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Siamesische Zwillinge - eine Laune der Natur, die einen schaudern lässt. Auf eine Millionen Lebendgeburten kommt in etwa ein siamesisches Zwillingspaar. Siamesische Zwillinge sind selten, noch seltener sind Romane, die sich mit diesem Thema befassen. Mir war bis jetzt nur ein Roman bekannt, in dem ein siamesisches Zwillingspärchen eine Rolle spielt ("Hiobs Bruder" von Rebecca Gablé). Die Georgierin Ektaerine Togonidze greift also in ihrem Roman "Einsame Schwestern" ein ungewöhnliches Thema auf, das sie mit sehr viel Feingefühl vermittelt. Dem Klappentext des Buches nach, ist sie die erste Schriftstellerin, die das Thema "Körperliche Behinderung" in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte. Hut ab, vor soviel Mut und Engagement.
Die Geschichte spielt in der heutigen Zeit. Die "Einsame(n) Schwestern" um die es hier geht, sind Lina und Diana, die von der Taille an abwärts miteinander verbunden sind. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Sie leben daher bei ihrer Großmutter, in ärmlichen Verhältnissen. Die alte Frau schirmt die Mädchen vor der Außenwelt ab. Lina und Diana kennen daher nur die kleine Wohnung, einen Cousin ihrer Mutter, der hin und wieder vorbeikommt, um für die Frauen Besorgungen zu machen, und das, was das Fernsehprogramm zu bieten hat. Die Großmutter hat die Mädchen unterrichtet, damit sie mit einem Mindestmaß an Bildung versorgt werden. Als die Mädchen noch klein waren, war es einfacher, sie zu Hause zu halten. Mittlerweile sind Lina und Diana Jugendliche, an der Schwelle zum Erwachsenensein. Wie andere Mädchen in diesem Alter, haben sie mit den Dingen zu kämpfen, die die Pubertät mit sich bringt.
"Übermorgen sollen wir tanzen. Lina schwebt über den Wolken. Ich glaube, auch das Tanzen interessiert sie nicht mehr. Was ist nur los mit ihr? Wie bekomme ich sie zurück? Sie glaubt doch nicht im Ernst, dass sich jemand in eine wie uns verlieben kann?" (S. 135)
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Lina und Diana sind charakterlich grundverschieden. Diana ist die Taffe und Rationaldenkende, so dass sie fast schon kaltherzig wirkt; Lina ist die Träumerin und Naive. Diana ist der Kopfmensch, Lina ist der Herzmensch. Spätestens hier wird deutlich, dass siamesische Zwilling trotz der körperlichen Einheit aus unterschiedlichen Persönlichkeiten bestehen können, die leider aufgrund einer Laune der Natur in der Regel bis an ihr Lebensende aneinander gekettet sind. Diese Unterschiedlichkeit wird auch durch den Sprachstil und Aufbau dieses Romanes verdeutlicht. Lina und Diana führen jede für sich Tagebuch. Anhand der Tagebucheinträge wird der Leser über die Geschehnisse der Wochen vor dem tragischen Tod der Mädchen informiert. Denn gleich zu Beginn des Buches ist klar, dass die Beiden sterben werden. Nicht in der kleinen Wohnung der Großmutter, sondern in einem Zirkus, wo sie zum Schluss als Schau- und Lustobjekt für (sensations)lüsterne Georgier landen werden.
Neben dem Handlungsstrang um die beiden Mädchen gibt es noch einen zweiten Handlungsstrang um den Vater der siamesischen Zwillinge: Rostom, der erst mit Linas und Dianas Tod von der Existenz seiner Töchter erfährt. Die Tagebucheinträge der Mädchen wechseln sich ab mit Rostoms Erinnerungen an Elene, seiner damaligen Geliebten und Mutter der Zwillinge, sowie den Wochen nach dem Tod seiner Töchter, in denen er versucht, den Schock über ihre Existenz zu verarbeiten.
Man wird kein Mitgefühl mit Rostom haben, präsentiert er sich doch als selbstsüchtiger Egoist, der während der kurzen Zeit, die er mit seiner Geliebten verbracht hat, unter der Fuchtel seiner Mutter stand. Aus Feigheit hat er sich nie offiziell zu Elene bekannt und ihre Liebe zu ihm gnadenlos ausgenutzt.
"Ich schreibe, um zu leben. Das habe ich schon gesagt, oder? Bloß warum ich leben soll, das weiß ich nicht. Weil es sein muss. Einfach so. Ich lebe, bedeutet für mich, wir leben. Vielleicht ist dieses "Wir" das Problem? Wie ein Blutegel hat es sich an meiner Zunge festgesaugt und ich werde es nicht los. Es lässt mich nicht in der Einzahl reden, nicht mit mir allein sein, es lässt mich nicht leben .... " (S. 9 f.)
Dieses Buch macht betroffen. Die sehr persönlichen Tagebucheinträge der Mädchen machen deutlich, wie sehr sie es gehasst haben, mit der Schwester auf ewig verbunden zu sein und kein "normales" Leben führen zu können. Unvorstellbar, niemals im Leben eine Rückzugsmöglichkeit zu haben und niemals allein sein zu können. Doch genau das hatte das Leben für die siamesischen Zwillinge vorgesehen.
Ekaterine Togonidze gelingt es, die Persönlichkeiten der beiden Mädchen in den Vordergrund zu stellen. Würde man das Handicap der beiden nicht kennen, hätte man zwei pubertierende Schwestern vor Augen, die sich gern in die Haare kriegen. Die Gefahr bei einem Roman über dieses Thema ist, dass man sich als Leser in der Rolle des Voyeurs wiederfindet. Doch indem die Autorin sich auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Schwestern konzentriert, wird die Behinderung zur Nebensache. Vielmehr tritt die Gefühlsebene in den Vordergrund: das Unglücklichsein der Mädchen, die Angst vor der Außenwelt, die Träume von einem "normalen" Leben, das Ausgeliefertsein im Zirkus. Die Gefühlsebene überträgt sich auf den Leser, so dass man nicht anders kann, als mit Betroffenheit zu reagieren.
Ein großartiges Buch, über ein ungewöhnliches Thema, das mich teilweise sprachlos und betroffen gemacht hat und mich sicher noch lange beschäftigen wird. Leseempfehlung!
© Renie
Über die Autorin:
Ekaterine Togonidze wurde 1981 geboren. 2011 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrmals ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie 2012 den renommierten Saba-Preis. Ekaterine Togonidze war 2013 offizieller Gast der Leipziger Buchmesse, im gleichen Jahr war sie auch Stipendiatin des Literarischen Colloquiums Berlin.
Ekaterine Togonidze prägt seit über fünf Jahren Georgiens Literaturlandschaft. Mit ihrem ersten Roman Einsame Schwestern war sie die erste Schriftstellerin, die das Thema »Körperliche Behinderung« in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte. (Quelle: Septime)