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Montag, 27. Juni 2022

Michael Basse: Yank Zone

In "Yank Zone", dem Roman des Münchner Autoren Michael Basse liegt Amerika inmitten von Baden-Württemberg, im beschaulichen Maulbronn.
Hier treffen wir erstmalig im Jahr 1972 auf Lt. Colonel Hartman und seinen Sohn Jack sowie Mani – Quasi-Adoptivsohn von Hartman Senior und bester Freund des Juniors.

Mani besucht ein Kloster-Internat und verbringt seine freie Zeit in dem Hard Man’s Guest House, wie das Hartmansche Heim scherzhaft genannt wird. Doch der Name ist Programm. Lt. Colonel Ross Raymond Hartman ist ein dekorierter Kriegsveteran, der im Vietnamkrieg zu Ruhm und Ehre gekommen ist. Er ist die Verkörperung eines amerikanischen Kriegshelden. Ein ganzer Kerl! Ein echter Hardman!
Buchseite und Rezensionen zu 'Yank Zone: Roman (Edition Klöpfer)' von Michael Basse
Quelle: Alfred Kröner Verlag

Colonel Hartman gehört zu denen, die mit Ende des zweiten Weltkrieges Deutschland vom Faschismus befreit haben. Seitdem lebt er hier, in Maulbronn. Gleich zu Beginn seiner Dienstzeit heiratete er eine Deutsche, eines von den damaligen Frolleins. Jack war der einzige Sohn dieser deutsch-amerikanischen Verbindung. Mrs. Hartman verstarb bereits in jungen Jahren, zu diesem Zeitpunkt war Jack war gerade mal sieben Jahre alt.
Das Verhältnis von Vater und Sohn war selten einfach. Denn als Sohn eines Helden, für den Schwäche ein Fremdwort ist, konnte Jack, der von Kindheit an gestottert hat, kaum bestehen.
Der selbstbewusste und energische Mani ist da ein anderes Kaliber. Es bleibt nicht aus, dass die Freunde Jack und Mani um die Gunst von Vater Hartman buhlen, was ihre Freundschaft natürlich in ein merkwürdiges Licht rückt.

Über die Jahre werden sich die Verbindungen im Hard Man’s Guest House auseinanderdividieren. Die Jungs werden erwachsen und werden ihre eigenen Wege gehen. Mit zunehmendem Alter werden die Jungs erkennen, dass ein Held auch nur ein Mensch ist.
Der Colonel wird wieder heiraten: Maggie, eine Freundin aus Frollein-Zeiten der verstorbenen Mrs. Hartman; und Jack wird sich in die Bulgarin Lydia verlieben.

Der deutsche Autor Michael Basse erzählt die Geschichte dieser Menschen über einen Zeitraum von 30 Jahren. Jack, Mani, Maggie und später auch Lydia sind die Ich-Erzähler dieses Romans und lassen somit unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte zu. Den Rahmen bildet dabei die Nachkriegsgeschichte Deutschlands bis zur Jahrtausendwende sowie die Geschichte Bulgariens in der postsowjetischen Zeit.
Diese Verbindung zu Bulgarien mag zunächst verblüffen, doch wirft sie einen interessanten Blick auf die Nachwirkungen des Krieges, der in den Köpfen von Menschen wie Colonel Hartman Fortbestand hat. Es ist für ihn nicht leicht zu verdauen, dass sich Sohn Jack mit dem Feind verbündet, als er mit Lydia, einer Frau aus dem kommunistischen Ostblock, eine Beziehung eingeht.

