Ein Roman, der faszinierend und deprimierend zugleich ist. Faszinierend, weil er sprachlich auf sehr hohem Niveau ist und mich mit seiner Ausdrucksstärke beeindruckt hat. Deprimierend, weil hier eine Geschichte erzählt wird, die eigentlich nichts Besonderes ist. Das, was hier passiert, findet sich wahrscheinlich in viel zu vielen Familien wieder. Aber gerade dieses Alltägliche macht betroffen. Es ist, als ob Anne Enright ihren Lesern einen Spiegel vor das eigene Familienleben hält und am Ende hofft man, dass man sich doch um einiges von der hier beschriebenen Familie unterscheidet.
Worum geht es in dem Buch?
Rosaleen ist eine Frau, die nichts tut und von den anderen alles erwartet. Sie ist Mitte siebzig, die vier Kinder sind schon lange aus dem Haus. Die Brüder Dan und Emmett sind vor der Enge der irischen Heimat in die Ferne geflohen; das Nesthäkchen Hanna wollte auf den Theaterbühnen der Welt reüssieren, spricht aber nun dem Alkohol zu, und Constance, die Älteste, hat sich selbst verloren. Doch abgenabelt hat sich keines der Kinder. Noch immer versucht jedes auf seine Weise, es dieser besten aller Mütter recht zu machen. Und scheitert.
Da kommt die Einladung zu einem letzten Weihnachtsfest in Ardeevin. Rosaleen möchte das Haus, in dem die Kinder groß geworden sind, das voller Erinnerungen an glückliche Momente und Verletzungen steckt, verkaufen. Die Geschwister reisen mit diffuser Hoffnung auf Versöhnung an – und doch endet es, wie noch jedes Weihnachten geendet hat. (Quelle:DVA Verlag)
Der Roman wird aus Sicht der Familie Madigan erzählt. Die ersten Kapitel konzentrieren sich dabei auf die Kinder. Jedes der ersten Kapitel trägt den Namen eines der Kinder. Hier stellt Anne Enright ihre Protagonisten vor. Gleich im ersten Kapitel geht es um Hanna, die Jüngste. Aus ihrer Sicht wird das Familienleben ihrer Kindheit in den 80er Jahren geschildert. Im Mittelpunkt steht dabei die Mutter, die sich als Meisterin der Dramatik präsentiert. Alles dreht sich um diese Person, die Kinder dienen ihrer Selbstverwirklichung. Und wenn die Kinder nicht so funktionieren, wie sie es von ihnen erwartet, stürzt sie in eine Depression, unter der sie alle bewusst leiden lässt.
„Ein kleines unartikuliertes Stöhnen entrang sich ihr. Das Geräusch schien sie nicht nur zu überraschen, sondern auch zu erfreuen, und so versuchte sie es gleich noch einmal. Das nächste Stöhnen begann verhalten und dauerte an, und als es ein letztes Mal anschwoll und abklang, hörte es sich fast wie Sprechen an. ‚O Gott‘, sagte sie. Sie warf den Kopf zurück und blinzelte ein, zwei Mal zur Decke empor. ‚O du lieber Gott.‘ Tränen begannen zu fließen, eine nach der anderen, bis zum Haaransatz; eine, zwei-drei, vier. So verharrte sie einen Augenblick lang, während die Kinder zusahen, aber so taten, als sähen sie nicht zu,…“ (S. 18 f.)
Statt mit Liebe werden die Kinder mit Schuldgefühlen aufgezogen. Anne Enright gibt ihrer Protagonistin in den ersten Kapiteln keinen Namen. Sie taucht hier lediglich als „Mutter“ auf. Für mich ist dies klar ein Indiz dafür, dass dieser Charakter sich über die Mutterrolle definiert. Sie ist die Über-Mutter.
Wer so aufwächst, hat später mit sich und seinem Umfeld zu kämpfen. Ein derartiges Mutter-Kind-Verhältnis kann nicht spurlos an einem Menschen vorübergehen. Und so lernt man die Kinder in den folgenden Kapiteln kennen: Dan, der schwul ist, aber Schwierigkeiten hat, zu seinem Schwulsein zu stehen; Emmet, der Bindungsunfähige, der nicht in der Lage ist, Gefühle zu zeigen und die Frauen, die ihn lieben dazu bringt, ihn zu verlassen; Hanna, die Alkoholikerin, die ihre Träume aufgeben musste, weil sie ein Baby bekommen hat und mit ihrer Mutterrolle und dem Alltag völlig überfordert ist; und Constance, die versucht, es jedem Recht zu machen und unter mangelndem Selbstbewusstsein leidet.
Constance Madigan ähnelt in ihrem Verhalten erschreckend dem ihrer Mutter. Auch sie hat Kinder, auch sie neigt dazu, sich eine „depressive“ Auszeit zu nehmen, wenn es mal wieder mit ihrer Familie nicht so läuft, wie sie erwartet. Es ist nicht von ungefähr, dass mit dem ersten Kapitel über Constance, Rosaleen erstmalig beim Namen genannt wird. Die beiden bewegen sich sozusagen auf Augenhöhe. Nur die eine Mutter kann verstehen, was die andere Mutter erdulden und erleiden muss. Constance ist die Einzige der Kinder, die sich um die „alte“ allein lebende Rosaleen kümmert. Dabei ist sie – wie in ihrer Kindheit – den Bevormundungen und abfälligen Sticheleien ihrer Mutter ausgesetzt und erträgt sie.
