In China möchte frau nicht Frau sein - zumindest nicht in jener Gesellschaftsschicht, in die uns Ma Jian mit seinem großartigen Buch über die Ein-Kind-Politik in China führt. Eine Geschichte, die schockierend, bewegend, dramatisch und unvorstellbar zugleich ist.
Ma Jian gewährt mit diesem Roman einen ungeschönten Einblick in das Leben der chinesischen Bauern und Wanderarbeiter in der heutigen Zeit. Er porträtiert denjenigen Teil der chinesischen Gesellschaft, dem bisher ein Stück von dem Kuchen namens "Wirtschaftswunder" verwehrt geblieben ist und stattdessen aufgerieben wird zwischen Tradition und Fortschritt.
Quelle: Rowohlt |
Worum geht es in diesem Buch?
"Weit entfernt von dem chinesischen Wirtschaftswunder und den hellen Lichtern von Peking und Shanghai liegt ein riesiges ländliches Hinterland, das die brachialen Folgen von Industrialisierung und Ökonomisierung zu tragen hat.
Dort leben die Bäuerin Meili und ihr Mann Kongzi, ein Nachkomme von Konfuzius in der sechsundsiebzigsten Generation. Die beiden wollen neben ihrem ersten Kind, einem Mädchen, einen Sohn, um das Erbe fortzusetzen. Da ihnen die Behörden, die für alle die Einkindehe vorschreiben, mit Zwangssterilisation drohen, fliehen sie. Auf dem Jangtse, einem letzten Hort staatlicher Unorganisiertheit und mithin gewisser Freiheiten, führen sie ein illegales Tagelöhner- und Flussnomadenleben. Jahrelang schlagen sie sich auf vergifteten Gewässern und in ruinierten Landschaften durch, bevor sie schließlich auf einem Müllplatz für die Ausschlachtung westlichen Elektronikschrotts landen..." (Klappentext)
Meili - was habe ich mit dieser Frau gelitten. Sie ist mit Kongzi verheiratet, einem direkten Nachfahren von Konfuzius (wenn auch in der 76. Generation), der sich auch noch etwas auf seinen berühmten Vorfahren einbildet. Da er in dem Dorf, in dem sie vor ihrer Flucht gelebt haben, als Lehrer tätig war, gibt er gern den Intellektuellen. Insbesondere seine Frau lässt er seine vermeintlich geistige Überlegenheit spüren. Anfangs war Meili stolz auf ihn und hat es als gegeben hingenommen, dass sie als Frau "dumm" ist. Aber während ihrer Flucht stellt sie fest, wie wenig belastbar ihr kluger Ehemann doch ist. Seine Versuche, die Familie irgendwie durchzubringen, sind oft zum Scheitern verurteilt. Meili entwickelt sich zu derjenigen, die die Familie am Leben erhält. Kongzi würde das wahrscheinlich anders sehen, denn in seinem Gesellschaftsbild ist die Frau dem Mann geistig unterlegen. Auch, wenn Kongzi sich zu einer großen Enttäuschung entwickelt, Meili würde ihn nie verlassen. Das verbieten ihr die traditionellen Werte.
"Als sie ihn mit siebzehn heiratete, war sie der Auffassung, die Ehe sei für immer und die Regierung würde die Menschen beschützen und versorgen, so wie die Ehemänner ihre Ehefrauen beschützten und versorgten. Aber kaum war sie verheiratet, zerplatzten ihre naiven Vorstellungen. Sie entdeckte, dass Frauen nicht über ihren Körper bestimmen konnten: Ihre Gebärmutter und die Geschlechtsorgane sind Kampfgebiete, um deren Beherrschung Ehemänner und der Staat miteinander ringen, Gebiete, die Ehemänner für ihre eigene sexuelle Befriedigung und zur Zeugung männlicher Nachkommen benutzen und die der Staat untersucht, überwacht, beschattet und ausschabt, um seine Macht zu festigen und Angst zu verbreiten." (S. 244)
In Meili's Kulturkreis ist die chinesische Frau dem Mann untertan. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, dem Mann einen männlichen Nachkommen zu schenken, damit der Fortbestand des kostbaren Familiennamens gewährleistet ist. Dieser Aufgabe steht die chinesische Ein-Kind-Politik im Weg. Mithilfe von Methoden, die mich immer wieder an die Judenverfolgungen im Dritten Reich erinnert haben, sorgt die sogenannte Familienplanungsbehörde für die Einhaltung dieses Gesetzes. Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen (egal, wie weit die Schwangerschaft bereits fortgeschritten ist) sind dabei für die Schergen dieser Behörde ein probates Mittel. Misshandlungen und Korruption sind da noch das kleinere Übel bei den chinesischen Gesetzeshütern.