Der Roman spiegelt den Zeitgeist der unterschiedlichen Dekaden wieder und macht einfach nur Spaß. Jede der vier Erzählperspektiven hat einen eigenen Erzählsound, der für Abwechslung sorgt und die Frage nach der jeweiligen Figur, die gerade den Erzählpart übernommen hat, schnell beantwortet. Man sollte jedoch der englischen Sprache mächtig sein, denn viele Textpassagen sind in Englisch gehalten. Es wäre schade und würde diesem Roman viel nehmen, wenn man verständnislos einfach darüber hinweglesen würde.
"In jedem stecke ein Amerikaner, der rauswolle. Raus solle. Koste es, was es wolle. Auch wenn er es manchmal selbst noch nicht wisse und man ein bisschen nachhelfen müsse. Das Wesen des Amerikaners sei sein unbändiger Freiheitswille. Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit seien zwar auch Werte, aber nachrangig. Zuviel davon verheiße Schwäche, Unfreiheit, Ohnmacht. Freiheit sei Stärke…. Ein Amerikaner kapituliert nicht. Niemals. Nur so funktioniert Abschreckung. Anders ist sie nunmal nicht glaubhaft. Deshalb gibt es am Ende auch nur zwei Arten von Menschen: Amerikaner und solche, die es werden wollen – und die Feinde Amerikas."
Anhand der Geschichte der Protagonisten wird die deutsch-amerikanische Beziehung aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und nimmt daher einen großen Raum in diesem Buch ein. Doch Autor Michael Basse richtet das Augenmerk auch auf andere „Kriegsschauplätze“, wie z. B. das besondere Vater-Sohn-Verhältnis von Hartman Senior und Junior, die Rolle Amerikas im Vietnamkrieg oder die Geschichte der deutschen Frolleins.

Fazit:
Michael Basse erzählt einen Teil der Geschichte Nachkriegsdeutschland auf sehr ausgefallene und einzigartige Weise. Ein ungewöhnlicher Roman, der mich immer wieder durch neue Denkanstöße und unterschiedliche Blickwinkel auf das, was Deutschland und Amerika verbindet, überraschen konnte.
Leseempfehlung!

© Renie

Sonntag, 19. Juni 2022

Louise de Vilmorin: Belles Amours

Die adelige Louise de Vilmorin war eine französische Schriftstellerin, deren Leben heutzutage genügend Stoff für einschlägige Klatschblätter, die sich mit den Promis dieser Welt befassen, liefern würde. Louise war mal mit Antoine de St.Exupéry verlobt, geheiratet hat sie jedoch einen US-amerikanischen Millionär (Ehe 1) und später einen österreichisch-ungarischen Playboy (Ehe 2). Man munkelt, dass sie daraufhin diverse Affären mit den unterschiedlichsten Männern des öffentlichen Lebens hatte, u.a. Charles de Gaulle. Auf ihrem Familienschloss ging die Elite der französischen Künstler ein und aus. Und dass Louise ihren Roman „Belles Amours“ niemand geringerem als Orson Welles gewidmet hat, kommt sicherlich auch nicht von ungefähr. 

Wie in fast all ihren Romanen erzählt Louise de Vilmorin in „Belles Amours“ eine Geschichte aus der Welt der französischen Reichen und Schönen der 50er Jahre. 

 

Diesmal geht es um eine junge Frau, die zum Objekt der Begierde für gleich zwei Männer wird. Begehrt wird sie zunächst von Louis Duville, um die 30 Jahre alt, Spross einer reichen Familie und Schürzenjäger. Die Jagd nach Schürzen findet zunächst ein jähes Ende, als sich Louis Hals über Kopf in eben jene Madame verliebt. In Rekordzeit wird sich verlobt, der Termin der Hochzeit steht bereits fest, doch in der Nacht vor dem glücklichen Ereignis, macht sich die Braut davon. Ein alter Freund der Familie Duville und Hochzeitsgast ist Louis in die Quere gekommen. Mit der Liebe scheint es also bei Madame nicht weit hergeholt zu sein, denn diese erliegt in kurzen Momenten des Kennenlernens dem Charme des über 20 Jahre älteren Argentinier M. Zaguirre. Die Dame wird zu Mme. Zaguirre und lebt von da an in der Abgeschiedenheit des argentischen Anwesens ihres Mannes. Innerhalb kurzer Zeit kommt  Langeweile auf. Und wie es sich für reiche Jetsetter gehört, wird schon bald wieder nach Europa gereist.

