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Donnerstag, 26. Oktober 2017

Jens Henrik Jensen: Oxen - Das erste Opfer

Quelle: Pixabay/2211438
Der Ochse (= ein kastriertes Rind) wird in der Regel als Zug- und Arbeitstier eingesetzt. Daher dichtet man diesem Tier auch ein gewisses Maß an Gutmütigkeit und stoischer Ruhe an. Weitere Attribute eines Ochsen sind Einfältigkeit, Schwerfälligkeit und Starrsinn. Der Protagonist in Jens Henrik Jensens gleichnamiger Thriller-Trilogie heißt zwar "Oxen" (= Ochsen). Doch die einzige Eigenschaft, die ihn mit den Ochsen verbindet, ist der Starrsinn. Denn Niels Oxen kann stur sein wie ein Ochse. Und seinen Namen hat er sich schließlich nicht ausgesucht.
Ausser Jussi Adler-Olsen kannte ich bisher leider keine weiteren dänischen Thriller-Autoren. Doch mit der Trilogie "Oxen", über einen ehemaligen Elitesoldaten und Kriegshelden, der sich notgedrungen als Verbrechensbekämpfer rekrutieren lässt, erweist sich der Autor Jens Henrik Jensen als weiterer Garant für intelligente und hochspannende Thriller aus Dänemark. Tatsächlich wird Jensen mittlerweile als Shooting Star der skandinavischen Krimiszene gehandelt. Der dtv Verlag hat nun den ersten Teil der Trilogie vor Kurzem in Deutschland veröffentlicht. Teil 2 und 3 kommen in 2018 bzw. 2019 auf den Markt.
"Keine öffentliche Behörde, keine berufliche Organisation oder militärische Interessengruppe hatte eine Ahnung, wo sich Niels Oxen befand. Oder ob er sich überhaupt noch irgendwo befand." (S. 110)
Das kleine Dänemark als kriegerische Nation, das einen Kriegshelden hervorgebracht hat? Kaum zu glauben. Aber man darf nicht vergessen, dass Dänemark zu den Gründungsmitgliedern der Nato gehörte und von Beginn an die Nato-Streitkräfte bei Einsätzen in Krisengebieten unterstützt hat, so auch in Afghanistan oder auf dem Balkan.
Der Soldat Oxen war an diesen Einsätzen beteiligt. Dabei hat er sich durch mehrere (wage)mutige Aktionen hervorgetan und so manchem Kollegen das Leben gerettet. Für diese Einsätze ist er in seiner Heimat mehrfach geehrt worden, u. a. mit der höchsten Auszeichnung, die jemals in Dänemark vergeben wurde, dem Tapferkeitskreuz. Er ist der höchstdekorierte Soldat Dänemarks. Ein echter Held, wenn auch kein strahlender.
Denn die Kriegseinsätze haben ihren seelischen Tribut gefordert. Er leidet unter dem posttraumatischen Syndrom. Die schrecklichen Erlebnisse des Krieges lassen ihn nicht los und bestimmen sein Leben nach dem Krieg. Seine Ehe scheitert, er ist nicht mehr in der Lage, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Er entscheidet sich für die Anonymität der Obdachlosigkeit, anfangs in der Stadt, später in den dänischen Wälder, wo er ein Leben in völliger Abgeschiedenheit führt. Er meidet die Menschen. Sein einziger Freund und Begleiter ist sein Hund.
"'Dann haben wir es also mit einem unfassbar verdreckten, mittellosen Freak zu tun, der in Wirklichkeit so tapfer und heldenhaft ist, dass er sich sicher sein kann, in die dänische Geschichte einzugehen. ...'" (S. 74)
Quelle: dtv
Hunde spielen übrigens eine große Rolle in diesem Roman. Denn der Thriller beginnt mit dem Mord an einem Hund. Es wird nicht bei dem einzigen toten Hund bleiben. Und dort, wo ein Hund stirbt, lässt das gewaltsame Ableben des Herrchens auch nicht lange auf sich warten. Die Herrchen sind Größen der dänischen Politik und Wirtschaft. Eine Verbindung zwischen den Männern lässt sich für die Behörden zunächst nicht erkennen.
Niels Oxen gerät per Zufall in die Ermittlungen. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Wald, den er sich als sein Domizil ausgesucht hat, gehört zum Anwesen eines der Mordopfer.
Aufgrund der Wichtigkeit und des Einflusses der Opfer schaltet sich der dänische Geheimdienst ein. Oxen steht unter Mordverdacht, doch außer Indizien gibt es keinerlei Hinweise auf seine Schuld. Die Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Durch das große öffentliche Interesse an diesem Fall, greift der Geheimdienst zu einem unorthodoxen Mittel. Sie beauftragen Oxen, die Ermittlungen zu unterstützen. Sein Heldenruf und seine Fähigkeiten als Ex-Elitesoldat wiegen mehr als der Mordverdacht gegen ihn. Seine Auftraggeber lassen ihm freie Hand, auch wenn er illegale Mittel anwenden muss, um die Morduntersuchung voranzutreiben.
Oxen nimmt den Auftrag an. Denn die Mordfälle sind für ihn zu einer sehr persönlichen Angelegenheit geworden.

Der wortkarge und misstrauische Ex-Soldat bekommt eine Beamtin des Geheimdienstes an seine Seite: Margrethe, ein Ass auf dem Gebiet der Informationsbeschaffung, energisch, logisch, hochintelligent und mordsgefährlich - auch wenn sie nur auf einem Bein unterwegs ist. Das andere hat sie vor Jahren bei einem Polizeieinsatz verloren.
Oxen und Margrethe werden sich im Lauf der Ermittlungen zusammenraufen müssen. Seit Jahren hatte Oxen keinen Menschen an seiner Seite, musste seine Handlungen nicht rechtfertigen und war sein eigener Herr. Nun ist er mit einer Partnerin gestraft, die mindestens so eigensinnig ist wie er. Margrethe hat sich auch nicht um den Eigenbrötler gerissen. Die Ablehnung beruht also auf Gegenseitigkeit. Sie nutzt ihre Fähigkeiten, um Informationen über Oxen zu sammeln. So bekommt sie mit der Zeit ein Bild von ihrem "Partner", das jedoch viele Unklarheiten aufweist. Anfangs scheinen die beiden auch eher gegeneinander als miteinander zu arbeiten. Das Misstrauen ist einfach zu groß. Doch je tiefer sie sich in die Ermittlungen graben, um so mehr Gewissheit bekommen sie, dass hinter den Mordfällen eine große Verschwörung mit viel politischer Brisanz steckt, so dass sie gar nicht anders können als einander zu vertrauen.
"Und er wusste genau, was sie begafften. Sie versuchten, die vielen Orden zu durchschauen, die sie nicht sehen konnten. Nichts hätte ihm gleichgültiger sein können." (S. 102)
Dieser Thriller ist Spannung pur. Die Wendungen, die die Handlung nimmt, sind dabei nicht vorhersehbar und überraschen den Leser immer wieder aufs Neue.
Jens Henrik Jensen erzählt seinen Thriller in mehreren Handlungssträngen. Neben der Handlung um Oxen, seiner Vergangenheit und seiner Ermittlungen, trifft der Leser immer wieder auf den Mörder und seine Opfer. Der Mörder bleibt dabei anonym. Der Leser erhält dosierte Informationen, die ihn lange Zeit im Dunkeln tappen lassen. Erst mit der Zeit zeichnet sich ein Bild des Mörders und seiner Motive ab. Doch mit der Aufkärung der Morde ist es nicht getan. Denn der Leser wird an diesem Punkt feststellen, dass eine Verschwörung das Motiv für die Morde ist. Und tatsächlich wird man von da ab so etwas wie Verständnis und Mitgefühl für den Mörder empfinden. Denn in Jensens Thriller werden die Mörder am Ende zu Opfern und die Opfer werden zu Verbrechern.

