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Montag, 20. Mai 2013

Will Schwalbe: An diesem Tage lasen wir nicht weiter

Will Schwalbe lebt als Autor in New York. Er war Journalist bei der New York Times und Cheflektor bei den Verlagen William Morrow und Hyperion. Nachdem er aus der Verlagswelt ausgestiegen ist, gründete er die Online-Kochrezeptsammlung Cookstr. Er lebt als Autor in New York.

Ich finde ja, der englische Titel The End of Your Life Book Club hört sich viel besser an.

Will Schwalbe erzählt vom letzten Jahr mit seiner Mutter, die an Bauspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist und zu Beginn des Buches nicht weiß, wie lange sie noch zu leben hat. Dieser Krebs ist mit einer der schlimmsten, da er nicht so einfach aufzufinden ist. Man bemerkt ihn eigentlich erst, wenn er Metastasen gestreut hat, weil dann andere Organe angegriffen werden.
Will Schwabe erzählt über dieses Jahr nur aus seiner Perspektive, so, wie er das Jahr mit seiner Mom verbracht hat.

Zu einem Leseclub braucht man wenigstens zwei Leseratten. Und dieser spezielle Club begann mit "einer der beiläufigsten Fragen, die zwei Leute einander stellen können: 'Was liest du gerade?'"

Will Schwalbe erzählt über seine Eltern, aus was für Familien sie kamen und was sie früher als Kinder gerne gelesen haben.
Er erinnert sich auch an die eigene Kindheit. Stellt euch vor: Der sicherste Weg, spontanen Haushaltsaufträgen (Müll rausbringen, Zimmer aufräumen) zu entgehen, war, wenn man in ein Buch vertieft war. So war das im Haushalt Schwalbe. ist das nicht Wahnsinn? Ich habe das ganz anders in Erinnerung.
Will Sch. liebte Tolkien. Seine Mutter erinnert sich:
Aber ich denke, dein Bruder und ich haben dich beide darum beneidet, wie sehr du Tolkien liebtest. Wir mochten die 'Narnia'-Bücher auch sehr - aber bei dir war es schon eine richtige Obsession. Du hast so viel von Bilbo Beutlin gesprochen, dass er mir vorkam wie ein Familienmitglied. Dann hast du angefangen, alles, sogar deinen Namen, in alten Runen zu schreiben. Als du auch noch eine Tonpfeife rauchen wolltest, bin ich allerdings eingeschritten. Du warst schließlich erst neun.
Ich beneide Will Schwalbe um seine lesende Kindheit.

Mutter und Sohn unterhalten sich über vergangene Zeiten. Sie war eine der wenigen Frauen, die volltags gearbeitet hat. Und das auch noch gerne und ohne schlechtes Gewissen. Will und seine Geschwister waren sogenannte Schlüsselkinder.
Im Fernsehen sahen sie Bilder vom Vietnamkrieg, Proteste auf dem Harvard Square, Berichte über die Attentate auf Bobby Kennedy und Martin Luther King.
Es gab nur drei TV-Programme: Eine Gameshow, ein Vorläufer heutiger Casting-Shows mit Namen "Star of the Day" oder alte Filme, meistens mit Shirley Temple (was habe ich diese Filme damals geliebt, ich habe sie in den 70er-Jahren gesehen).
Also wurde viel gelesen, wie es die Eltern vormachten.
Ich war nach meiner Schlafenszeit um 21 Uhr meist noch Stundenlang wach und las bei Taschenlampenlicht..."
Ach, das weckt Erinnerungen. Und in der Schule konnte ich dann kaum die Augen offen halten.

Aber ich habe festgestellt, dass ich bisher sehr einseitig berichtet habe. Natürlich habe ich fast nur über das geschrieben, was mit Büchern zu tun hat. Es geht hier aber in erster Linie um Will Schwalbes Mutter (sie muss eine tolle Frau gewesen sein, leider habe ich noch keinen deutschen Text über sie im Internet gefunden), die hier um ihr Leben kämpft. Der Krebs kann zwar nicht geheilt werden, aber die Ausbreitung kann verlangsamt werden und damit vielleicht, mit ein wenig Glück, ein paar Wochen oder Monate gewonnen werden. Sie durchläuft die Chemotherapie, muss Fragen nach Schmerzen ehrlich beantworten, um die Medikamente richtig dosieren zu können. Dabei möchte sie das Wort "Schmerzen" gar nicht benutzen, sondern lieber davon reden, "wie unwohl sie sich fühlte".
Sie hatte gute und weniger gute Tage, wobei frustrierend war, dass sie nie wusste, was sie wann für einen Tag hatte, was natürlich die Lebensplanung beeinträchtigte. Feiertage waren zu planen, Besuche (auch in ihrem Büro) usw. Für einen Blog schrieb sie ihrem Sohn Beiträge, und zwar so, als wenn Will sie geschrieben hätte, der den Blog damit füllte. Es wäre einfach zu viel und zu anstrengend für sie gewesen, den vielen Kollegen, Freunden und Bekannten per E-Mail oder Brief zu schreiben.
Sie war eine beschäftigte Frau. Nicht nur, dass sie voll berufstätig war, sie war in der Flüchtlingshilfe beschäftigt. Und ein großes, wenn nicht ihr größtes Anliegen war es, in Afghanistan eine Bibliothek aufzubauen.