Schon beginnen die Irrungen und Wirrungen einer vermeintlich glücklichen Ehe und einer Frau, die nicht weiß, was sie will. Doch dafür wissen die Kreise der gehobenen Gesellschaft, in der man sich bewegt, umso besser, was eine Frau des Standes einer Mme. Zaguirre will. Während ihres Aufenthaltes in Europa wird Mme. Zaguirre auch wieder dem einst verschmähten Louis begegnen. Nur so viel: er kommt nicht von ihr los – vielleicht ist es auch Rache an dem „guten Freund“ der Familie. Und sie weiß immer noch nicht, was gut für sie ist.

 

Es geht in diesem Roman um Liebe bzw. das, wofür sie gehalten wird. Die Frau, die im Mittelpunkt der Handlung steht, ist ein Objekt der Begierde, das es zu besitzen gilt. Das Objekt lässt sich auf dieses Spiel ein. Denn stellvertretend für die Frauen ihrer Zeit und ihrer gesellschaftlichen Kreise steht für sie der Versorgungsgedanke im Vordergrund und die damit verbundene Angst, plötzlich ohne die nötigen Mittel dazustehen, um ihren luxuriösen Lifestyle aufrecht zu erhalten. Von dem Ruf einer Dame mal abgesehen.

Man kann Louise de Vilmorin eine scharfe Beobachtungsgabe attestieren. Schließlich war sie in eben diesen gesellschaftlichen Kreisen zuhause und wusste daher, wie das menschliche Miteinander in der High Society ihrer Zeit funktionierte.

Dabei erzählt sie diese Geschichte mit großer Leichtigkeit, viel Esprit und Amüsement. Sie schien zumindest über den Dingen zu stehen und behielt die Oberhand im Spiel zwischen Mann und Frau – glaubt man ihrer Biografie. 

 

Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen. Die Seiten flogen nur so dahin und ich fühlte mich in einen Hollywood-Film der 50er Jahre hineinversetzt, Cary Grant und Grace Kelly lassen grüßen.  

Leseempfehlung!


© Renie


Louise de Vilmorin: Belles Amours (Dörlemann Verlag)

Donnerstag, 5. Mai 2022

Djaïli Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen

Munyal – Geduld!
Mit diesem Ausspruch beginnt der Roman „Die ungeduldigen Frauen“ von Djaïli Amadou Amal. Diese Worte werden dem Leser in diesem Buch noch häufiger begegnen. Und mit Fortschreiten der Handlung wird man immer wütender darauf reagieren.

Denn das, was die muslimische Autorin aus Kamerun zu erzählen hat, kann nur fassungslos und wütend machen: es geht um Zwangsheirat, Polygamie und Gewalt gegen Mädchen und Frauen.

Erzählt wird die Geschichte von drei Frauen in der Sahelzone Kameruns.

Teil 1: Ramla
Das 17-jährige Mädchen steht kurz vor ihrem Schulabschluss und träumt davon, Apothekerin zu werden. Sie verliebt sich in einen Freund ihres Bruders, beide möchten heiraten. Doch Ramlas Vater entscheidet anders. Sie wird einen deutlich älteren Mann heiraten und als eine von mehreren Ehefrauen dieses Mannes ihre Träume von einer Liebesheirat und einem Beruf als Apothekerin begraben.

Teil 2: Hindou
Sie ist die gleichaltrige Schwester von Ramla, wenn auch nicht die Tochter derselben Mutter. Denn auch der Vater der beiden Schwestern lebt in einer Polygamie. Am Tag von Ramlas Hochzeit wird auch Hindou heiraten. Sie wird einem ihrer Cousins zur Frau gegeben, dessen Brutalität, Alkoholismus und Drogenkonsum von der Familie geduldet wird. Hindou wird zum Spielball seiner gewalttätigen Fantasien.

Quelle: Orlanda
Teil 3: Safira
Sie ist die Erstfrau von Ramlas Ehemann und fühlt sich durch die neue und deutlich jüngere Ramla in ihrer führenden Rolle innerhalb des Haushaltes bedroht. Sie tut alles, um ihren Platz zu behaupten.

