Quelle: Edition Büchergilde/Kirchner PR |
Jedes Jahr werden in Deutschland um die 100.000 Bücher veröffentlicht. Wieviel es weltweit sind, weiß ich nicht, mag es mir auch kaum vorstellen. Ich lese sehr viel, werde aber im Leben nicht alles lesen können, was ich möchte. Lesezeit ist leider begrenzt. Daher werden mir unzählige lesenswerte Bücher durch die Lappen gehen, zum Einen, weil mir die Zeit fehlt, sie zu lesen, zum Anderen, weil ich überhaupt nicht weiß, dass sie existieren. Ich bin daher dankbar, dass es Portale wie Lit.Prom gibt, die regelmäßig über Literatur aus anderen Ländern und Kulturkreisen informieren. Literatur, über die in Deutschland sonst kaum jemand sprechen würde, die aber aufgrund ihrer Qualität durchaus viel Aufmerksamkeit verdient hätten.
Auch einige deutsche Verlage räumen den Exoten einen Platz in ihrem Programm ein. Dazu gehört auch die Büchergilde, die mit ihrer Reihe "Weltlese" die deutschsprachige Leserschaft an "weitgehend unbekannten Autoren und Autorinnen, ungewöhnlichen Themen und vergessenen Kleinodien" teilhaben lässt. Herausgeber dieser Reihe ist der Schriftsteller Ilija Trojanow, der mir aus der Seele spricht, wenn er meint "Es ist schade, einen wunderbaren Roman zu verpassen, nur weil er das Pech hat, zum Beispiel in Haiti geschrieben worden zu sein." (Auszug aus einem Interview, Quelle: Büchergilde)
Einer dieser Entdeckungen von Ilija Trojanow ist der Roman "Die Rache der Mercedes Lima" des guatemaltekischen Schriftstellers Arnoldo Gálvez Suárez.
Dieser sehr vielschichtige Roman über den Tod des Geschichtsprofessors Daniel Rodriguez Mena ist eine ungewöhnliche Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte des, vom Bürgerkrieg gebeutelten Guatemala.
"Ich roch Blut und hörte Schluchzen und die Unterhaltungen von Staatsanwälten und Sensationsreportern, die fähig sind, angesichts einer verstümmelten, von Schüssen durchsiebten oder gefolterten Leiche einen Muffin und Würstchen mit Spiegelei zu frühstücken." (S. 63)
Der Roman beginnt mit einem prägenden Kindheitserlebnis von Alberto (Ich-Erzähler), einem der beiden Söhne des Professors. Er beobachtete vor ca. 25 Jahren eine nächtliche Szene zwischen seinen Eltern: der blutverschmierte Vater, weinend und voller Angst, der von seiner Frau im Arm gehalten wird. Wenige Tage später ist Albertos Vater tot, wahrscheinlich ist er ein weiteres Opfer der Militärdiktatur geworden.
Die genauen Umstände des Todes sind den Jungen verschwiegen worden. Zu der damaligen Zeit lebte noch eine Studentin des Vaters (Mercedes Lima) für ein paar Wochen mit der Familie zusammen. Ungewöhnlich, dass eine Studentin bei ihrem Professor wohnt. Aber da sie sich in einer Notlage befand, sah der Professor es als seine Pflicht an, sich um sie zu kümmern. Sehr zum Ärger und Unverständnis seiner Frau. Jahre später vermutet Alberto, dass Mercedes Lima in irgendeiner Form in die Geschehnisse um seinen Vater verwickelt war. Als er sie per Zufall wieder trifft, reift in ihm der Gedanke, dass sie ihm bei der Aufklärung über die wahren Umstände, die zum Tod seines Vaters geführt haben, helfen könnte. Zunächst stellt er ihr heimlich nach. Irgendwann ertappt sie ihn dabei, so dass er sich gezwungen sieht, sie direkt mit seinen Fragen zu konfrontieren. Die beiden kommen sich mit der Zeit näher. Nach und nach erzählt Mercedes Lima, was damals wirklich geschah.
"Mercedes Lima lacht und weint. Es ist nicht auszumachen, wo das Lachen aufhört und das Weinen anfängt, es ist das Gleiche." (S. 234)
Es stellt sich jedoch die Frage, ob Mercedes Lima aufrichtig ist, in dem, was sie Alberto über seinen Vater und ihr Verhältnis zu ihm erzählt. Denn die Handlung um Alberto, die in der Gegenwart spielt, wird zwischenzeitlich von der Geschichte des Vaters (der 2. Ich-Erzähler) unterbrochen, die natürlich in der Vergangenheit stattfindet. Der Vater schildert die Ereignisse aus seiner Sicht. Dabei wird der Leser minimale Abweichungen von Mercedes' Version entdecken, die an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln lassen.
