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Donnerstag, 6. Dezember 2018

Muriel Spark: Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Es gibt Begriffe, die man ohne Nachdenken und wie selbstverständlich verwendet. Einer davon ist für mich der Ausdruck "Blütezeit". "Eine Frau in der Blütezeit ihres Lebens". Nicht ganz so poetisch kann man auch sagen "Eine Frau in ihren besten Jahren". Doch "Blütezeit" und "die besten Jahre" sorgen bei mir für Irritationen. Was bedeuten diese Begriffe eigentlich? Ich habe mich durch Google gearbeitet, um eine allgemein gültige Definition für diesen verheißungsvollen Zeitraum herauszufinden. Das ist u. a. dabei herausgekommen:
- Im Forum "Sexualität" einer bekannten Online-Partnerschaftsvermittlung gibt es mehrere Erklärungsansätze, natürlich aus sexueller Sicht: Frauen ab Ende 20 bis zum Einsetzen der Wechseljahre ... Frauen über 40, weil sie einen eigenen Kopf, Erfahrung, eigenen Stil und jede Menge Energie haben .... Frauen zwischen 45 und 56: diese Frauen sind anspruchsvoll, was dem anspruchsvollen Liebhaber wiederum zugute kommt (das meint zumindest Steve, Alter: unbekannt)
- auf einer Internetseite, die sich mit den großen und kleinen Problemen des Lebens befasst, meint der Opa einer 30-Jährigen: "natürlich in den 30ern" (da wollte er seiner Enkelin, die bei ihrem 30. Geburtstag in eine tiefe Depression versank, wohl einen Gefallen tun)
- die Bild-Zeitung beruft sich auf eine britische Studie und behauptet, Frau ist mit 31 Jahren am schönsten (Schönheit ist also mit Blüte bzw. den besten Jahren gleichzusetzen?!)
- und dann gibt es da noch den Onlineshop, der Damenpullis mit dem Aufdruck "Die besten Jahre kommen doch nach 45!" im Sortiment hat.

Dies ließe sich jetzt endlos fortführen, beantwortet jedoch nicht meine Frage. Ich will nicht wissen, wann meine besten Jahre sind, sondern was sie zu den besten Jahren macht.
Quelle: Diogenes
"'... Die Blütezeit des Lebens ist schwer zu fassen. Wenn ihr erwachsen werdet, ihr kleinen Mädchen, müsst ihr gut aufpassen, damit ihr eure Blütezeit erkennt - in welches Alter sie auch fallen mag ...'"
Eine, die sich in ihrer Blütezeit befindet, ist Miss Jean Brodie, Protagonistin aus Muriel Sparks gleichnamigen Roman. Ich glaube, sie weiss selbst nicht so genau, was ihre Blütezeit ausmacht. Aber immerhin kokettiert sie mit diesem Begriff. Als Leser stolpert man häufig über das Wort "Blütezeit".