Diese Frauen leiden. Und die einzige Unterstützung und Hilfestellung, die sie in ihrem Leben als zwangsverheiratete Frau erhalten, ist ein Ratschlag: Munyal – Geduld!
Geduld ist ein Begriff, mit dem man Positives assoziiert: Beherrschung, Ausdauer, Rücksichtnahme, Gelassenheit, Durchhaltevermögen, Duldsamkeit. Doch Frauen, wie die drei Protagonistinnen dieses Romans, werden dem Rat „Geduld!“ wenig abgewinnen können, bedeutet er doch für sie ein Leben in Angst und ohne Hoffnung.
Was daher bleibt, ist die Ungeduld! So versucht jede Frau sich auf eine eigene und subtile Art gegen das, was ihr widerfährt zur Wehr zu setzen. 

„Die ungeduldigen Frauen“ ist eine Anklageschrift gegen die Unterdrückung von Frauen.
Dajïli Amadou Amal ist selbst eine der ungeduldigen Frauen, denn auch sie wurde mit 17 Jahren zwangsverheiratet. Ihre Ungeduld hat dazu beigetragen, dass sie heute als Frauenrechtsaktivistin für die Rechte der Frauen ihres Landes eintritt. Es bleibt zu hoffen, dass ihre Ungeduld bei den Frauen Kameruns Schule machen wird!

Der Roman ist im Jahre 2020 mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet worden, einem Ableger des französischen Literaturpreises. Zuletzt wurde Dajïli Amadou Amal von der französischen Fachzeitschrift der Buchbranche Livres Hebdo als erste Frau des afrikanischen Kontinents zur „Autorin des Jahres 2021“ gekürt. Zu Recht! Denn sowohl Roman als auch Autorin haben ganz viel Aufmerksamkeit verdient.

Leseempfehlung!

© Renie


Sonntag, 3. April 2022

Franck Bouysse: Rauer Himmel

Quelle: Polar Verlag
Eine trostlose und düstere Landschaft, eigenbrötlerische und verschlossene Charaktere, Familiengeheimisse und Tod. Die Geschichte „Rauer Himmel“ von Franck Bouysse ist ein Kriminalroman der Extraklasse, der nicht nur durch seine literarische Sprache besticht. 

Schauplatz ist ein fiktiver Ort in den französischen Cévennen im Winter: Les Doges - ein einsamer Ort, der aus zwei Höfen besteht, die von den beiden Protagonisten Gus und Abel bewohnt werden, die ich mir in keinem anderen Szenario als in dieser Trostlosigkeit vorstellen kann. Die beiden Männer sind eigenbrötlerisch, ihr Leben richtet sich nach der Natur und den Jahreszeiten, sie vermeiden den Kontakt zu anderen Menschen.
Gus und Abel gehen sich zur Hand, wenn Arbeiten auf den Höfen anfallen, die allein nicht zu bewältigen sind, verbunden mit einem anschließenden Gespräch bei einem Gläschen Wein. Ansonsten geht man sich aus dem Weg. Denn jeder ist sich selbst genug. Leben und leben lassen.
Eines Tages wird Gus durch einen Schuss und Schreie aus der Richtung des Hofes von Abel aufgeschreckt. Dieser Vorfall ist der Anfang einer Kette von Ereignissen, die die Beziehung der beiden Männer in den darauffolgenden Wochen verändern wird. Das Miteinander der Männer wird mit einem Mal von Misstrauen geprägt sein, sie werden sich belauern, in der Überzeugung, dass der andere etwas zu verbergen hat. Welche Geheimnisse im Verborgenen liegen, zeigt sich erst zum Ende des Romans, so dass der Leser ausreichend Gelegenheit haben wird, sich in eigenen Spekulationen zu versuchen.
"Den Toten vergibt man viele Dinge, auch Dinge, die wir nicht vergeben sollten."
„Rauer Himmel“ ist ein unglaublich spannender Roman. Der trostlose Schauplatz legt dabei gleich zu Anfang den Grundstein für den Aufbau einer unheimlichen Stimmung. Wo nicht, wenn an einem Ort, der dermaßen abgeschieden und trostlos düster ist, passieren schreckliche Dinge? Diese gruselige Atmosphäre begleitet den Leser bis zum Schluss. Bemerkenswert ist dabei die hohe Sprachqualität dieses Romans. Sätze und Formulierungen scheinen mit Bedacht gewählt zu sein und verbergen eine tiefere Bedeutung. Wenn man sich Zeit nimmt und sich auf diese Bedachtsamkeit einlässt, wird man von der Atmosphäre dieses Buches komplett vereinnahmt.
Das lässt ein Ende dieses Romans, das ein paar Fragen zu der Handlung und seinen Charakteren leider nicht beantwortet, leicht verschmerzen.
„Rauer Himmel“ ist daher für mich ein unglaublich fesselnder Kriminalroman und in seiner Gesamtheit ein literarisches Kunstwerk, das mich begeistert hat.

