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Mittwoch, 26. Januar 2022

Jenny Erpenbeck: Kairos

"Die Gelegenheit beim Schopf packen" ist ein Ausspruch, der seinen Ursprung in der Darstellung des griechischen Gottes Kairos hat. Kairos galt in der griechischen Mythologie als Verkörperung des günstigen Augenblickes, den man nur festhalten konnte, wenn man ihm an der Stirnlocke packte, denn ansonsten war er kahl. Zog Kairos also an seinem Gegenüber vorbei, war's das mit dem günstigen Moment.

Der Roman von Jenny Erpenbeck trägt nicht umsonst den Titel "Kairos". Denn den günstigen Moment erwischen die Protagonisten Katharina und Hans, als sie sich Ende der 80er Jahre zufällig in Ost-Berlin begegnen. Aus dieser Zufallsbegegnung entwickelt sich eine, in vielfacher Hinsicht, ungewöhnliche Beziehung.

Katharina ist eine 19-jährige Auszubildende, die bei ihrer Mutter wohnt und an der Schwelle zum Erwachsensein steht. Sie ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Der Sozialismus gehört für sie zur Normalität, sie ist genauso politisch interessiert, wie andere ihrer Generation - mal mehr, mal weniger. Hans ist Mitte fünfzig, verheiratet, Vater eines Sohnes in der Pubertät, Schriftsteller und überzeugter Sozialist. In der Liaison der beiden herrscht ein Ungleichgewicht. Hans dominiert Katharina, blendet sie mit seiner Lebenserfahrung, seinem unerschöpflichen Wissen über Kunst und Kultur. Er sonnt sich in ihrer Bewunderung und versucht, sie nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen. Katharina verwechselt Schwärmerei mit Liebe und versucht, seinen Ansprüchen zu entsprechen. Dadurch verliert sie immer mehr von ihrer eigenen Persönlichkeit. Die Beziehung zwischen den beiden nimmt einen ungesunden Verlauf, über mehrer Jahre, in denen sich seelische Höhen und Tiefen abwechseln.
Quelle: Penguin Verlag

Jenny Erpenbeck hat es mir mit der Darstellung des Hans nicht einfach gemacht. Ich konnte nicht anders, als mich über diese Figur zu empören. Dabei war der Altersunterschied nicht entscheidend, sondern eher die Dominanz eines Mannes, der außerhalb dieser Beziehung ein Schwächling ist und im echten Leben wenig Rückgrat besitzt. Er nutzt die Dominanz gegenüber Katharina um sein Ego aufzumöbeln. 

Während Katharina und Hans also mit ihrer und in ihrer "Liebe" kämpfen, findet um sie herum ein politischer Umbruch statt. Das Leben wird von dem Untergang der DDR bestimmt. Die Grenzen werden geöffnet und der Westen hält Einzug in den Alltag der Menschen, die plötzlich mit abrupten Veränderungen zu tun haben, die nicht alle willkommen sind, zumindest nicht in der Schnelligkeit.

Einer, der von der Wende überfordert sein wird, ist Hans. Das Weltbild des überzeugten Sozialisten stürzt ein. Es fällt ihm schwer, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. 

Kairos ist also eine interessante Kombination aus Wende-Roman und Beziehungsgeschichte. Was mich dabei begeistert hat, ist der Aufbau des Romans. Kairos wird aus zwei Perspektive erzählt, die eng miteinander verwoben sind - enger geht es nicht. Der Wechsel der Perspektiven findet innerhalb der Kapitel des Romans völlig unvermittelt statt; Satzzeichen der wörtlichen Rede sind nicht vorhanden. Man rutscht also von einem Moment auf den anderen in die Gedankenwelt des anderen Protagonisten - zunächst völlig unbemerkt, was natürlich gewöhnungsbedürftig ist. Doch durch die sprachliche Intensität der Autorin schafft man es, eine gedankliche Abgrenzung zwischen den beiden Gedankenwelten herzustellen. 

Mein Fazit:
Eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Umbruchs der DDR, wobei mir der Hintergrund besser als der Vordergrund gefallen hat. Denn die Beziehungsgeschichte hat mich nicht überzeugt, was ausschließlich an meiner Ablehnung des männlichen Protagonisten lag. Bemerkenswert sind jedoch die sprachliche Intensität von Jenny Erpenbeck sowie der ungewöhnliche Aufbau dieses Romans. Leseempfehlung!