Wenn Afghanistan keine Bücher erhält, dann haben die Menschen dort kaum Chancen. Das ist deshalb mein Vorsatz für das neue Jahr. Ich werde dafür sorgen, dass diese Bibliothek ins Rollen kommt.

Ob sie es tatsächlich schafft? Viel Zeit bleibt ihr ja nicht mehr.

Den Februar verbrachte Wills Mutter in Florida. Als sie ihm eine Perücke zeigte (ihre Haare sind immer dünner geworden), riss er sich zusammen, um nicht zu weinen.
Lesetechnisch hatte sie schon Pläne für diese Zeit. Sie wollte weiterhin neue Autoren lesen, aber verstärkt auch einige ihrer Lieblingsschriftsteller wie Jane Austen, T. S. Eliot, Wallace Stevens und Elizabeth Bishop.

Am 16. März 2008 erhielten sie die Ergebnisse des zweiten Scans. Die sahen gut aus. Es sind keine neuen Tumore hinzugekommen und die vorhandenen sind geschrumpft.
Sie hatten etwas mehr Zeit gewonnen und konnten so den 74. Geburtstag planen.

Und dann, eines Tages, erhielt sie von einem alten Freund aus Harvard das Versprechen, eine Million Euro (jetzt komme ich gerade ins Grübeln, ob es nicht Dollar waren) für die Bibliothek in Afghanistan zu spenden.

Fast ein Jahr ist seit der Diagnose vergangen. Es ist Frühherbst 2008. Bei jedem Fieber musste Wills Mutter ins Krankenhaus, manchmal gleich für ein paar Tage. Geplant wird immer nur bis zur nächsten Chemo oder Untersuchung. Bei einem dieser Aufenthalte sah Will das erste mal, dass seine Mutter sich vor Schmerzen krümmte und sie nach einem stärkeren Schmerzmittel verlangte.
Nachdem die Behandlung verändert wurde und sie eine Art Droge nahm, mit der sie sich richtig konzentrieren konnte, hatte sie sehr gute Tage.
Bis auf einmal die Nachricht kam, dass David Rohde, ein Freund, der in Afghanistan für ein Buch recherchieren wollte, eben dort entführt wurde.

Untersuchung Januar 2009. Die Tumoren sind wieder gewachsen. Eine neue Zusammenstellung von Medikamenten muss her.
Wenige Monate nach der Diagnose seiner Mutter wurde auch bei dem Schauspieler Patrick Swayze diese Krankheit festgestellt. Will war sehr beeindruckt von einem Interview, das Swayze gab. Genau wie seine Mutter sprach der Schauspieler ganz gelassen über seine Hoffnung und Entschlossenheit, gegen den Krebs zu kämpfen. Und das, obwohl er ganz sicher war, den Kampf zu verlieren.
Wills Mutter war beeindruckt von Swayze, besonders darüber, dass er in dem Interview auch ohne Verlegenheit von den Magen-Darm-Symptomen der Behandlung gesprochen hat. Sie selber tat das auch, merkte aber immer wieder, wie peinlich das ihren Gesprächspartnern war.

Ab März 2009 gab es immer mehr schlechte Tage. Durch Wills Schwester lernten sie Nessa Coyle kennen, eine selbstständige Krankenschwester, deren ursprüngliche Ausbildung die einer Hebamme war. Sie war nun stets erreichbar für die Familie. Und Will betrachtete sie bald nicht mehr nur als Sterbe-, sondern als Lebensbegleiterin.
Und so konnte der 75. Geburtstag seiner Mutter geplant werden.

24. März 2009: Der Scan zeigte, dass die laufende Behandlung überhaupt nicht anschlägt. Die Tumoren wuchsen. An Standardbehandlungen konnte man nichts mehr tun. Blieben Behandlungen, die sich noch im Versuchsstadium befanden.
Doch im Juni entscheidet sich Wills Mutter dagegen. Sie gibt der Lebensqualität Vorrang vor der -quantität. Es geht jetzt nur noch darum, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen.
Und sie erlebt noch ein Wunder: David Rohde, der in Afghanistan entführt wurde, gelang mit einem Mithäftling die Flucht.

Ohne Behandlung schritt der Krebs nun rasch voran. Eines Nachmittags sagte Will zu seiner Mutter, er würde gerne etwas über die Bücher, die sie gelesen und über die sie diskutiert haben, schreiben. Sie meinte erst, dass er doch seine Zeit nicht dafür hergeben wollte. Doch am nächsten Tag erhielt er eine E-Mail mit einer Auflistung der Bücher und Notizen dazu. Und nicht nur das. Auch Gedanken zu Themen wie einer notwendigen Krankenversicherung und noch andere teilte sie ihm mit.

Fast zwei Jahre sind seit der Diagnose vergangen.

Ich beende an dieser Stelle meine Aufzeichnungen zu diesem wunderbaren Buch über eine wundervolle Frau mit einem Satz von Marina Vaizey, einer Freundin von ihr:
Mary Anne hat das Schlimmste gesehen und doch an das Gute geglaubt.