© Renie





Mittwoch, 16. Februar 2022

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Der Debütroman "Junge mit schwarzem Hahn" von Stefanie vor Schulte ist ein düsteres Märchen, in dem die Autorin ein Szenario kreiert, das eine gehörige Portion Grusel mitbringt.

Der Inhalt der Geschichte ist in einem Satz zusammengefasst: Es werden Kinder entführt und ein Held, der keiner ist, macht sich auf den Weg, diese Kinder zu befreien.
Der Schauplatz erinnert dabei an einen Sündenpfuhl biblischen Ausmaßes und lässt sich nur in etwa lokalisieren: deutschsprachiger Raum, ländliche Gegend. Die Zeit der Handlung könnte im düsteren Mittelalter spielen, technische Errungenschaften existieren nicht. Keine Elektrizität, man ist zu Fuß oder zu Pferd unterwegs. Seuchen und Kriege überziehen das Land. 
Quelle: Diogenes
Dummheit, Hass und Niedertracht regieren diese Welt. Der größte Teil der erwachsenen Charaktere dieses Romans verkörpert dabei das Böse. In all dieser apokalyptischen Düsterkeit gibt es eine Lichtgestalt: Martin, ein 11-Jähriger und Verkörperung des Guten. Das Kind Martin hat ein reines Herz. Die Menschen misstrauen Martin. Denn Martin trägt den "Teufel" mit sich herum: einen schwarzen Hahn. Dieser ist sein einziger Freund. Nur wenige Menschen, denen Martin begegnet, zeigen Menschlichkeit und sind es wert, seine Zuneigung zu gewinnen.

Der Sprachstil der Autorin ist anfangs nicht leicht zu lesen: sehr kurze, abgehackte Sätze, und eine stellenweise archaische Ausdrucksweise. Doch nach ein paar Seiten ist man in der Welt, die Stefanie vor Schulte in ihrem Roman heraufbeschwört, angekommen. 
Martin ist der Sympathieträger in diesem Roman, keiner ist wie er. In seiner Kindlichkeit und naiven Aufrichtigkeit hat man ihn schnell ins Herz geschlossen. Demgegenüber stehen die dummen Erwachsenen, die in ihrer Schlechtigkeit und Idiotie häufig für Entsetzen, aber auch für Schadenfreude sorgen. 

Bei solch einem ungewöhnlichen Roman liegt die Frage nach der Symbolik und den Parallelen zur heutigen Zeit nahe. Man könnte sich daher in Interpretationsversuchen verlieren, was sicherlich zu Verknotungen in den Hirnwindungen führen würde. Daher sollte man diesen Roman einfach als das nehmen, was er auf den ersten Blick ist: eine märchenhafte Geschichte über das Gute und das Böse, mit einem Helden, den man einfach mögen muss. 

Leseempfehlung!

© Renie


Mittwoch, 26. Januar 2022

Jenny Erpenbeck: Kairos

"Die Gelegenheit beim Schopf packen" ist ein Ausspruch, der seinen Ursprung in der Darstellung des griechischen Gottes Kairos hat. Kairos galt in der griechischen Mythologie als Verkörperung des günstigen Augenblickes, den man nur festhalten konnte, wenn man ihm an der Stirnlocke packte, denn ansonsten war er kahl. Zog Kairos also an seinem Gegenüber vorbei, war's das mit dem günstigen Moment.