"'Zweihundertzehn Yuan für die Intrauterininjektion, zweihundertsechzig für die Narkose, hundertneunzig für Verschiedenes - das ist die Gebühr für die Entfernung der Kindsleiche -, außerdem Wäsche und Arbeitskosten. Insgesamt 775 Yuan. Normalerweise beträgt der Preis für einen Abbruch im achten Monat 1400 Yuan, Sie haben also einen Nachlass von fünfzig Prozent bekommen. Ich an Ihrer Stelle würde bezahlen und gehen...'" (S. 108)
Unvorstellbar, welchem Druck Meili ständig ausgesetzt ist
der Druck, nicht mehr schwanger werden zu dürfen, weil das Gesetz es verbietet
der Druck, wieder schwanger werden zu müssen, weil der männliche Nachkomme fehlt
der Druck, eine gute Ehefrau zu sein - ein Mann hat schließlich seine sexuellen Bedürfnisse
der Druck, für ihre Familie sorgen zu müssen, weil ihr Ehemann dazu nicht in der Lage ist
Manch eine würde an diesem ausweglosen Schicksal zerbrechen. Nicht so Meili. Sie fügt sich in ihr Schicksal, windet sich irgendwie durch's Leben und schafft es, sich ihre Träume von einem besseren Leben zu bewahren.
"Obwohl Meili aus einer Bauernfamilie kommt, sehnt sie sich danach, wie die reichen Frauen in den Fernsehserien zu leben, die klimatisierte Wohnungen und klimatisierte Autos haben und noch nie in ihrem Leben auf einem Feld waren. Wenn sie erst einmal eine von ihnen ist, wird auch sie geschneiderte Kostüme tragen, sich die Nägel rot lackieren und mit eleganten Sandalen an den Füßen ein klimatisiertes Flugzeug besteigen oder in einem Luxushotel über Teppichboden schreiten." (S. 125)
Das Ziel ihrer Reise ist "Himmelsstadt" - ein verlockender Zufluchtsort? Die Verzweiflung der Familie und das Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit ist so groß, dass sie einen Ort, der dioxinverseucht ist und als Schrottplatz für westlichen Elektronikschrott genutzt wird, als das Paradies ansehen.
In diesem Buch wird vieles als selbstverständlich dargestellt: die Minderwertigkeit der Frauen, die Willkür der Behörden, die Brutalität gegenüber Frauen; aber auch das Leben inmitten von vergifteten Landschaften und die stoische Akzeptanz der gesundheitlichen Folgen. Die Fassungslosigkeit kennt beim Lesen keine Grenzen. Ma Jian schreibt ungeschönt und ungefiltert. Oft sind die Dinge, über die er berichtet, kaum zu ertragen.
"..., verkaufte ein Dorfbewohner seinen Sohn, der einen Klumpfuß hatte, an eine Verbrecherbande, ... Andere Eltern, die diesen Reichtum voller Neid betrachteten, versuchten auf ähnliche Weise zu Geld zu kommen. Jetzt verstümmeln sie ihre Kinder gleich nach der Geburt, sie brechen ihnen die Knochen oder verdrehen ihnen die Glieder, denn sie wissen, je schlimmer die Verstümmelung, desto mehr Geld lässt sich damit verdienen." (S. 202)
Dabei lässt Ma Jian immer wieder Zeilen aus alten chinesischen Gedichten und Liedern einfließen. Das Rezitieren ist ein netter Zeitvertreib für Kongzi, aber auch für Meili. Dadurch gelingt es ihnen manchmal dem Alltag zu entfliehen. Diese Zeilen sind natürlich sehr poetisch und blumig, stehen aber im krassen Gegensatz zu den Horrorszenarien, mit denen insbesondere Meili zu kämpfen hat. Dadurch wird das Hässliche in diesem Buch noch hässlicher und unerträglicher.
Fazit:
Dieses Buch war für mich ein Glücksgriff, auch, wenn ich die Geschichte von Meili und ihrer Familie manches Mal kaum aushalten konnte. Meine Auswahl der Zitate spiegelt nur ein sehr geringes Maß der, in diesem Buch vorkommenden Schreckensszenarien wider. Ich bin jedoch froh, dass ich diesen Roman gelesen habe. Der Einblick, den Ma Jian in einen großen Teil der heutigen chinesischen Gesellschaft gewährt, ist beeindruckend. China ist weit weg. Und es liegt nicht unbedingt im Interesse dieses Landes über derartige Themen zu berichten. Offiziell gibt es keine Probleme in dem geschilderten Ausmaß. Insofern ist dieses Buch ein außergewöhnliches Aufklärungsdokument, das ich nur jedem empfehlen kann, der Interesse an anderen Kulturkreisen hat. Nur Schwangere sollten ihre Finger von diesem Buch lassen, denn diese Geschichte geht an die Nerven ;-)
© Renie
Die dunkle Straße von Ma Jian, erschienen im Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-03239-5
Erscheinungstermin: 31.07.2015
Über den Autor:
Ma Jian, geboren 1953 in Qingdao, lebte als Schriftsteller und Maler in Peking, später in Hongkong, seit 1999 im Londoner Exil. Einige seiner Werke waren unter dem Verdacht der "geistigen Verschmutzung" in China verboten. Zuletzt erschien sein Roman "Peking Koma", ein kritisches Porträt der chinesischen Gesellschaft von der Kulturrevolution bis heute. (Quelle: Rowohlt)