Miss Brodie ist Lehrerin an einer Mädchenschule in Edingburgh. Sechs ihrer Schülerinnen werden sich als die Brodie-Clique herauskristallisieren. Diese Mädchen stehen im Fokus der Erziehungs- und Lehrbemühungen von Miss Brodie. Die Clique wird über Jahre Bestand haben. Zu Beginn des Romans sind die Mädchen um die 10 Jahre alt. Der Kontakt untereinander und zu ihrer Lehrerin wird bis ins Erwachsenenalter anhalten.
Die Erziehungsmethoden von Miss Brodie sind unkonventionell, gemessen an der Zeit in der der Roman spielt (40/50er Jahre). Sie hält sich selten an den Lehrplan und versucht die Mädchen auf das Leben vorzubereiten, was vom Grundsatz her zu befürworten wäre. Nur Miss Brodie hat ihre ganz eigenen Vorstellungen, was das Leben betrifft. Eine Frau hat selbstständig zu sein, romantisch und der Politik zugewandt. Dabei will Miss Brodie ein leuchtendes Vorbild für ihre Mädchen sein. Sie ist unverheiratet, sorgt für sich selbst, hat Affären, träumt von der großen romantischen Liebe und begeistert sich für den Faschismus. Hitlers Auftreten in der Politik kann sie viel Positives abgewinnen, was sie jedoch später revidieren wird. Sie befindet sich in der Blütezeit ihres Lebens, an der sie die Mädchen teilhaben lässt. So infiltriert sie nach und nach die Gedanken und Phantasien der Mädchen mit ihrer eigenen speziellen Sichtweise über das Leben einer Frau. Anfangs lassen sich die Mädchen von ihrer Lehrerin beeinflussen. Doch mit zunehmendem Alter, spätestens mit Einsetzen der Pubertät, entwickeln die Mädchen ihren eigenen Kopf.
"Für Miss Brodie gab es nichts, was sie nicht noch lernen konnte - damit brüstete sie sich. .. Sie dehnte sich aus, diese Blütezeit der Miss Brodie, war immer noch im Werden begriffen, als die Mädchen schon längst im Teenageralter waren. Und über die Grundsätze, die am Ende ihrer Blütezeit herrschten, hätte sie sich am Anfang sehr gewundert."
Muriel Sparks Sprachstil zeichnet sich durch Eleganz und Präzision aus. Sie hält sich nicht mit ausschweifenden Beschreibungen auf, sondern schafft es, mit wenigen Worten ein buntes Szenario vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen. 

Darüberhinaus wendet sie in ihrem Roman einen stilistischen Kniff an. Trotzdem die Handlung in den 40er Jahren einsetzt und über viele Jahre verlaufen wird, verschafft sie dem Leser anhand von Zeitsprüngen in die Zukunft regelmäßige Einblicke, was aus den einzelnen Mädchen der Brodie-Clique werden wird. Und auch wenn der Eindruck naheliegt, dass Miss Brodie die Protagonistin dieses Romanes ist, sind es doch die Mädchen und ihre Entwicklung, die die Handlung dominieren. Miss Brodie ist dabei jedoch immer präsent, wenn nicht körperlich, dann im Denken der Mädchen.

Mein Fazit:
Ein Roman über eine bemerkenswerte Frau, deren Lebenseinstellung man nicht in jedem Punkt teilen muss, die aber durch ihr Selbstbewusstsein und ihre Willensstärke in einer Zeit, in der die Gleichberechtigung der Frauen noch nicht weit fortgeschritten war, beeindruckt. Der Fokus liegt dabei nicht auf dieser einzelnen Frau, sondern auf ihren Schützlingen und deren Erwachsenwerden. Der präzise und elegante Sprachstil von Muriel Spark hat dazu beigetragen, dass ich die Geschichte mit großem Vergnügen gelesen habe.


Und was hat es jetzt mit der "Blütezeit" auf sich?
Ich bin immer noch ratlos. Doch eines weiß ich mit Gewissheit: Die Blütezeit meines Lebens werde ich wahrscheinlich erst benennen können, wenn ich im Sterben liege. Schließlich kann ich heute noch nicht wissen, was das Leben noch an blühenden Momenten für mich bereit hält. Und da werden noch etliche kommen. Ich freue mich darauf!

© Renie




Über die Autorin:
Muriel Spark, geboren 1918 in Edinburgh, Autorin von Romanen, Theaterstücken, Kinderbüchern und Gedichten. Zahlreiche ihrer Bücher wurden verfilmt. 1986 wurde sie zum Commandeur des Arts et des Lettres ernannt, 1993 zur Dame Commander of the British Empire; 1999 erhielt sie den Ehrendoktortitel für Literatur der Oxford University. ›Die Blütezeit der Miss Jean Brodie‹ wurde mit Maggie Smith in der Titelrolle verfilmt. Muriel Spark, die 2006 in Florenz verstarb, wird gerade international wiederentdeckt und gefeiert. (Quelle: Diogenes)