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Montag, 8. April 2019

Nicoletta Giampietro: Niemand weiß, dass du hier bist

Quelle: Pixabay/CorsoCG
In "Niemand weiß, dass du hier bist" erzählt die Autorin Nicoletta Giampietro eine faszinierende und spannende Heldengeschichte "gegen das Vergessen". Ihr Held ist kein muskelbepackter Rächer der Unterdrückten sondern ein ganz normaler Junge, Lorenzo, der mit seinen gerade mal 12 Jahren (so alt ist er als die Geschichte einsetzt) über sich hinauswächst und Unglaubliches leistet.

Zu Beginn dieses Romans treffen wir auf den Jungen, der seine Verwandten in Siena besucht. Wir schreiben das Jahr 1942. Der 2. Weltkrieg ist im Gange. Lorenzo hat einen großen Teil seiner, bis dahin glücklichen Kindheit in Libyen verbracht. Dieses nordafrikanische Land war über lange Jahre eine Kolonie Italiens und Lorenzos Eltern sind nach Lybien ausgewandert. Als der 2. Weltkrieg auch auf Afrika übergreift, entschließt sich Lorenzos Mutter, ihren Sohn wieder nach Italien zu bringen. Ihre Schwägerin Chiara, eine Lehrerin, lebt in Siena zusammen mit Lorenzos Großvater und einer Haushälterin. Lorenzos Vater ist von der italienischen Armee eingezogen worden. Während Lorenzo also in Siena bleibt, reist seine Mutter wieder ab. Sie will versuchen, Lorenzos Vater von der Front abziehen zu lassen. Soweit zur Vorgeschichte.
Quelle: Piper
"Ich war an einen sicheren Ort gebracht und zurückgelassen worden. Aber Kriege sind unberechenbar. Und sichere Orte auch."
Im Glauben, dass seine Eltern ebenfalls in Kürze nach Siena zurückkehren werden, gestaltet Lorenzo seinen Alltag in der neuen Umgebung. Er geht zur Schule und lässt sich, wie die meisten Italiener, von der Begeisterung um Mussolini mitreißen. In Italien wird zu diesem Zeitpunkt noch der Faschismus gefeiert: Mussolini hat mit seiner Machtergreifung einen wirtschaftlichen Aufschwung in Italien erwirkt. Die Menschen lieben ihn dafür. Doch nachdem Mussolini anfängt, mit Hitler und den Deutschen zu sympathisieren, bröckelt die Fassade, was sich auch bei der Stimmung der Italiener bemerkbar macht. Kritik macht sich breit, wenn auch zunächst leise. Immerhin gibt es immer noch sehr viele bekennende Anhänger des Duce, die jegliche Kritik an ihrem geliebten Führer mit allen Mitteln im Keim ersticken würden.
Auch Italiens Kinder lieben den Duce, schließlich haben dies ihnen ihre Eltern vorgelebt. Sie organisieren sich in Vereinigungen ähnlich der Hitlerjugend. Insbesondere die Jungs  gehören gern dazu, können sie doch Krieg spielen. Der Krieg wird von den Kindern und Jugendlichen (und von vielen Erwachsenen) verherrlicht. Kaum ein Junge, der nicht davon träumt, die Ehre des Duces und Italiens an der Front zu verteidigen. So auch Lorenzo.
"'... Du bist in einer Fantasiewelt voller Pathos und Helden aufgewachsen. Aber es ist nicht die echte Welt. In der echten Welt wirst du deine Kindheit schneller verlieren als deinen nächsten Milchzahn.'"
Spätestens mit Durchsetzung der Judengesetze ist es bei Lorenzo mit der Herrlichkeit von Mussolinis Faschismus vorbei. Denn Lorenzo lernt den gleichaltrigen Juden Daniele kennen. Die beiden werden Freunde. Als Danieles Familie in einer Nacht- und Nebelaktion nach Deutschland deportiert werden soll, rettet Lorenzo seinen Freund, indem er ihn heimlich in einer Dachkammer in dem Haus seines Großvaters versteckt. Und man will es nicht glauben, aber Lorenzo schafft es mit seinen gerade mal 12 Jahren, seinen Freund über einen Zeitraum von mehreren Monaten zu verstecken und für ihn zu sorgen. Diese enorme Verantwortung für ein anderes Leben geht natürlich nicht spurlos an dem ehemals unbeschwerten und aufgeweckten Lorenzo vorüber. Er leistet Unfassbares. Der Preis dafür ist, dass er dadurch ein großes Stück seiner Kindlichkeit verliert. 