Fazit:
Ein großartiger Auftakt einer Thriller-Trilogie um einen traumatisierten Ex-Elitesoldaten. Dabei erwartet den Leser eine gelungene Kombination aus einer Charakterstudie um diesen Soldaten und seinen Schwierigkeiten,  in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen sowie einem spannenden Thriller, der durch seine unvorhersehbaren Wendungen überzeugt.

© Renie




Über den Autor:
Jens Henrik Jensen wurde 1963 in Søvind, Dänemark, geboren. Er hat 25 Jahre als Journalist gearbeitet und war in verschiedenen Funktionen, u. a. als Nachrichtenredakteur, für die Tageszeitung ›JydskeVestkysten‹ tätig. Seit 2015 widmet er sich ganz dem Schreiben von Büchern. Sein Debütroman, ›Wienerringen‹, erschien 1997, in den folgenden Jahren veröffentlichte er die Kazanzki-Trilogie sowie die Nina-Portland-Reihe. Im Rahmen der Recherche für seine Bücher reiste Jensen nach Murmansk, Krakau und durch den Balkan. Weitere Reisen führten ihn nach Australien und Neuseeland sowie nach Nord- und Südamerika. Die drei Bände der OXEN-Trilogie, die in Dänemark von 2012 bis 2016 erschienen, stehen an der Spitze der Bestsellerlisten, wurden bereits in zehn Länder verkauft, und SF Studios sicherte sich die Filmrechte. 2017 gewann Jens Henrik Jensen den Danish Crime Award. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in seiner Heimatstadt. (Quelle: dtv)

Freitag, 20. Oktober 2017

Lasha Bugadze: Lucrecia515

Quelle: Pixabay/Pezibear
Ein Mann ohne Sinn und Verstand, mit der Libido eines Hengstes und dem Feingefühl einer Dampfwalze - das ist Sandro, der Protagonist aus Lasha Bugadzes erotischer Gesellschaftssatire "Lucrecia515".
Mit Lucrecia ist hier nicht die legendäre, männermordende Giftmischerin und Ehebrecherin aus dem alten italienischen Adelsgeschlecht Borgia gemeint - obwohl sich mindestens eine ihrer Eigenschaften in diesem Roman wiederfinden. Stattdessen ist Lucrecia515 das Passwort zu Sandros E-Mail-Account, das sich seine Frau Keti mit der Hilfe eines Hackers besorgt hat.
Keti ist eifersüchtig, zu Recht. Denn Göttergatte Sandro lässt nichts anbrennen, wenn es um amouröse Abenteuer außer Haus geht. Sandro präsentiert sich dem Leser jedoch nicht als charmanter Womanizer, der die Frauen um der Frauen Willen liebt und verwöhnt. Nein, Sandro ist eher der Jäger und Sammler. Immer auf der Jagd nach einem Stück weiblichen Fleisches, das seine Libido befriedigt, reiht er eine Frau nach der anderen in seine Sammlung "der dummen Weiber, die sich von ihm flachlegen lassen" ein. Er hat kein spezielles Beuteschema, nur willig muss sie sein. Daher scheut er sich auch nicht, sich zum Narren machen zu lassen, wenn sein Jagdopfer deutlich jünger ist als er. Es gibt Frauen, die wecken seinen Ehrgeiz. Das sind diejenigen, die ihn zunächst hinhalten. Doch am Ende kriegt er sie alle.
"Es war unmöglich, Sandro nicht zu vertrauen. Seine Kleidung, sein Teint, seine etwas überlangen Koteletten, die rosig-gesunden Wangen - all das schloss ein Nein in jeder Hinsicht aus." (S. 15)
Seine neueste Eroberung Ana zeigt ihm jedoch seine Grenzen auf. In ihr hat er seine Meisterin gefunden. Sie ist nicht so leicht zu knacken wie die anderen. Ana arbeitet fürs Fernsehen, hat daher einen Prominentenstatus, ist selbstbewusst. Sie sucht keine Beziehung, sondern ist lediglich auf Sex aus. Eine ungewohnte Situation für Sandro, der von seinen Frauen gewohnt ist, dass sie von einer gemeinsamen Zukunft mit ihm träumen. So ganz passen TV-Ana und Soßenfabrikant Sandro nicht zusammen. Außer dem Sex verbindet sie nichts. Ana hält ihn auf Distanz. Sie diktiert die Regeln ihres Miteinanders, was Sandro nicht wahrhaben möchte. Er kämpft, um Oberhand in dieser Verbindung zu bekommen.
"Normalerweise war es so, dass irgendwelche Frauen ihm nachliefen, nur weil er sie ein paar Mal angerufen hatte, und jetzt schien es plötzlich so zu sein, dass Sandro verliebt war und sie tatsächlich nur Sex wollte." (S. 81)
Und mitten in die Jagd auf Ana platzt Keti, die Ehefrau, die dank "Lucrecia515" Einblick in den Schriftverkehr zwischen Ana und Sandro hat. Die Liebes-E-Mails sind teils deftig, teils lügnerisch, teils verleumderisch. Keti wird insbesondere von Ana als die dumme gehörnte Ehefrau dargestellt, die an ihrem bequemen und sorgenfreien Leben festhält. Dafür nimmt sie  auch einen Don Juan als Ehemann in Kauf. Man möchte diese Darstellung der Ehefrau unterschreiben. Viel zu tolerant und leidensfähig ist Keti - bis jetzt. Doch scheinbar hat die Liebelei zwischen Ana und Sandro das Faß zum Überlaufen gebracht. Anfangs schreibt Keti an Ana unter Sandros Namen über seinen E-Mail Account. Irgendwann gibt sie sich als die Ehefrau zu erkennen. Die Frauen bekriegen sich per E-Mail. Doch je häufiger sie sich schreiben, umso mehr Lügen und Peinlichkeiten Sandros werden enthüllt. Auch wenn Sandro es nicht wahrhaben möchte. Aber seine Felle schwimmen davon. Am Ende wird er sich als Opfer fühlen, das von seinen Frauen missverstanden und ungerecht behandelt wird.

