrich. Somit treffen menschenverachtende Grausamkeit auf die wohltuende stille Schönheit, die Friedrichs Bilder ausstrahlen. Und Frédéric Brun stellt damit eine Frage, die sich wohl niemals beantworten lässt:
"Wie ist es möglich, dass Novalis, die deutschen Dichter und die Hitlergeneräle den gleichen Stammbaum haben?"
Fazit:
Der Titel diese Romans ist Programm. Denn dieses kleine Büchlein mit gerade mal 122 Seiten ist durch seine berührende Geschichte, seine tiefgründigen Gedanken und seinen  Abbildungen und Fotografien eine Perle von einem Buch. Hässlichkeit und Schönheit, Glück und Traurigkeit liegen dicht beieinander und machen dieses Buch zu einem ganz besonderen Leseschatz.

© Renie