Schon gleich zu Beginn sind wir am rechten Platz: in Ellis Cottage. Ich
bin gleich inmitten der Geschichte. Und ich finde es schön, dass der
Abschnitt mit der Schüler-Lehrerin-Beziehung nicht so aufgebauscht und
ausführlich beschrieben wird, obwohl ja ein bleibendes Andenken
erscheinen wird.
Interessanter ist da natürlich das Tagebuch von "Tante" Nell, das im
Zweiten Weltkrieg beginnt. Spannend auch das Verhältnis zwischen den
beiden Schwestern. Violet, die Schöne, und Nell, na ja, was soll man zu
ihr sagen. Sie weiß schon ganz genau was sie will, kann sich aber noch
nicht durchsetzen. "Warum kannst du nicht ein wenig sein wie Violet",
grausam finde ich solchen Satz von der Mutter.
Und Laurence, der sympathische Typ, Ehemann von Violet? Nell scheint
sich in ihn zu verlieben. Wie kann die Mutter Nell nur in diesen
Haushalt schicken? Ich hoffe, sie bekommt noch ihre Abreibung. Ich hasse
Menschen, die anderen das Recht absprechen, ein selbstbestimmtes Leben
zu führen.
Und was für eine Dramatik. Bei "Kristin Lavranstochter" zog sich ja
alles dahin. Nicht im negativen Sinne. Da wurden viele
Landschaftsbeschreibungen eingeflochten, aber dieses Buch. Ich habe beim
Lesen das Gefühl, in einem Intercity-Zug zu sitzen und dahinzubrausen.
Die Violet erinnert mich ein wenig an "Melanie Wilkis" aus "Vom Winde verweht" - die über alles Erhabene.
Laurence finde ich irgendwie nicht mehr so sympathisch. Zu feige, reinen
Tisch zu machen. Violet alles zu erzählen benutzt er doch nur als
Druckmittel, damit Nell dableibt. Er denkt überhaupt nicht daran, wie es
für Nell sein muss, weiter in diesem Haushalt zu leben. So etwas
Egoistisches von Kerl.
Nell kann sich ja unter den Umständen glücklich schätzen. Sie kann ihre
Schwangerschaft verleben, ohne irgendwelche Existenznöte zu haben.
Laurences Mutter bringt ihr alles Notwendige und sie ist weit genug
entfernt vom Kriegsgetümmel, dass sie sich in ihre Fantasiewelt
zurückziehen kann.
Ich staune ja darüber, wie unterschiedlich ein Schriftsteller schreiben
kann. Von Kitty Ray habe ich "Rückkehr nach Manor Hall" gelesen und fand
es sooo langweilig. Da ging es um zwei schüchterne Menschen und ob sie
sich kriegen oder nicht. Das zog sich echt wie Kaugummi. Und dieses Buch
ist so fantastisch und spannend.
Obwohl: Es erinnert mich ein bisschen an "Der verborgene Garten" von
Kate Morton. Ha, die Großmutter bei Kate Morton hieß auch Nell.
Und wenn ich jetzt nicht die Reißleine ziehe, erzähle ich Euch noch die
ganze Geschichte. Wer für Familiengeschichten und insbesondere für
Familiengeheimnisse was übrig hat, dem empfehle ich guten Herzens dieses
wunderbare Buch.
Und wem das Buch vielleicht doch nicht so gefällt, kann daraus eines
mitnehmen: Beurteile niemals eine Sache auf den ersten Blick. Alles hat
seine zwei Seiten