Arme (georgische) Gesellschaft. Was ist nur mit deinen Männern los? Sandro steht in diesem Roman stellvertretend für seine Geschlechtsgenossen. Denn man wird irritiert feststellen, dass das Fremdgehen bei den Männern in diesem Roman zum guten Ton gehört, von diesen mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit betrieben wird sowie beliebtes Thema bei Männergesprächen ist. Der Autor Lasha Bugadze stellt dabei die männlichen Charaktere in seinem Buch mit all ihren Makeln dar: Bauch(ansatz), Haarausfall, Koteletten, Alkoholismus, Selbstherrlichkeit. Dadurch macht er aus den Herren der Schöpfung tragische Gestalten in der Midlife-Crisis, die eher Mitleid als Verachtung verdienen. Das ist im Übrigen das Schöne an diesem Buch. Die Frage nach Sympathie oder Antipathie für die Charaktere stellt sich nicht, sondern eher "Wer verdient das größere Mitleid? Männlein oder Weiblein?"

Denn auch die Frauen präsentieren sich bei Lasha Bugadza nicht gerade als die Krone der Schöpfung. Frauen, die sich bereitwillig zum Mittel sexueller Befriedigung degradieren lassen und sich dann noch für dumm verkaufen lassen, sind peinlich. Wie schön, dass am Ende bei Bugadze die Frauen Oberwasser haben und dadurch wieder Punkte gut machen können.
"Hysterisch sollte ich werden, mich wie ein Verrückter bei allen entschuldigen und mit Schweiß und Blut beweisen, dass ich das alles niemals wiederholen würde ....." (S. 303)
Die Zeiten der parfümierten Liebesbriefe sind leider vorbei. Heutzutage müssen E-Mails, SMS und Skype als probates Kommunikationsmittel der Liebe und Leidenschaft herhalten. Lasha Bugadze hat für seinen Roman einen sehr modernen Aufbau gewählt. Geschickt bindet er die Texte der modernen Kommunikationsmittel in die Handlung und den Erzähltext ein. Man trifft auf Sandros Gedankengänge, verfolgt Gespräche zwischen Freunden und betrachtet die Handlung aus unterschiedlichen Perspektive, so auch aus der Sicht von Keti oder Ana. Und für den Leser, der auch mal sein Glück beim Fremdgehen versuchen möchte, gibt es detaillierte Verhaltensregeln für den Umgang mit den Frauen (sowohl der Eigenen als auch der bzw. den Anderen).

Sex findet in diesem Roman ebenfalls statt. Schließlich reden wir von einer erotischen Gesellschaftssatire. Nur, dass der Sex in diesem Roman die Erotik einer Darmspiegelung hat und eher mit dezentem Ekel und Unwohlsein als mit anregendem Kribbel wahrgenommen wird. Das Erotischste an diesem Buch ist für mich daher das Buchcover mit der leichtbekleideten Dame sowie der langen Beine. Doch das ist gut so, steht doch die Satire im Vordergrund und nicht der Sex.

Fazit:
Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Thema wie "der (georgische) Mann als notorischer Schürzenjäger" derart packen kann. Doch genau das ist passiert. Ich habe mich köstlich amüsiert, gewundert, aufgeregt, geärgert und hatte Mitleid. Ein herrliches Buch!

© Renie



Über den Autor:
Lasha Bugadze, geboren 1977, zählt zu den wichtigsten Autoren Georgiens. Seine Romane und Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Er lebt in Tbilissi und ist dort bekannt für seine Literatursendungen in Radio und Fernsehen. In der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen seine Romane »Der Literaturexpress« (2015) und »LUCRECIA515« (2017), beide in der Übersetzung von Nino Haratischwili. (Quelle: FVA)



In 2016 erschien in der Frankfurter Verlagsanstalt Bugadzes Roman "Der Literaturexpress", den ich ebenfalls mit großem Vergnügen gelesen habe. Hier geht es zu der Buchbesprechung ...






Dienstag, 17. Oktober 2017

Im Gespräch mit Raquel J. Palacio

Raquel J. Palacio (rechts im Bild) und Renie
auf der Frankfurter Buchmesse

Die amerikanische Bestseller-Autorin Raquel J. Palacio ist in Deutschland durch ihren Kinderroman "Wunder" bekannt geworden, den sie 2012 erstmalig veröffentlicht hat, und der 2 Jahre später mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Mittlerweile ist dieser Roman weltweit in mehr als 7 Sprachen erschienen und hat sich millionenfach verkauft. Gerade ist in Amerika die Romanverfilmung in den Kinos angelaufen, u. a. mit Julia Roberts und Owen Wilson. In Deutschland erscheint der Film im Januar 2018. Der Film-Trailer ist bereits veröffentlicht. 

In "Wunder" geht es um den 10-jährigen August Pullman, genannt Augie, der aufgrund einer Erbkrankheit und daraus resultierender Operationen ein missgestaltetes Gesicht hat.
Jetzt soll er zum ersten Mal eine öffentliche Schule besuchen. Der Roman schildert Augies Erlebnisse während seines ersten Jahres an dieser Schule.
"Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt - es ist schlimmer." (aus "Wunder")
Das Interview
Ich hatte nun die Gelegenheit, die wundervolle und sympathische Raquel J. Palacio - geistige Mutter von Augie - auf der Frankfurter Buchmesse 2017 zu treffen und ein Interview mit ihr zu führen. Das Ergebnis war ein energiegeladenes und sehr persönliches Gespräch. Raquel hat meine Fragen mit einer Engelsgeduld und sehr viel Begeisterung beantwortet.

