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Freitag, 11. Mai 2018

Heinrich Steinfest: Die Büglerin

Quelle: Pixabay/RitaE
Nachdem ich den Roman "Die Büglerin" von Heinrich Steinfest beendet habe, stelle ich fest, dass ich mit der Protagonistin Tonia Schreiber einige Gemeinsamkeiten habe. Wir sitzen im Kino oder Theater am liebsten auf einem Platz am Gang. Schließlich wollen wir die ersten sein, die den Notausgang stürmen können, sollte Gefahr im Verzug sein. Man weiß ja nie, welche bösen Absichten Menschen im Publikum haben können. Dann gehen wir grundsätzlich kurz vor Beginn eines Termins oder einer Veranstaltung noch mal schnell auf die Toilette. Würden wir das nicht tun, müssten wir unter Garantie zwischendurch. Wir könnten dann ja etwas verpassen.
Und wir empfinden Bügeln als Strafe. Ich drücke mich meistens vor dieser Strafe und lasse lieber andere bügeln. Wohingegen Tonia sich selbst diese Strafe auferlegt hat: Sie verdient ihren Lebensunterhalt als Büglerin und bestraft sich dadurch selbst.
"..., weil auf dem Plan des Lebens ihr Name auf der Seite derer stand, die für ein Unglück vorgesehen waren. Etwas, von dem sie seit Kindheit an hundertprozentig überzeugt gewesen war." (S. 45)
Quelle: Piper
Wie kam es zu dieser Bestrafung?
Tonia ist eine starke und außergewöhnliche Frau mit einer ungewöhnlichen Kindheit. Als Tochter zweier angesehenen Botanikern hat sie einen großen Teil ihrer Kindheit auf dem Meer verbracht. Durch die Forschungsreisen ihrer Eltern lernte sie die ganze Welt kennen. Ihr Zuhause war ein Segelschiff, auf dem die Familie lebte. Ihre Klassenzimmer waren die Ozeane und die Länder, die sie bereisten. Unterrichtet wurde sie von ihrer Mutter und vom Leben in unterschiedlichen Kulturen. Selbstverständlich spricht sie mehrere Fremdsprachen und hat einen Wissenshorizont, der seinesgleichen sucht. Doch irgendwann holte die Familie das österreichische Rechtswesen ein, das die Familie an die Schulpflicht erinnerte. Tonia ging also auf ein Internat, ihre Eltern bereisten weiterhin die Welt. Kurz darauf verunglückten ihre Eltern tödlich und Tonia war plötzlich Waise, die durch das nicht unerhebliche Erbe ihrer Eltern finanziell abgesichert war. Sie konnte ihre Ausbildung fortsetzen und wurde Meeresbiologin.

Der Tod der Eltern war nicht der einzige Schicksalsschlag, den sie zu verkraften hatte. Jahre später befindet sich Tonia zur falschen Zeit am falschen Ort und erleidet dadurch den nächsten Verlust, der ihr weiteres Leben beeinflussen wird. Sie gibt sich eine Mitschuld an diesem Verlust. Grund genug für sie, sich lebenslang zu bestrafen. Ihre Selbstbestrafung ist das Bügeln. Eine merkwürdige Form der Vergeltung. Aber Tonia zieht es durch. Der größte Teil dieses Romanes konzentriert sich auf ihre Zeit als Büglerin. Tonia lebt zurückgezogen und bescheiden. Mit großer Disziplin widmet sie sich dem Bügeln. Der Perfektionismus, der sie schon immer ausgezeichnet hat, findet auch beim Bügeln Anwendung. Sehr zur Freude ihrer Auftraggeber. Denn keiner bügelt wie Tonia. 
"Als erstes begann Tonia die Wäsche ihrer Vermieterin zu bügeln, wobei die Vermieterin sehr bald diese etwas unheimliche, aber auch anziehende Mischung aus Präzision und Magie - man könnte auch sagen: aus Materialität und Transzendenz - erkannte. Wie sehr also nicht nur eine korrekte, sorgsame Arbeit vorlag, sondern Tonia zudem etwas in diese gebügelte Wäsche hineinlegte, was den Hemden und Blusen eine Schönheit verlieh, die auf den Träger überging." (S. 96)
Keiner blickt hinter ihr Geheimnis. Manch einer wundert sich, warum eine Frau wie Tonia, die ihre Herkunft und Ausbildung nicht vollständig verbergen kann, einen derartigen Job ausübt. Doch Tonia gelingt es immer, ihr Geheimnis zu bewahren. Eines lässt sie jedoch nicht los: die Frage nach dem Sinn des Unglücks, das sie zum Bügeln gebracht hat und die Motive des Hauptverantwortlichen für dieses Unglück. Tatsächlich zeigt der Roman "Die Büglerin" mit der Zeit Ansätze eines Kriminalromans. Denn Tonia begibt sich auf die Suche nach den Motiven des Hauptverantwortlichen und erhält dabei Unterstützung eines Mannes, der ihr Liebhaber sein könnte, es aber nicht ist, weil ihre gemeinsame Freundschaft den beiden mehr als alles andere bedeutet. 

Eine wunderschöne Geschichte, fast schon eine Tragödie, die dank des Sprachstils von Heinrich Steinfest zu etwas ganz Besonderem wird. Der Autor hat mich mit seiner phantasievollen Sprache verzaubert. Er ist ein Freund ungewöhnlicher Vergleiche, die mich oft zum Lächeln gebracht haben. Hinzu kommt ein bissiger, fast schon boshafter, aber stets subtiler Humor, der mir sehr viel Freude bereitet hat. Heinrich Steinfest konfrontiert den Leser mit vielen Gedanken, die das Leben und das Miteinander betreffen. Diese philosophischen Ansätze regen zum Nachdenken an. "Die Büglerin" ist also kein Buch, das man so schnell vergessen wird. Denn es beschäftigt noch lange, nachdem man es beendet hat. Ein Lesehighlight!!!

© Renie