Währenddessen findet in Italien ein politischer Wandel statt. Mussolini wird entmachtet. Aber Mussolini kommt mit Unterstützung der Deutschen wieder an die Macht. Zum Dank lässt er die Deutschen in Italien einmarschieren. Sie können schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Mussolini wird zu einer Marionette der Deutschen. Dies hat zur Folge, dass sich die Menschen politisch umorientieren. Viele Faschisten werden auf einmal zu Partisanen, entsagen Mussolini und versuchen aus dem Untergrund heraus gegen die deutschen Besatzer anzugehen. Aber immer noch gibt es Menschen, die an dem Faschismus festhalten und auch kein Problem damit haben, die Deutschen bei ihren Machenschaften zu unterstützen. Italiener kämpfen auf einmal gegen Italiener. Das Land ist gespalten.
Auch Lorenzo gerät mehr oder weniger unfreiwillig zwischen die Fronten. Durch einen Bekannten der Familie bekommt er Zugang zu den Partisanen im Untergrund. Doch auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.
Die Besatzung Italiens endet im Frühjahr 1945. Lorenzo ist mittlerweile 15 Jahre alt.
"'Der Große Krieg war nicht groß, Lorenzo, er war ein Gemetzel. Ein fürchterliches, sinnloses Gemetzel. Hätten wir euch das gesagt, hätten wir vielleicht diesen Krieg verhindert. Aber wir waren zu feige.'"
Es gibt mehrere Aspekte, die ich bei diesem Roman hervorheben möchte:

1. Ein Buch gegen das Vergessen aus einer fremden Perspektive
Hier wird der 2. Weltkrieg aus einer mir bisher fremden Sichtweise geschildert. Die jüngste Geschichte Italiens steht im Mittelpunkt, und es wird einmal mehr klar, dass nicht nur Deutsche nicht vergessen dürfen, sondern im Grunde genommen jede Nation, die in irgendeiner Form am Krieg beteiligt war. In diesem Roman ist es Italien mit seiner Verherrlichung des Faschismus, seiner Ergebenheit Hitler-Deutschland gegenüber und seiner Judengesetze, aber auch seiner bürgerkriegsähnlichen Zustände als Italiener gegen Italiener aufgrund unterschiedlicher politischer Überzeugungen kämpfen.

Bemerkenswert fand ich die Weigerung der Autorin zu urteilen. Lediglich zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ist ihr zu einfach. Und Recht hat sie. So gestattet sie insbesondere den vermeintlich Bösen in diesem Roman Ansätze von Menschlichkeit und Weichheit. Dadurch macht sie bewusst, dass der Grat zwischen Gut und Böse ein sehr schmaler ist.

2. Lorenzos Entwicklung
In dem Roman entwickelt sich Lorenzo von einem unbeschwerten Jungen, der den Krieg verherrlicht, zu einem nachdenklichen Jugendlichen, der von der Welt der Erwachsenen enttäuscht wird. Dazwischen übernimmt er Verantwortung für das Leben seines Freundes Daniele und lernt in den Kriegszeiten zurechtzukommen. Ein bisschen viel für ein Kind seines Alters. Insbesondere, wenn die Ereignisse innerhalb kurzer Zeit stattfinden. Er bekommt viele Dinge zu sehen, die kein Kind sehen dürfte, und die es erst einmal zu verarbeiten gilt. Umso schöner ist das hoffnungsvolle Ende dieses Romans. Mit Einmarsch der Alliierten in Italien kann er wieder Kind sein, und es sind Erwachsene da, die ihn lieben, ihn auffangen und dabei helfen werden, die Geschehnisse zu verkraften.

3. Sprache und Spannung
Die Sprache ist einfach gehalten, was nicht als negative Kritik zu verstehen ist. Diese Geschichte um Lorenzo und Italien braucht keine besonderen stilistischen Mittel, um den Leser zu beeindrucken. Das kann sie von ganz allein. Man ist sofort von der Handlung gefesselt. Der Spannungsbogen ist unglaublich hoch und flacht zu keinem Zeitpunkt ab. "Niemand weiß, dass du hier bist" ist großes Erzählkino. Und Romane wie diese haben das Zeug, später verfilmt zu werden.

Leseempfehlung!

© Renie