Renie: Raquel, zunächst habe ich eine Frage zu Ihrer Karriere. Sie haben über 20 Jahre als erfolgreiche Grafikdesignerin und Art Director gearbeitet. Was brachte Sie dazu, das Metier zu wechseln und einen Kinderroman zu schreiben?
Raquel J. Palacio: Während meiner Zeit als Grafik Designerin habe ich mich immer wieder schriftstellerisch versucht. Ich habe viel für mich geschrieben, meistens Kurzgeschichten, die ich oft angefangen habe, aber selten zu Ende gebracht habe. Man kann also sagen, dass ich eher im Geheimen und nur für mich geschrieben habe. Und dann war da eines Tages dieses Erlebnis, das ich mit meinen Söhnen hatte: Während eines Ausflugs sahen wir diesen kleinen Jungen, der ein missgestaltetes Gesicht hatte und natürlich von allen angestarrt wurde. Das hat in mir etwas ausgelöst. Ich habe mich gefragt, wie es sich in einer Welt lebt, in der du permanent angestarrt wirst. Was macht das mit dir? Ich hatte das Bedürfnis eine Geschichte über dieses Thema zu schreiben.
Aus diesem Erlebnis heraus ist also die Idee für meinen Roman „Wunder“ entstanden. Und so wurde ich zur Schriftstellerin.

Renie: Hatten Sie bei diesem Roman Unterstützung von Ihren Kindern?
Raquel J. Palacio: Nein, hatte ich nicht. Mein jüngster Sohn war zu diesem Zeitpunkt 3 Jahre alt, mein Ältester war 12 und hat mit Büchern nichts zu tun haben wollen. (Mittlerweile hat sich das geändert ;-))
Daher stand für mich fest, ein Buch zu schreiben, das ihn zum Lesen bringt. Ich habe den Aufbau von „Wunder“ sowie ein paar Aspekte des Buches bewusst auf ihn angepasst: kurze Kapitel, witzige Szenen, wie die "pupsende Krankenschwester", Elemente aus Star Wars etc.. Ich wusste, dass mein Buch nicht mit anderen Büchern konkurrieren musste - er hat schließlich nicht gelesen - sondern eher mit Computerspielen, Handy und TV.
Um einen Jungen zum Lesen zu bringen, musst du seine Neugierde wecken. Du brauchst einen schnellen Einstieg in die Geschichte und musst ihn gedanklich beschäftigen, damit er dabei bleibt. Und das ist mir gelungen.

Renie: Der Aufbau Ihres Romans ist sehr besonders. Sie lassen die Handlung in Augies erstem Jahr an einer Schule aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Natürlich bekommt Augie viel Raum, aber auch Mitschüler oder seine Schwester kommen zu Wort.
Warum haben Sie sich für einen derartigen Aufbau entschieden?
Raquel J. Palacio: Es ist wichtig für Kinder, dass sie mit den Charakteren in einem Buch mitfühlen können. Nicht jeder kann sich in Augie hineinversetzen. Aber aufgrund der Vielzahl der Charaktere in diesem Buch, findet jedes Kind mindestens eine Person, zu der es eine Verbindung herstellen kann.
So hat sich z. B. mein jüngster Sohn mit Jack, Augies Freund, identifiziert. Und tatsächlich war er am Boden zerstört, als Augie in dem Buch von Jack verraten wurde. Er wollte unbedingt wissen, warum Jack das getan hat. Die Erklärung kommt später in dem Buch. Damit hat sich mein Sohn dann zufrieden gegeben. 
Quelle: dtv

Renie: Hatten Sie Einfluss auf die Gestaltung des Buches? Ich denke da insbesondere an das Buchcover, wobei ich leider nur die deutsche Version kenne.
Raquel J. Palacio: Viele denken immer, dass ich als Art Director nur schwer zufrieden zu stellen bin. Das stimmt  aber gar nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin immer wieder erstaunt, was die Illustratoren aus meinem Buch machen. Bei der amerikanischen Variante hatte ich Mitspracherecht. Die deutsche Version habe ich erst gesehen, als das Buch veröffentlicht wurde. Und ich bin von dieser Version wirklich angetan. Ich würde nichts daran ändern wollen.

Renie: Kurz nach dem Erscheinen von „Wunder“ haben Sie weitere Bücher veröffentlicht, die in Bezug zu diesem Roman stehen, z. B. "Wunder - Wie Julian es sah", oder "Wunder - Charlottes Auftritt". Julian und Charlotte sind Kinder, die an Augies Schule waren. Julian war sozusagen der Ober-Mobber und Augies Gegner.  Aber erst in den nachfolgenden Büchern haben diese Charaktere Gelegenheit, die Geschichte um Augie aus ihrer Sicht zu schildern. Warum?
Raquel J. Palacio: Anfangs wollte ich den Roman ausschließlich aus der Sicht von Augie schreiben. Aber dann wurde ich neugierig und habe mich gefragt, welche Motivation andere Charaktere in dem Buch haben, so zu handeln, wie sie handeln. Und wenn ich neugierig auf die Motivation der Figuren bin, sind es meine Leser auch.

Wenn ich darüberhinaus wissen möchte, welche Wirkung Augie auf die anderen hat, muss ich seine Perspektive verlassen und in die Gedanken der anderen eintauchen und deren Sichtweise kennenlernen.

Renie: Haben Sie die Absicht noch weitere Charaktere zu Wort kommen zu lassen? Ich denke da insbesondere an die Erwachsenen, also die Eltern oder Lehrer?
Raquel J. Palacio: Meine Leserschaft besteht in erster Linie aus Kindern, und das soll auch so bleiben. Diese Kinder nehmen die Erwachsenen und Eltern aus ihrer Sicht war und haben dadurch ein ganz bestimmtes Bild von ihnen. Eltern wollen ihre Kinder schützen, sie wollen ihre kindliche Unschuld bewahren. Sie fluchen z. B. nicht vor ihren Kindern - naja, meistens nicht - , sie nehmen sich zurück, versuchen die Fassung zu bewahren. Augies Eltern zeigen sich ihm gegenüber immer optimistisch und positiv. Sie wollen nicht, dass er sie deprimiert und traurig erlebt. Natürlich haben sie Sorgen, sind manchmal am verzweifeln und vertrauen sich höchstens ihren Freunden an.
Ich denke nicht, dass Kinder diese Seiten eines Erwachsenen sehen sollten. Man möchte die kindliche Unbeschwertheit und Freude erhalten und nicht durch Sorgen und negative Stimmungen zerstören.

Renie: Augie ist doch sicherlich Teil Ihrer Familie geworden?
Raquel J. Palacio: Oh ja. Er ist wie ein weiterer Sohn für mich. Sogar mein Jüngster sieht Augie als seinen kleinen Bruder an und meinte neulich, dass alles in unserer Familie irgendwie mit „Wunder“ zu tun hat.

Renie: Mittlerweile gibt es zu Ihrem Roman einen Kinofilm, der bereits in Amerika angelaufen ist. Im Januar kommt der Film „Wunder“ in die deutschen Kinos, u. a. mit Julia Roberts und Owen Wilson in der Rolle der Eltern. Wie groß war Ihr Einfluss auf die Dreharbeiten. Sind Sie einbezogen worden?
Raquel J. Palacio: Ich wurde tatsächlich intensiver einbezogen, als ich vorher angenommen hatte. Ich konnte bei vielen Dingen mitreden - nicht bei allen - aber doch so viel, dass ich das Gefühl hatte, Einfluss nehmen zu können. Ich war am Set, habe die Schauspieler kennengelernt. Es war eine interessante Erfahrung. Ich habe den Film mittlerweile gesehen, und er ist fantastisch geworden.