Der Roman von Jenny Erpenbeck trägt nicht umsonst den Titel "Kairos". Denn den günstigen Moment erwischen die Protagonisten Katharina und Hans, als sie sich Ende der 80er Jahre zufällig in Ost-Berlin begegnen. Aus dieser Zufallsbegegnung entwickelt sich eine, in vielfacher Hinsicht, ungewöhnliche Beziehung.

Katharina ist eine 19-jährige Auszubildende, die bei ihrer Mutter wohnt und an der Schwelle zum Erwachsensein steht. Sie ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Der Sozialismus gehört für sie zur Normalität, sie ist genauso politisch interessiert, wie andere ihrer Generation - mal mehr, mal weniger. Hans ist Mitte fünfzig, verheiratet, Vater eines Sohnes in der Pubertät, Schriftsteller und überzeugter Sozialist. In der Liaison der beiden herrscht ein Ungleichgewicht. Hans dominiert Katharina, blendet sie mit seiner Lebenserfahrung, seinem unerschöpflichen Wissen über Kunst und Kultur. Er sonnt sich in ihrer Bewunderung und versucht, sie nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen. Katharina verwechselt Schwärmerei mit Liebe und versucht, seinen Ansprüchen zu entsprechen. Dadurch verliert sie immer mehr von ihrer eigenen Persönlichkeit. Die Beziehung zwischen den beiden nimmt einen ungesunden Verlauf, über mehrer Jahre, in denen sich seelische Höhen und Tiefen abwechseln.
Quelle: Penguin Verlag

Jenny Erpenbeck hat es mir mit der Darstellung des Hans nicht einfach gemacht. Ich konnte nicht anders, als mich über diese Figur zu empören. Dabei war der Altersunterschied nicht entscheidend, sondern eher die Dominanz eines Mannes, der außerhalb dieser Beziehung ein Schwächling ist und im echten Leben wenig Rückgrat besitzt. Er nutzt die Dominanz gegenüber Katharina um sein Ego aufzumöbeln. 

Während Katharina und Hans also mit ihrer und in ihrer "Liebe" kämpfen, findet um sie herum ein politischer Umbruch statt. Das Leben wird von dem Untergang der DDR bestimmt. Die Grenzen werden geöffnet und der Westen hält Einzug in den Alltag der Menschen, die plötzlich mit abrupten Veränderungen zu tun haben, die nicht alle willkommen sind, zumindest nicht in der Schnelligkeit.

Einer, der von der Wende überfordert sein wird, ist Hans. Das Weltbild des überzeugten Sozialisten stürzt ein. Es fällt ihm schwer, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. 

Kairos ist also eine interessante Kombination aus Wende-Roman und Beziehungsgeschichte. Was mich dabei begeistert hat, ist der Aufbau des Romans. Kairos wird aus zwei Perspektive erzählt, die eng miteinander verwoben sind - enger geht es nicht. Der Wechsel der Perspektiven findet innerhalb der Kapitel des Romans völlig unvermittelt statt; Satzzeichen der wörtlichen Rede sind nicht vorhanden. Man rutscht also von einem Moment auf den anderen in die Gedankenwelt des anderen Protagonisten - zunächst völlig unbemerkt, was natürlich gewöhnungsbedürftig ist. Doch durch die sprachliche Intensität der Autorin schafft man es, eine gedankliche Abgrenzung zwischen den beiden Gedankenwelten herzustellen. 

Mein Fazit:
Eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Umbruchs der DDR, wobei mir der Hintergrund besser als der Vordergrund gefallen hat. Denn die Beziehungsgeschichte hat mich nicht überzeugt, was ausschließlich an meiner Ablehnung des männlichen Protagonisten lag. Bemerkenswert sind jedoch die sprachliche Intensität von Jenny Erpenbeck sowie der ungewöhnliche Aufbau dieses Romans. Leseempfehlung!

