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Dienstag, 10. März 2020

Martha Hall Kelly: Und am Ende werden wir frei sein

Quelle: Pixabay/CarlottaSilvestrini
Drei Frauen, drei Schicksale, ein Krieg und die Zeit danach. Darum geht es in dem Roman „Und am Ende werden wir frei sein“ der Amerikanerin Martha Hall Kelly.
Ihr Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Reale Personen lieferten die Vorlage für Charaktere in diesem Buch.

Die Handlung setzt im Jahr 1939 ein. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges steht kurz bevor. In New York lebt Caroline Ferriday, Schauspielerin ohne Engagement, Tochter aus gutem Hause und Mitglied der gehobenen Gesellschaft. Sie arbeitet ehrenamtlich im französischen Konsulat und hilft französischen Familien bei der Einreise in die USA. Immer mehr Franzosen verlassen ihre Heimat. Denn Europa steht kurz vor Ausbruch des Krieges. Die Spendenlust der High Society von New York ist groß. Charity gehört zum guten Ton.
Quelle: Limes Verlag
"Sie betrachtete die Möglichkeit, sich wohltätig zu engagieren, wie andere eine Kuchenplatte."
Zur gleichen Zeit im polnischen Llubin erleben die 16-jährige Kasia und ihre Familie den Einmarsch der Deutschen. Ihr Alltag ist plötzlich von Angst und Drangsalierung durch die deutschen Besatzer geprägt. Immer mehr Menschen werden deportiert. Auch Kasia sowie ihre Mutter und Schwester werden eines Tages in einen Zug nach Ravensbrück verfrachtet. Die Frauen haben keinen Schimmer, was sie hier erwarten wird.

In Deutschland lebt indessen Herta Oberheuser. Sie wächst in Düsseldorf auf und lässt sich zur Ärztin ausbilden. Der Nationalsozialismus hat bei ihr ganze Arbeit geleistet. Herta hat sich das nationalsozialistische Gedankengut bedingungslos zu eigen gemacht. Doch eine Sache geht ihr gegen den Strich. Als Frau darf sie den Beruf des Arztes nicht in der kompletten Bandbreite ausüben wie ein Mann. Ihre Karrieremöglichkeiten sind dadurch beschränkt. Da bietet sich die Gelegenheit, in der Forschung im Lager Ravensbrück zu arbeiten. Dass sie mit ihren Forschungen Verbrechen an der Menschlichkeit begeht, ignoriert sie völlig. Ganz im Gegenteil: Herta "forscht" aus rassenideologischer Überzeugung. 
"Die Operationen fanden zum Wohle Deutschlands statt."
Die Handlungen dieses Buches gehen über das Ende des 2. Weltkrieges hinaus. Diesen Fortgang braucht der Leser auch. Denn zum Einen ist die Frage noch nicht beantwortet, wann und wie die separaten Handlungsstränge der drei Frauen zusammenkommen werden: Abgesehen vom Aufeinandertreffen von Herta und Kasia in Ravensbrück gibt es keinen gemeinsamen Nenner, erst recht nicht mit der Geschichte von Caroline in New York.
Zum Anderen will man Antworten auf die Frage nach den Motiven einer Herta. Man kann die Beweggründe für ihre Handlungen in Ravensbrück einfach nicht nachvollziehen, will aber dennoch Hertas Unmenschlichkeit verstehen können.
Nach Kriegsende wird Herta wird in den sogenannten Ärzte-Prozessen 1947 in Nürnberg zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. (wikipedia: Ravensbrück-Prozesse

Quelle: Wikimedia Commons
"Der See war zornig. Schaumgekrönte Wellen jagten über die Oberfläche. Wurde er vom Wind aufgewühlt oder vom Zorn der Menschen, deren Asche wir ins Wasser gekppt hatten, damit sie am Grund des Sees versickerte? Welchen Vorwurf würde man mir machen? Ich hatte die Stelle einer Lagerärztin aus purer Notwendigkeit angenommen. Es war zu spät für die Verlorenen, die mit ihren knochigen Fingern auf mich zeigten und Zeugnis gegen mich ablegen wollten."
Martha Hall Kelly geht in der Geschichte um die drei Frauen jedoch noch weiter. Ihr Roman endet in den 50er Jahren. Am Ende fügen sich schließlich die Handlungsstränge zusammen.
Denn Caroline engagiert sich mittlerweile in einer französischen Organisation, die sich nach dem Krieg mit der Betreuung Überlebender der Konzentrationslager befasste (ADIR). Durch eine Hilfsaktion, die sie ins Leben ruft, erwirkt sie, dass die Opfer der menschlichen Experimente in Ravensbrück, darunter auch Kasia und ihre Schwester, in die USA reisen dürfen. Sie werden dort medizinisch betreut, um die Schäden an Körper und Seele zu mildern.