Renie: Ich werde leider häufig von Buchverfilmungen enttäuscht. Das liegt meistens daran, dass die Schauspieler, die gezeigt werden, nie den Bildern der Charaktere entsprechen, die beim Lesen in meinem Kopf entstanden sind.
Raquel J. Palacio: Das stimmt. Und das wird auch bei Augie der Fall sein. Die Filmemacher mussten sich entscheiden. Sie wollten den Film für Menschen in jedem Alter machen. Daher haben sie sich für ein moderates Aussehen von Augie entschieden. Sie wollten ganz einfach den Horror-Effekt vermeiden. 
Ich habe diese Entscheidung akzeptiert, auch wenn der Film-Augie nicht dem Augie meiner Fantasie entspricht. Aber es funktioniert trotzdem. Denn seien wir doch mal ehrlich. Oft reicht schon ein Muttermal im Gesicht, um den Effekt zu erzielen, den Augie auf andere Menschen hat. Gestarrt wird immer. Insofern ist es nicht wichtig, dass der Film-Augie harmloser aussieht als der Augie aus meiner Fantasie.
Es lohnt sich, den Film anzusehen. Die Filmemacher haben sich eng an das Buch gehalten und nur dort Änderungen vorgenommen, wo sie nicht zu vermeiden waren. Julia Roberts in der Rolle der Mutter wird Ihnen das Herz brechen.
© Russell Gordon
Quelle: dtv

Renie: Nun meine letzte Frage: An welchem Projekt arbeiten Sie gerade?
Raquel J. Palacio: Ich habe vor einiger Zeit einen Roman für Kinder begonnen, aber wieder abgebrochen. Denn die Präsidentschaftswahlen in Amerika kamen dazwischen. Und ich hatte auf einmal das Bedürfnis etwas zu schreiben, das einen aktuellen Bezug zu unserer Vergangenheit und unserem Leben hat. Die Nachrichten, die wir jeden Tag im Fernsehen sehen, sind einfach zu besorgniserregend. In "Wunder - Wie es Julian sah" gibt es ein Kapitel, in dem Julians jüdische Großmutter von ihrem Leben in Frankreich während des 2. Weltkrieges erzählt.
Ich arbeite nun an einer Graphic Novel für Kinder, die diese Geschichte zum Thema hat. Ich hoffe, dass die Leser Parallelen sehen, zwischen dem, was damals passiert ist, und dem was heute in Amerika los ist. Nazis marschieren heutzutage durch die amerikanischen Städte. Ich kann das nicht glauben. Es ist verrückt …. unter den Blicken der Regierung von Trump …. Das macht mich traurig. Ich hoffe, dass die Leute eine Verbindung zu unserer Vergangenheit sehen, sich erinnern und dafür sorgen, dass diese Zeiten sich nicht wiederholen werden.
Deutschland ist da weiter als Amerika. In deutschen Schulen werden die Kinder über die Vergangenheit aufgeklärt. So sollte es auf der ganzen Welt sein. Doch leider ist es nicht so, insbesondere nicht in den USA. Die Amerikaner leiden unter Gedächtnisschwund und beschäftigen sich nicht mit der Vergangenheit. Sie leugnen einfach, was passiert ist.

Und deshalb schreibe ich diese Graphic Novel, mit der Absicht meinen Lesern die Vergangenheit näher zu bringen. Ich hoffe, es funktioniert.

Renie: Raquel, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch. Ich wünschen Ihnen alles Gute. Genießen Sie noch die Messe und kommen Sie gut zurück nach Hause in die USA.

© Renie


Ich habe Raquel Palacios Roman "Wunder" vor ca. einem halben Jahr zusammen mit meinem Sohn gelesen und besprochen. Hier geht es zu unserer Buchbesprechung.


(Eine Neuauflage des Buches erscheint im Dezember 2017.)


Sonntag, 8. Oktober 2017

John Williams: Nichts als die Nacht

Quelle: Pixabay/harutmovsisyan
Der Amerikaner John Williams hat sich seit der Wiederentdeckung und Neuauflage seines Romanes "Stoner" im Jahre 2006 posthum zum Kultautor entwickelt. Die meisten Leser, die sich mit den Büchern von Williams beschäftigen, sind von seinem kraftvollen Sprachstil angetan.

In der vorliegenden Novelle "Nichts als die Nacht" handelt es sich um das Erstlingswerk des Autors, das er im Alter von 22 Jahren geschrieben hat. Die Umstände, unter denen dieses Buch entstand, sind mehr als ungewöhnlich: Williams trat während des 2. Weltkrieges in das US Army Air Corps ein und wurde zum Kriegseinsatz nach Indien und Burma versetzt. Nach einem Flugzeugabsturz über dem Dschungel Burmas, wartete er schwerverletzt und von Todesangst geplagt auf seine Rettung. In dieser Zeit schrieb er sein Erstlingswerk "Nichts als die Nacht".
Quelle: dtv
"Dann aber glaubt er plötzlich, dass ihm nie ein Vorwurf für das gemacht werden konnte, was immer ihm auch im Laufe seines Lebens widerfuhr. Denn er handelte nicht aus eigenem Antrieb, hatte es nie getan. Irgendeine unsagbare Kraft drängte ihn von einem Ort zum anderen, und dies auf Wegen, die er vielleicht gar nicht nehmen wollte, durch Türen, von denen er nicht wusste, wohin sie führten, und es auch nicht wissen wollte. Alles war dunkel, namenlos, und er ging durch diese Dunkelheit." (S. 90)
"Nichts als die Nacht" behandelt 12 Stunden im Leben des Arthur Maxley. Während dieser 12 Stunden präsentiert sich dem Leser ein verstörter und seelisch zerrissener Protagonist, angetrieben von einer traumatischen Kindheitserinnerung, die er zwar zu unterdrücken weiß, die ihn aber trotzdem ständig unterschwellig begleitet. Diese Kindheitserinnerung scheint der Schlüssel zu seinen seelischen Problemen zu sein. Während dieser 12 Stunden wird Arthur nach einem morgendlichen Spaziergang einen Bekannten in einer Bar treffen. Später ist er mit seinem Vater verabredet, der aus beruflichen Gründen nur selten in Amerika ist, ebenfalls auf der Flucht vor der Vergangenheit. Zum Ende des Tages wird er wieder in einer Bar landen, wo durch ein banales Ereignis die Erinnerung, die ihn seelisch quält, auf einmal präsent sein wird. Er wird von einer Frau aus der Bar mit in ihre Wohnung genommen. Am Ende wird der Abend jedoch nicht so verlaufen wie beide gehofft haben.