© Renie

Dienstag, 11. Januar 2022

Shumona Sinha: Das russische Testament

Mit „Das russische Testament“, hat die französische Autorin Shumona Sinha ein interessantes Stück multikultureller Literatur geschrieben. Die Autorin ist in Kalkutta geboren, lebt sei 20 Jahren in Frankreich, ist Herausgeberin mehrerer Lyrikbände auf Bengalisch und Französisch und erzählt in ihrem aktuellen Roman über russische Literatur und einem russischen Verlag im Besonderen, eingebunden in die Geschichten zweier Frauen: einer Inderin und einer Russin.

Tania, ein junges Mädchen, wächst in den 80er Jahren in Kalkutta auf. Ihr Vater betreibt eine kleine Buchhandlung, die auf russische Literatur spezialisiert ist. Tania hat das Pech, als Mädchen geboren zu sein und keinen Bruder zu haben. Grund genug für die Mutter, ihr das Leben unerträglich zu machen. Tanias Zuflucht vor ihrem Leben zuhause sind die russischen Bücher, in denen sie sich in dem Laden ihres Vaters verliert. 

Nach der Schule beginnt Tania ein Literaturstudium und wird sich dabei politisch engagieren. Eine kommunistische Studentenbewegung bietet ihr zunächst die Familie, die sie bisher nicht hatte. Sie führt ein Leben, das ihren Eltern unbekannt bleibt, was natürlich auf Dauer in einem Land mit einer Kultur, die Frauen ein selbstbestimmtes Leben verweigert, nicht gut ausgehen kann. 
Die einzige Zuflucht vor der Realität ist und bleibt für Tania die Literatur.
Quelle: Edition Nautilus

Während ihres Studiums lernt Tania die Bücher eines kleinen russischen Verlages - Raduga - kennen und schätzen. Die Geschichte des Verlages, der in den 20er Jahren Bücher veröffentlicht hat, die weder ideologisch noch realitätsbezogen waren und somit auf Dauer gegen die Vorgaben der Stalin Regierung verstießen, fasziniert Tania. Sie verbringt viel Zeit damit, Nachforschungen über den Verlag und seinen Verleger, der 1933 starb, anzustellen. Sie nimmt Kontakt zu der inzwischen über 80-jährigen Tochter (Adel) des Verlegers auf, die in einem Altenheim in Sankt Petersburg lebt und bittet sie um Unterstützung bei ihren Recherchen. 

Adel erinnert sich an ihre Kindheit und das Schicksal ihres Vaters Lew Kljatschko, Journalist und Verlagsgründer des russischen Verlages Raduga. Kljatschko kämpfte zeitlebens darum, die Unabhängigkeit seines Verlages in einem Land zu bewahren, dessen damalige Ideologie jegliche Phantasie und Schönheit ersticken wollte. Am Ende verlor er diesen Kampf. 

Adel spinnt den Erzählfaden weiter. Denn die Geschichte des Verlages und ihres Vaters ist auch ihre eigene Geschichte, die sich nach seinem Tod 1933 fortsetzt, eingebettet in einen historischen Rahmen: vom Stalinismus bis hin zur heutigen Zeit.
"In meiner Kindheit habe auch ich meinen Körper unter den farbenfrohen Büchern versteckt. Ich will nicht, dass man die alte Decke aus kunstvoll gewebten Lügen lüftet. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine zarte Seele dieser zerstörten, eisigen Welt auszusetzen, die kein Strahl eines Traums mehr wärmt."
"Das russische Testament" ist ein wundervolles Stück Literatur, das in einem poetischen und bildhaften Sprachstil erzählt wird. Die Autorin lässt den Leser in fremde Kulturen eintauchen und erzählt dabei in separaten Handlungssträngen die Geschichte von zwei Frauen, deren einzige Verbindung die Literatur zu sein scheint. Einziger Makel an diesem Buch: Die Motivation der Protagonistin Tania für ihr Interesse an dem russischen Verlag und seinem Verleger bleibt vage. Dennoch sind die beiden Handlungsstränge - jeder für sich genommen - unglaublich faszinierend, so dass ich diesen Roman sehr gern gelesen habe.

Leseempfehlung!

© Renie