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Freitag, 1. September 2017

Rodrigo Hasbún: Die Affekte

Quelle: Pixabay/Kaniri
Hans Ertl war in den 30er/40er Jahren Kriegsberichterstatter und Kameramann, gern gebucht von Leni Riefenstahl und Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Das hat ihn nach dem Krieg nicht beliebt gemacht. Mit Einmarsch der Alliierten in Deutschland wurde er vorübergehend mit einem Berufsverbot belegt, das ihn von da an nur noch als Fotograf arbeiten ließ. In Deutschland als Nazi-Sympatisant abgelehnt, entschließt er sich mit seiner Familie 1952 nach Bolivien auszuwandern. Er zieht mit seiner Frau und den 3 Töchtern nach La Paz. Seine Tochter Monika wird sich später dem bolivianischen Untergrund anschließen, und in Deutschland als "Che Guevaras Rächerin" bekannt sein, die bei dem Versuch den ehemaligen SSler und BND Mitarbeiter Klaus Barbie zu entführen, scheitern wird.
Von der behüteten Tochter eines Auswanderers zur gesuchten Terroristin. Wie konnte es dazu kommen? "Die Affekte" von Rodrigo Hasbún, ein Roman über die Auswandererfamilie Ertl, sucht nach Erklärungen.
" ..., sie, das unverstandene Kind, die chaotische, rebellische, Jugendliche, die Frau, die später alles Augenmaß verlor und sich nicht mehr im Griff hatte und am Ende sich selbst und anderen Leid zufügte." (S. 41)
Der Roman wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. In erster Linie sind es die Töchter, die über ihr Leben in Bolivien berichten und die Auswirkungen, die die Auswanderung auf ihre Familie hatte. 
Der Roman beginnt mit der Rückkehr Hans Ertls von einer der unzähligen Expeditionen, die er als Kameramann mitgemacht hat. Eine weitere Expedition steht an: die Erforschung der verschollenen Stadt Paititi im Urwald von Bolivien.
Monika, die Älteste der 3 Schwestern, war bereits als Kind psychisch labil. Hans Ertl beschließt, Monika und Heidi (die Mittlere der drei Schwestern), mit auf die Expedition zu nehmen. Er erhofft sich dadurch, Monika bei der Bewältigung ihrer psychischen Probleme zu unterstützen. Trixi, die jüngste Tochter, bleibt zuhause in La Paz bei ihrer Mutter. Mutter Ertl scheint die ewig Daheimgebliebene zu sein. Was sie mit ihrem Mann Hans verbindet, bleibt unklar. Zumindest ist sie immer da, wenn er von seinen Expeditionen zurückkehrt. Aber glücklich und zufrieden mit ihrem Leben scheint sie nicht zu sein.

Quelle: Suhrkamp
Es gibt keinen kontinuierlichen Handlungsstrang in diesem Roman. Der Handlungsstrang wird zwischenzeitlich unterbrochen und setzt an anderer anachronistischer Stelle wieder ein. Das Bild, das sich von den Familienmitgliedern ergibt, setzt sich daher zusammen wie ein Puzzle. Im Verlauf des Romanes ergeben sich einzelne Facetten, die am Ende ein großes Ganzes ergeben, wobei der Focus eindeutig auf der Entwicklung von Monika liegt.
"An den Tagen, wo sie gut drauf war, beneidete ich die Leichtigkeit meiner Schwester, ihre Fähigkeit, mit jedem gut auszukommen. Wie es sein konnte, dass diese gute Laune eine so fürchterliche Kehrseite hatte, war etwas, das mir nicht in den Kopf wollte. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass das fröhliche und das verzweifelte Mädchen ein und dieselbe Person sein sollten." (S. 23 f.)
Monika ist unverkennbar das Kind ihres Vaters. Mit der gleichen Leidenschaft und fast schon Besessenheit verfolgt sie ihre Ziele. Beide sind Charakterköpfe, die sich für die Dinge aufreiben, die ihnen wichtig sind. Anfangs hatte ich den Eindruck, dass Monika Papas Liebling ist. Doch je älter sie wird, umso häufiger und heftiger prallen Vater und Tochter aufeinander, so dass sie am Ende nicht mehr miteinander können.
Sie schließt sich irgendwann einer Hilfsorganisation in Bolivien an. Hier setzt sie sich mit viel Engagement und Vehemenz für die Armen in Bolivien ein. Aber alles, was sie bei ihrer Wohltätigkeit erreicht, scheint immer zu wenig im Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. Der Weg von der gemäßigten Hilfsorganisation in die Radikalität ist daher für sie nicht weit. Es dauert nicht lange, und Monika wird Mitglied einer bolivianischen Terrormiliz, die sich nicht davor scheut, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Und so ist aus der behüteten Tochter des Kameramannes Hans Ertl eine militante Terroristin geworden, rebellisch und unverstanden bis an ihr Lebensende.

Der Autor Rodrigo Hasbún widmet sich einem kleinen Kapitel der deutschen und bolivianischen Geschichte, das für viele in Vergessenheit geraten ist, so auch für mich. Als ich diesen Roman begonnen habe, war mir nicht bewusst, dass die Familie Ertl wirklich existent war. Doch mit fortschreitender Seitenzahl in diesem Buch packte mich die Neugier und eine Ahnung, dass es bei dieser Geschichte einen Bezug zur Realität gibt, den ich natürlich recherchiert habe. Und siehe da, auf einmal bekam die Handlung einen ganz anderen Stellenwert für mich. Was vorher so fantastisch erschien, so z. B. die Expedition im bolivianischen Urwald, die für mich zwangsläufig mit einer Indiana Jones-Romantik verknüpft war, wurde auf einmal Wirklichkeit.
"Es stimmt nicht, dass die Erinnerung ein sicherer Ort ist. Auch dort werden Dinge unkenntlich und gehen verloren. Auch dort entfernen wir uns am Ende von den Menschen, die wir am meisten lieben." (S. 135 f.)
Rodrigo Hasbún hat einen bemerkenswerten Sprachstil. Völlig schnörkellos und nüchtern beschreibt er die Auswanderung und den Niedergang der Familie Ertl. Die Auswanderung stellt die Familie vor eine harte Bewährungsprobe, die sie am Ende nicht bestehen wird. Es ist dabei erstaunlich, wie es dem Autor allein durch seinen Sprachstil gelingt, diese extreme Emotionalität, denen die einzelnen Charaktere unterworfen sind, völlig emotionslos wiederzugeben. Das ist sprachlich gesehen ganz großes Kino.

Fazit:
Ein hochinteressantes Buch, das einen Einblick in ein Stück Zeitgeschichte gewährt, die bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Der Bezug zur Realität und die Entwicklung der Charaktere macht die erzählte Familiengeschichte um einiges eindringlicher als sie ohnehin schon ist. Hinzu kommt der bemerkenswerte Sprachstil des Autors. Also rundum ein Buch, das ich gerne weiterempfehle!

© Renie




Über den Autor:
Rodrigo Hasbún ist Jahrgang 1981, Bolivianer palästinensischer Herkunft mit Wohnsitz im texanischen Houston. Die Zeitschrift Granta nennt ihn einen der besten spanischsprachigen Nachwuchsautoren seiner Generation. Die Affekte ist Hasbúns preisgekrönter zweiter Roman, sein erster in deutscher Übersetzung. (Quelle: Suhrkamp)