Die Frage, welche den Leser von Beginn an beschäftigt, lautet: "Was ist in Arthurs Kindheit passiert, dass er zu dem geworden ist, der er ist?" Zum Ende wird der Leser zwar eine Antwort auf diese Frage erhalten. Doch trotzdem wird er nicht mit dieser Antwort zufrieden sein. Zu intensiv ist Arthurs innere Getriebenheit und das damit verbundene Gedankenchaos, das sich auf den Leser überträgt. Natürlich fragt man sich auch, wieviel John Williams in der Figur des Arthur Maxley steckt. Diese Frage lässt sich nur ansatzweise beantworten und lässt daher viel Raum für Spekulationen. Das hochinteressante Nachwort von Simon Strauß in der Ausgabe des dtv Verlages liefert dankenswerterweise einige Erklärungsansätze, die am Ende für ein wenig Entspannung und Ordnung in dem Gedankenchaos sorgen.
"Der Morgen hatte etwas an sich, was er nicht mochte, etwas, wie er fand, geradezu Obszönes. Es war, als erhöbe sich die Zeit allmorgendlich aufs Neue aus ihrem nächtlichen Grab, um über die Erde zu schleichen und sie sowie alles, was darauf wandelte, mit klammen Händen zu berühren. Und der Morgentau verströmte einen modrigen, übel riechenden Duft, der ihm so unangenehm in die Nase drang wie der muffige Geruch düsterer Zimmer in verlassenen Häusern." (S. 18)
Wer "Stoner" gelesen hat, wird sich fragen, ob diese Novelle wirklich von John Williams ist. Denn den wundervollen Sprachstil in dem "Stoner" geschrieben ist, der den Leser in einen Zustand innerer Ruhe versetzt, gibt es hier nicht. Stattdessen erwartet den Leser Zerrissenheit, Getriebenheit und Tragik. Das macht das Lesen sehr anstrengend, lässt man sich doch von dieser hohen Emotionalität anstecken. Der damals erst 22-jährige Williams, schriftstellerisch noch völlig unerfahren, entwickelte in seinem Erstlingswerk eine förmliche Gier nach der ultimativen Metapher. Ich bin sonst Freund einer metapherreichen Sprache. Doch hier war es mir einige Male des Guten zu viel. Zu abstrus und gezwungen wirkten die Sprachkonstruktionen. Simon Strauß erklärt dies in seinem Nachwort mit "dem jugendlichen Drang nach Vergegenwärtigung" und dem "allgegenwärtigem Wunsch nach Intensität, nach unbedingter Wirkung eines jungen Autors". Diesen Erklärungsansatz will ich gern akzeptieren. Glücklicherweise hat Williams diese Gier mit den Jahren in den Griff bekommen.

Fazit:
Dem Nachwort entnehme ich, dass John Williams sein Erstlingswerk in seinen späteren Jahren verleugnet hat. Der Verfasser des Nachworts vermutet, dass Williams die Geschichte "zu unfertig, zu verletzlich und angreifbar" erschien. Vielleicht war es dem späteren Williams auch einfach nur peinlich, was er als Jüngling in dieser damals hochdramatischen Situation im Dschungel fabriziert hat.

Wie auch immer, seine Selbstkritik ist meines Erachtens übertrieben. Denn diese Novelle ist nichts, wofür man sich schämen muss. Sie ist das Werk eines unerfahrenen Schriftstellers, der sich seine Todesangst von der Seele geschrieben hat. Dass daraus eine Geschichte entsteht, die verstörend und anstrengend ist, ist dabei nur verständlich.

© Renie





Über den Autor:
John Williams wurde 1922 in Texas geboren. Trotz seiner Begabung brach er sein Studium ab. Widerstrebend beteiligte er sich an den Kriegsvorbereitungen der Amerikaner und wurde Mitglied des Army Air Corps. Während dieser Zeit entstand die Erstfassung seines ersten Romans, der später von einem kleinen Verlag publiziert wurde. Williams erlangte an der University of Denver seinen Master. 1954 kehrte er als Dozent an diese Universität zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 1985. Er veröffentlichte zwei Gedichtbände und vier Romane, von denen einer mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde.John Williams starb 1994 in Fayetteville, Arkansas. (Quelle: dtv)






Freitag, 6. Oktober 2017

J. Paul Henderson: Der Vater, der vom Himmel fiel

Photo by Annie Spratt on Unsplash
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen ... aber Väter tun dies scheinbar.  Zumindest in der Literatur ;-) Vor kurzem ist J. Paul Hendersons neuer Roman "Der Vater, der vom Himmel fiel" erschienen. Endlich! Seit ich im letzten Jahr seinen Roman "Letzter Bus nach Coffeeville" gelesen habe, bin ich Fan des Autors.

Der Vater, der hier vom Himmel fällt, ist Lyle Bowman, den gleich zu Beginn des Romans das Zeitliche segnet. Eigentlich fällt er gar nicht vom Himmel, sondern erscheint seinem jüngsten Sohn Greg, der eigens zur Beerdigung seines Vaters aus Amerika angereist ist. Lyle ist durch eine Verkettung unglücklicher und dämlicher Umstände gestorben. Und wie das so oft bei Beerdigungen der Fall ist, treffen hier Menschen aufeinander, die sich seit Jahren aus den Augen verloren haben. Hier sind es Billy und Greg Bowman, die beiden Söhne Lyles.
Quelle: Diogenes