Die Autorin hat sich über lange Zeit mit der Recherche zu diesem Roman befasst. Sie ist zu den Schauplätzen gereist, hat mit Zeitzeugen gesprochen und einiges an Material gesichtet, das sich mit Ravensbrück und seinen Insassen befasst. Viele der Protagonisten in ihrem Roman sind realen Personen nachempfunden. Allen voran Caroline, die als Caroline Ferriday ihr Leben tatsächlich so gestaltet hat, wie die Autorin es beschreibt. Anfangs scheint das Leben der Figur Caroline oberflächlich zu verlaufen. Als Dame der gehobenen Gesellschaft lebt sie ein Leben inmitten von Parties, Galas, Kaffeekränzchen und Restaurauntbesuchen. Auch wenn ihre Events unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit laufen, steht das Vergnügen im Vordergrund. Dieser Handlungsstrang bildet daher einen krassen Gegenpol zu den Geschichten um Kasia und Herta. Zunächst habe ich Carolines Auftritt als störend empfunden, war jedoch mit Fortschreiten der Handlung froh, dass die Autorin mir einen Ausflug in die Oberflächlichkeit gönnte. Denn sobald sich die Geschichte nach Ravensbrück verlagerte, war ich froh, eine Atempause von den geschilderten Grausamkeiten in Aussicht zu haben. 
"Stundenlang beobachtete ich den Vogel, dem Luzia und ich am ersten Tag im Revier beim Nestbau zugeschaut hatten. Ich fand ihn niedlich, bis ich bemerkte, dass der kleine Zaunkönig sein neues Zuhause mit weichen Büscheln aus Menschenhaar auspolsterte und blonde, rotbraune und rote Strähnen zwischen die Zweiglein flocht."
Martha Hall Kelly hat sich bei der Darstellung ihrer Protagonistin Caroline einen literarischen Freiraum gegönnt, indem sie ihr einen Seelenverwandten hinzugeschrieben hat: Paul Rodierre, den es nie gegeben hat. Zwischen Caroline und Paul bahnt sich eine enge Verbindung an, die das normale Maß einer Freundschaft übersteigt. Sagen wir, dass Caroline und Paul Seelenverwandte und füreinander bestimmt sind, allen Widrigkeiten zum Trotz. Diese Verbindung wird bis zum Ende des Romans anhalten - mal mehr, mal weniger eng. Ob sie sich am Ende kriegen, ist irrelevant. Gegen die schriftstellerische Freiheit der Autorin ist nichts einzuwenden. Doch mich hat die Art der Darstellung der Caroline/Paul Beziehung gestört: zu viel Flirterei und Liebesgeplänkel, zu viel Herzschmerz, zu viele Zufälle und zu häufig stellt sich die Frage „Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht?“.
Ich habe diesen Part des Romans als störend empfunden. Wollte die Autorin ihren Roman mit diesem Ausflug in die romantische Gefühlswelt einem breiteren Publikum schmackhaft machen? Sie selbst begründet die fiktive Beziehung zwischen Caroline und Paul mit der Verdeutlichung des engen Bezugs von Caroline zu Frankreich bzw. der Dramatisierung der damaligen Ereignisse in diesem Land. Beides nehme ich ihr nicht ab. Der gewünschte Effekt ist bei mir zumindest nicht eingetreten. Denn Carolines Bezug zu Frankreich ist nebensächlich und die historischen Ereignisse sind an Dramatik sowieso nicht zu überbieten. Daher bedeutete der Caroline/Paul-Teil für mich leider eine Deklassierung dieses ansonsten sehr gelungenen Romans.

Mein Fazit:
Es gibt ein Haar in der Suppe: die romantische Darstellung der Beziehung zwischen den Protagonisten Caroline und Paul waren mir zu trivial und stufen diesen Roman leider ein wenig herab. Trotzdem ist dieser Roman absolut lesenswert. Denn allein schon die fesselnden Geschichten der drei Frauen, die hier erzählt und auf wahren Begebenheiten basieren, machen diesen Roman zu etwas so Besonderem, dass ich am Ende auch über die gefühlsduselige Romantik hinwegsehen kann.
Lesempfehlung!

© Renie