© Renie

Dienstag, 11. Januar 2022

Shumona Sinha: Das russische Testament

Mit „Das russische Testament“, hat die französische Autorin Shumona Sinha ein interessantes Stück multikultureller Literatur geschrieben. Die Autorin ist in Kalkutta geboren, lebt sei 20 Jahren in Frankreich, ist Herausgeberin mehrerer Lyrikbände auf Bengalisch und Französisch und erzählt in ihrem aktuellen Roman über russische Literatur und einem russischen Verlag im Besonderen, eingebunden in die Geschichten zweier Frauen: einer Inderin und einer Russin.

Tania, ein junges Mädchen, wächst in den 80er Jahren in Kalkutta auf. Ihr Vater betreibt eine kleine Buchhandlung, die auf russische Literatur spezialisiert ist. Tania hat das Pech, als Mädchen geboren zu sein und keinen Bruder zu haben. Grund genug für die Mutter, ihr das Leben unerträglich zu machen. Tanias Zuflucht vor ihrem Leben zuhause sind die russischen Bücher, in denen sie sich in dem Laden ihres Vaters verliert. 

Nach der Schule beginnt Tania ein Literaturstudium und wird sich dabei politisch engagieren. Eine kommunistische Studentenbewegung bietet ihr zunächst die Familie, die sie bisher nicht hatte. Sie führt ein Leben, das ihren Eltern unbekannt bleibt, was natürlich auf Dauer in einem Land mit einer Kultur, die Frauen ein selbstbestimmtes Leben verweigert, nicht gut ausgehen kann. 
Die einzige Zuflucht vor der Realität ist und bleibt für Tania die Literatur.
Quelle: Edition Nautilus

Während ihres Studiums lernt Tania die Bücher eines kleinen russischen Verlages - Raduga - kennen und schätzen. Die Geschichte des Verlages, der in den 20er Jahren Bücher veröffentlicht hat, die weder ideologisch noch realitätsbezogen waren und somit auf Dauer gegen die Vorgaben der Stalin Regierung verstießen, fasziniert Tania. Sie verbringt viel Zeit damit, Nachforschungen über den Verlag und seinen Verleger, der 1933 starb, anzustellen. Sie nimmt Kontakt zu der inzwischen über 80-jährigen Tochter (Adel) des Verlegers auf, die in einem Altenheim in Sankt Petersburg lebt und bittet sie um Unterstützung bei ihren Recherchen. 

Adel erinnert sich an ihre Kindheit und das Schicksal ihres Vaters Lew Kljatschko, Journalist und Verlagsgründer des russischen Verlages Raduga. Kljatschko kämpfte zeitlebens darum, die Unabhängigkeit seines Verlages in einem Land zu bewahren, dessen damalige Ideologie jegliche Phantasie und Schönheit ersticken wollte. Am Ende verlor er diesen Kampf. 

Adel spinnt den Erzählfaden weiter. Denn die Geschichte des Verlages und ihres Vaters ist auch ihre eigene Geschichte, die sich nach seinem Tod 1933 fortsetzt, eingebettet in einen historischen Rahmen: vom Stalinismus bis hin zur heutigen Zeit.
"In meiner Kindheit habe auch ich meinen Körper unter den farbenfrohen Büchern versteckt. Ich will nicht, dass man die alte Decke aus kunstvoll gewebten Lügen lüftet. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine zarte Seele dieser zerstörten, eisigen Welt auszusetzen, die kein Strahl eines Traums mehr wärmt."
"Das russische Testament" ist ein wundervolles Stück Literatur, das in einem poetischen und bildhaften Sprachstil erzählt wird. Die Autorin lässt den Leser in fremde Kulturen eintauchen und erzählt dabei in separaten Handlungssträngen die Geschichte von zwei Frauen, deren einzige Verbindung die Literatur zu sein scheint. Einziger Makel an diesem Buch: Die Motivation der Protagonistin Tania für ihr Interesse an dem russischen Verlag und seinem Verleger bleibt vage. Dennoch sind die beiden Handlungsstränge - jeder für sich genommen - unglaublich faszinierend, so dass ich diesen Roman sehr gern gelesen habe.

Leseempfehlung!

© Renie