Greg, das schwarze Schaf der Familie, hat es vor ein paar Jahren nach Amerika verschlagen. Sein Bruder hingegen hat die Heimat England nie verlassen. Mittlerweile ist Billy verheiratet und hat eine Tochter. Greg war immer das schwarze Schaf der Familie, Billy war eher der Typ "dummes Schaf". Auch schwarze Schafe können beruflich erfolgreich sein: Greg hat mittlerweile eine Dozentenstelle an der Uni. Billy konnte bisher beruflich auf keinen grünen Zweig kommen. Egal, welchen Job er annimmt, er wird  immer als der Loosertyp angesehen - leider nicht nur von den Kollegen sondern auch von der eigenen Frau. 
"'Nimm die Dinge, wie sie kommen. Wenn du mal unten bist, rappel dich nicht sofort auf, nur um gleich wieder niedergestreckt zu werden. Und versuch, ein bisschen netter zu sein. Du musst ja niemanden mögen, es soll nur danach aussehen. So vermeidet man Konflikte, und das Leben lebt sich leichter. ...'" (S. 218)
Die Männer der Familie Bowman haben sich auseinandergelebt. Grund genug, für Vater Lyle vom Himmel "zu fallen", seinem Jüngsten allabendlich zu erscheinen und ihm zur Aufgabe zu machen, die Familie wieder zusammenzubringen. Zu den Bowman-Männern gehört auch Onkel Frank, ein hochbetagter und schwerhöriger Querulant, der einen Höllenspaß daran hat, seine Mitmenschen zu schockieren. Einzig Greg und Billy nehmen Onkel Franks Eskapaden mit Humor. In ein paar Wochen wird Greg wieder nach Amerika zurückkehren. Bis dahin wird sich einiges in der Familie Bowman tun. Denn die Bowmans (Verstorbene eingeschlossen) haben ihre Geheimnisse, die nach und nach aufgedeckt werden.
Bei diesem Roman handelt es sich also um eine Familienzusammenführung der besonderen Art.
"Das musste Bowman-Liebe sein, vermutete Greg: stillschweigend, peinlich berührt, aber immer da." (S. 224)
J. Paul Henderson hat den saloppen Sprachstil, den er auch in seinem ersten Roman an den Tag gelegt hat, beibehalten. Fast schon im Plauderton erzählt er die Geschichte und platziert so ganz nebenbei mit großer Leichtigkeit einen Gag nach dem anderen.  Allein schon die Charaktere und ihr Zusammenspiel garantieren viel Komik in diesem Roman: Onkel Frank und seine schrägen Ideen, mit denen er sein Umfeld immer wieder aufs Neue schockiert; Billy mit sehr skurrilen psychischen Problemen; Greg, der es in seiner Jugend richtig krachen ließ und jetzt an den Folgen zu knabbern hat; und natürlich Lyle, ein toter Vater, der seinem Sohn erscheint - wenn das nicht schräg ist, dann weiß ich nicht.
"' ... Nach meiner Erfahrung entstehen Meinungen meistens aus Unwissenheit, und diejenigen mit der lautesten Meinung sind für gewöhnlich die, die am wenigsten wissen. ...'" (S. 129)
Leider gibt es einen Aspekt in diesem Roman, den ich als störend empfand: J. Paul Henderson spricht in diesem Roman die unterschiedlichsten sozialkritischen Themen an: Kleinbürgertum, Ausländerfeindlichkeit, Immigration, das englische Gesundheitswesen, Religion - wahrscheinlich waren es noch mehr. Es scheint, dass es Henderson nicht ausreicht, einfach eine gute Geschichte zu schreiben, die seinen Leser grandios unterhält. Stattdessen versucht er seinem Buch einen sozialkritischen Anstrich zu verpassen. Das hätte ich in diesem Roman nicht gebraucht. Ich wäre mit der guten Geschichte, die einfach nur grandios unterhält, mehr als zufrieden gewesen.

Fazit:
"Der Vater, der vom Himmel fiel" reicht zwar nicht an das Erstlingswerk von Henderson heran. Trotzdem habe ich diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen. Auch wenn mich die sozialkritische Themenschwemme gestört hat, haben doch die positiven Aspekte überwogen. Allen voran die skurrilen Charaktere und der saloppe Sprachstil des Autors. Man sollte sich diesen Roman daher nicht entgehen lassen.

© Renie



Über den Autor:
J. Paul Henderson, geboren 1948 in Bradford, Yorkshire, studierte Amerikanistik und promovierte über Darlington Hoopes (den letzten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der USA). Nach Gelegenheitsjobs als Gießer, Busfahrer und Finanzbuchhalter arbeitete er als Vertriebschef für den New Yorker Sachbuchverlag Wiley-Blackwell. Inzwischen wohnt er wieder in Bradford. Nachdem seine Mutter Alzheimer bekommen hatte und gestorben war, wurde er mit einem unernsten Roman über ein ernstes Thema, ›Letzter Bus nach Coffeeville‹, zum Schriftsteller. (Quelle: Diogenes)

Dienstag, 3. Oktober 2017

Henry James: Lady Barbarina

Hyde Park, London (Camille Pissarro) (Wikimedia Commons)
Es gibt Autoren, deren Bücher lese ich mit einem Dauergrinsen im Gesicht. Henry James ist so einer. Der süffisante Sprachstil, den man in seinen Werken findet, ist eine der Ursachen für dieses Grinsen. Ein andere ist das Aufeinanderprallen zweier Kulturen, das in vielen seiner Bücher das bestimmende Thema ist. Bei Henry James trifft die "alte" auf die "neue" Welt; Engländer treffen auf Amerikaner und umgekehrt. Der Autor wusste, wovon er schrieb. Er, der als Amerikaner geboren wurde und als Engländer gestorben ist, war Zeit seines Lebens in beiden Kulturkreisen zuhause und hatte scheinbar einen Höllenspaß daran, britische und amerikanische Eigenheiten durch den Kakao zu ziehen.