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Ich habe den Charakter der Mercedes Lima zwiespältig wahrgenommen. Aus der Sicht des Vaters dargestellt, ist sie eine junge Studentin, schüchtern, ängstlich, schutzbedürftig und natürlich gut aussehend. Der Vater ist von ihr verzaubert, ähnelt sie zudem einer früheren Studentin, deren Tod Schuldgefühle bei ihm ausgelöst hat. Insofern sieht er sich (quasi als Wiedergutmachung) in der Verantwortung, sich um Mercedes Lima, die in Schwierigkeiten steckt, zu kümmern.
25 Jahre später hat Mercedes nur noch wenig von dem, was sie für den Vater faszinierend gemacht hat - abgesehen von ihrem guten Aussehen, auf das auch der Sohn anspricht. Die Jahre haben sie reifer und abgeklärter gemacht. Sie hat gelernt, im Leben allein zurecht zu kommen und das nicht gerade schlecht. In ihrem Leben sind Dinge geschehen, um die sie ein großes Geheimnis macht. Erst nach und nach zeichnet sich ab, worum es dabei geht.
Die Lebenswege von Vater und Sohn weisen viele Parallelen auf. Die Figur des Vaters lässt sich folgendermaßen beschreiben: ein farbloser Typ, mit einer mittelmäßigen Karriere und einem unaufgeregten Leben; verheiratet mit einer gleichgültigen Frau, die er nicht liebt - zumindest hat er verlernt, sie zu lieben. Der Mann hat sich an sein Leben gewöhnt, träumt jedoch davon, aus seinem Durchschnittsleben auszubrechen, mal etwas zu riskieren. Die politische Situation in seinem Land jagt ihm Angst ein. Als Akademiker ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, ins Visier der Machthaber zu geraten. Daher versucht er, sich möglichst unsichtbar zu machen und sich nicht einzumischen. Er schämt sich seiner Feigheit und träumt sich daher Mut herbei. Mercedes Lima bietet ihm diese Gelegenheit.
"Er denkt: Das spielt keine Rolle, Daniel, du hast eine zweite Chance bekommen, das Mädchen mit dem langen, schwarzen, glänzenden Haar wird endlich in Frieden ruhen, dir nicht mehr ins Ohr flüstern: 'Sie müssen handeln, Ihre bürgerliche Bequemlichkeit abschütteln, aufhören, nur Zuschauer zu sein. Tun Sie endlich was, Herr Dozent!'" (S. 198)
Der Sohn Alberto hat in seinem Erwachsenenleben große Ähnlichkeit mit seinem Vater. Beruflich kommt er nicht voran, das Zusammenleben mit seiner Freundin ist von Gleichgültigkeit geprägt. Auch ihm bietet Mercedes Lima die Gelegenheit, aus seiner Routine auszubrechen.
"Es ist nicht die Angst vor dem Tod oder davor, Schrecken und Leid zu erleben. Es ist die nackte Angst, ein schweres Bleirad auf der Brust, die keinen Anfang und kein Ende hat." (S. 95)
Dieser Roman ist keine leichte Kost. Die jüngste Geschichte Guatemalas hat dem Leben in diesem Land seinen Stempel aufgedrückt. Die Angst scheint ein ständiger Begleiter im Alltag zu sein. Die Protagonisten dieses Romanes scheinen sich damit arrangiert zu haben. Gewalt und Brutalität drohen überall. Da hilft nur, den Kopf einzuziehen. Aber manchmal schafft man es nicht, sich schnell genug weg zu ducken und wird somit schneller zum Opfer als man denkt. Der Sprachstil von Suárez ist sehr eindringlich. Er beschönigt nichts. Stattdessen schildert er die Brutalität mit einer Nüchternheit, die sie umso verstörender macht.
Fazit:
Wenn man das Buchcover der Edition Büchergilde betrachtet, welches das Gemälde "La Hermandad" des guatemaltekischen Malers Carlos Perez darstellt, wird man unweigerlich von den traurigen Augen des abgebildeten Mädchens angezogen. Man verliert sich förmlich in ihrem eindringlichen Blick. Und genauso hat mich dieser besondere Roman in seinen Bann gezogen. Eindringlich, teilweise verstörend, aber fesselnd bis zum Schluss!
© Renie
Über den Autor:
Arnoldo Gálvez Suárez, geboren 1982 in Guatemala-Stadt, ist Schriftsteller und Professor für Journalistische Textgestaltung. Seit 2011 koordiniert er das Kommunikationsteam von interpeace, einer unabhängigen internationalen Organisation für Friedensarbeit. Sein Debütroman Los Jueces (2008) wurde mit dem Mario Monteforte Toledo Prize for Fictionausgzeichnet, 2013 folgte ein hochgelobter Band mit Kurzgeschichten. Der vorliegende Roman erhielt 2015 den BAM Letras Prize for Fiction. (Quelle: Edition Büchergilde)