"Denn Rosaleen tat nie etwas. Diese unerträgliche Frau, sie verbrachte ihr ganzes Leben damit, anderen Menschen Dinge abzuverlangen und anderen Menschen die Schuld zu geben, sie lebte in einem Zustand der Hoffnung oder des Bedauerns und wollte nicht, konnte sich nicht damit befassen, was vor ihr lag, was immer es war. Oh, ich habe vergessen, zur Bank zu gehen, Constance, ich habe vergessen, zur Post zu gehen. Sie kam mit den Dingen nicht klar. Mit Geld. Details. Hier. Heute." (S. 312)
Jedes Jahr erwartet Rosaleen ihre Kinder zum Weihnachtsfest im Familienkreis, was eigentlich alle Kinder als Horrorszenario empfinden. So auch dieses Mal. Das Weihnachten 2005 verläuft anders als die bisherigen. Ob es daran liegt, dass es das letzte Mal in dem Haus ihrer Kindheit stattfindet? Schwer zu sagen, zumindest versuchen alle nachgiebiger im Umgang miteinander zu sein. Zwischendurch keimt bei mir die Hoffnung auf, dass die Familie versucht, nach all den Jahren der Distanziertheit doch wieder zueinander zu finden. Aber dann wird es doch wieder wie all die Jahre zuvor. Zu tief sitzen die seelischen Wunden, die man sich zugefügt hat.
"Für Emmet's Familie war das Weihnachtsessen zäher als kenianische Blutsuppe, deshalb konnte keiner der Menschen, die Emmet am liebsten hatte, dabei sein, nicht einmal Menschen, deren Gesellschaft er genoss. Es gab nur einen Weg zum Weihnachtstisch der Madigans, und der führte durch einen vorab akkreditierten Schoß. Verheiratet. Gesegnet. Es tut mir leid. Ich kann dich Weihnachten nicht zu mir nach Hause einladen, denn ich bin Ire, und meine Familie ist verrückt." (S. 264)
Was mich an diesem Roman fasziniert hat, ist die Ausdrucksstärke von Anne Enright. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber in jeder Erzählperspektive hatte ich den Eindruck, dass sie einen anderen Erzählstil annimmt: 5 Protagonisten – 5 unterschiedliche Sprachstile. Dadurch wird dieser Roman sehr authentisch. Jeder Protagonist hat seine eigenen seelischen Probleme, die sich in dem jeweiligen Erzählstil widerspiegeln.
In dem Buch tauchen immer wieder Begriffe auf, bei denen man als Leser nicht zimperlich sein sollte. Anne Enright lässt urplötzlich Wörter einfließen, die das Gelesene mit einem Mal hässlich erscheinen lassen. Sie benutzt Ausdrücke, die schockieren und den Lesefluss zum Stocken bringen. Aber dieser Erzählstil passt zu der Geschichte. Denn er verdeutlicht, dass hinter dem schönen Schein der von der Familie Madigan angestrebten Familienidylle immer auch eine hässliche Seite steckt.
In krassem Gegensatz dazu, steht Anne Enright's Wortwahl, wenn es um Irland geht. Bei jeder Landschaftsbeschreibung merkt man die Liebe zu diesem Land.
"Es war Juni. In wenigen Wochen, wenn das Torfmoor nach Klee duftete, würde sie mit den Kindern ans Meer fahren. Sie könnte sich darauflegen - auf den flachen aromatischen Teppich aus Grün, der das Land hinter den Dünen bedeckte -, ...., und selbst die zähen kleinen Saftpflanzen lockten mit ihrem überraschend süßen Duft die Bienen durch die Salzluft an." (S. 131)
Fazit: Ein aufwühlender Roman, der sehr ausdrucksstark geschrieben ist. Es ist die Geschichte einer zerrütteten Familie. Hier wird aufgezeigt, was erdrückende und vereinnahmende Mutterliebe bei einem Menschen anrichten kann. Ein sehr gutes Buch, das nachdenklich macht.
© Renie
Rosaleens Fest
Autorin: Anne Enright
Verlag: DVA Verlag
ISBN: 978-3-421-04700-7
Der Verlag über die Autorin:
Anne Enright wurde 1962 in Dublin geboren und lebt heute im irischen Bray, County Wicklow. Die vielfach ausgezeichnete Autorin zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellern der Gegenwart und wurde jüngst zur ersten Laureate for Irish Fiction ernannt. Ihr Roman „Das Familientreffen“ wurde unter anderem 2007 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. Nach "Anatomie einer Affäre" (2011), der die Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction erhielt, legt sie nun mit „Rosaleens Fest“ ihren sechsten Roman vor, der wieder Leser wie Kritiker begeistert, auf der Shortlist für den Costa Prize steht und den Irish Book Award 2015 gewonnen hat. (Quelle: DVA Verlag)