In "Lady Barbarina", einer Erzählung, die 1884 erstmalig veröffentlicht wurde, befasst sich Henry James mit dem Bemühen, die zwei unterschiedlichen Völker zusammenzubringen, das Beste aus beiden Kulturen miteinander zu verschmelzen und am Ende ein neues Geschlecht quasi als Krone der Schöpfung entstehen zu lassen. Kurz gesagt, es geht um die Ehe zwischen einem millionenschweren amerikanischen Arzt und der englischen Tochter aus englischem Adelsgeschlecht sowie der Anbahnung dieser Ehe.
"Er spürte mehr denn je, welchen Wert sie in sich besaß und wie viel es die Gesellschaft gekostet hatte, solch eine Mischung hervorzubringen. Schlicht und mädchenhaft, wie sie war, und nicht besonders gewandt in dem Geben-und-Nehmen der Konversation, schien doch in ihren Adern ein Teil von Englands Geschichte zu fließen; sie war die schöne Blüte, die Generationen von Privilegierten und Jahrhunderte reichen Landlebens hervorgebracht hatten." (S. 95 f.)
Quelle: Kirchner PR/Dörlemann
Beliebter Volkssport der englischen Upper Class war zur damaligen Zeit das Promenieren - entweder zu Fuß oder zu Pferd. Wer in London etwas auf sich hielt und an denen interessiert war, die besonders viel von sich hielten, begab sich also in den Hyde Park und drehte dort seine Runden. Henry James' Erzählung beginnt in ebendiesem Hyde Park. Im Sinne von Waldorf und Statler ( = die beiden Alten aus der Muppet Show) sitzt hier ein älteres amerikanisches Ehepaar, beobachtet und sinniert über die Vorbeiziehenden. Die meisten von Henry James' Protagonisten in dieser Erzählung sind entweder wohlhabend oder adelig, selten beides gleichzeitig. Das Ehepaar gehört zu der Kategorie "wohlhabend". Sie machen nichts anderes, als durch die Weltgeschichte zu reisen. Unter den Flaneuren im Hyde Park entdecken sie den jungen und reichen Arzt Jackson, der schon seit einigen Wochen um die Gunst der Lady Barbarina wirbt. Es ist offensichtlich, dass sich hier eine transatlantische Verbindung anbahnt. Der Amerikaner Jackson will Lady Barbarina heiraten. Zunächst stehen diesem Plan jedoch die englischen Traditionen entgegen, die es Jackson nicht besonders leicht machen, sich seiner Angebeteten zu offenbaren. Sehr dosierte Treffen, meist im Beisein einer Anstandsdame sowie das klassische "Um-die-Hand-anhalten" bei den Eltern, lassen ihn in seinem Vorhaben, sich eine "Blüte" des englischen Adels zu angeln, nur sehr zäh vorwärts kommen.
Lady Barbarinas Eltern haben Vorbehalte gegen die Verbindung ihrer Tochter mit einem Amerikaner. Er hat keinen Titel. Der eines Doktors ist zu gewöhnlich. Adelig muss er sein. Dann ist Jackson auch kein Gentleman im englischen Sinne. Sein Auftreten ist eher forsch und direkt als zurückhaltend und distinguiert. Er ist irritierend selbstbewusst. Einziges Argument für eine Heirat: 1,5 Mio. Pfund Sterling, die Jackson sein eigen nennt. Am Ende siegt der Versorgungsgedanke der Eltern für die Tochter, und sie lassen sich auf mehrere zähe Verhandlungsrunden mit dem jungen Amerikaner ein, in denen um die Bedingungen für die eheliche Verbindung geschachert wird. Jackson wird Lady Barbarina mit nach New York nehmen, wo sie einen großen Teil des Jahres verbringen werden, mit gelegentlichen Abstechern nach London.
" ... dass man, da dies sein erster Heiratsantrag gewesen war, von ihm nicht erwarten könne, zu wissen, wie Frauen sich in dieser Notlage benahmen. Tatsächlich hatte er gehört, dass Lady Barb schon endlos viele Anträge erhalten hatte; und auch wenn er die Zahl für übertrieben hielt, was sie ja immer ist, musste er doch zu dem Schluss kommen, dass plötzlich so zu tun, als habe sie ihn fallenlassen, nur das übliche Verhalten war." (S. 66)
Etwa ein halbes Jahr später befinden sich Jackson und seine Angetraute in New York. Leider ist genau das eingetroffen, was viele Engländer und Amerikaner dieser Ehe prophezeit haben. Die englische Lady fühlt sich nicht wohl in der Heimat ihres Mannes. Sie hat auch keinerlei Ambitionen, sich in der New Yorker Gesellschaft einzuleben.

Die Amerikaner sind ihr zu bürgerlich und gewöhnlich. Sie verstören sie durch ihre Offenheit und Unbeschwertheit. Verhaltensweisen, die Lady Barbarina in London noch als drollig empfunden hat, sind ihr auf einmal zuwider. Da hilft auch ihre englische Erziehung nicht, die sie bestenfalls dazu bringt, den "Exoten" mit Höflichkeit und Würde zu begegnen.
Wie anders ist da ihre Schwester, Lady Agatha, die das junge Ehepaar nach Amerika begleitet hat und Lady Barbarina den Anfang in New York erleichtern soll. Denn Lady Agatha scheint aus der englischen Art geschlagen. Sie vergisst schnell ihre englische Erziehung und lässt es in New York richtig krachen.
Am Ende wird das Projekt "Völkervereinigung" leider scheitern. Aber einen Versuch war es wert.
"Sie hatte ihn geheiratet, hatte sich sein Vermögen gesichert und seine Aufmerksamkeit - denn wer war sie schon?, fragte er sich bisweilen voll Zorn, wusste er doch, dass es in England Lady Florences und Lady Claras wie Sand am Meer gab -, doch mit seinem Land wollte sie, wenn es sich vermeiden ließ, nichts zu tun haben." (S. 173 f.)
Was hat Jackson nur dazu bewogen, sich in Lady Barbarina zu vergucken? Die beiden haben nur sehr wenig gemeinsam. Henry James stellt die Verbindung auch nicht als Liebesliaison dar. Stattdessen gewinnt man immer mehr den Eindruck, dass Jackson sich mit Lady Barbarina ein seltenes und kostbares Dekorationsstück zugelegt hat, das es zu pflegen gilt. Jackson macht keinen Hehl daraus, dass ihn gar nicht so sehr Geist und Verstand von Lady Barbarina gefesselt haben (die im Übrigen auch nur sehr dosiert vorhanden sind) sondern eher ihre Schönheit und ihr Adelstitel. Sie verkörpert für ihn das Beste, was die britische Gesellschaft zu bieten hat. Daher ist eine Kombination seiner Eigenschaften (amerikanisch, klug, wohlhabend) mit ihren Eigenschaften (schön, adelig und britisch) das Nonplus Ultra, was eine Völkervereinigung hervorbringen kann.

Wieder einmal hat mich Henry James mit seiner Scharfzüngigkeit und seiner unglaublichen Beobachtungsgabe restlos überzeugt. Wenn ein Autor bei der Beschreibung eines Charakters jedes Mienenspiel in Worte fasst und auch noch so unscheinbare Kleinigkeiten, wie z. B. die Wuchsrichtung eines Männerbartes als erwähnenswert ansieht, kann man ihm eine große Liebe zum Detail bescheinigen. Henry James nutzt diese Details, um sich über seine Charaktere lustig zu machen. Gern begibt er sich in die Rolle des auktorialen Erzählers und bindet den Leser stellenweise in seine Überlegungen ein, die er mit viel Süffisanz und Ironie vermittelt. (Dadurch entsteht beim Leser auch dieses Dauergrinsen, das ich anfangs erwähnte).

Fazit:
Werke von Henry James sind immer großes Erzählkino, das Seinesgleichen sucht. Auch seine Erzählung "Lady Barbarina" lässt sich definitiv dazuzählen. Eine herrlich komische Gesellschaftssatire über den Versuch einer transatlantischen Vereinigung. Leseempfehlung!

© Renie




Über den Autor:
HENRY JAMES, 1843 in New York geboren, lebte lange Jahre als Amerikaner in Europa. In seinen »internationalen Romanen« setzte er sich intensiv mit den Gegensätzen zwischen der Alten und der Neuen Welt auseinander und gilt heute als einer der einflussreichsten Schriftsteller der amerikanischen Literatur. Er starb 1916 in London. (Quelle: Dörlemann)