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Sonntag, 29. November 2020

Ian McEwan: Maschinen wie ich

Mit "Maschinen wie ich" hat sich Ian McEwan eines Themas angenommen, das momentan in der Literatur eine starke Präsenz hat - und nicht nur dort: Künstliche Intelligenz.
Doch der Schriftsteller begegnet dem Thema in einer Art, die wenig mit Science Fiction, Dystopien oder Roboter-Romantik zu tun hat. Denn bei McEwan wird gemenschelt, wovon sich auch Maschinen mit ihren künstlichen Intelligenzen nicht ausnehmen lassen. 

Man stelle sich folgendes Scenario vor: Der Paketdienst liefert ein lang ersehntes Paket an Charlie, einem Londoner Mit-Dreißiger und Protagonist dieses Romans. Inhalt des Paketes ist ein jungfräulicher und nackiger Roboter in Menschengestalt, quasi ein Wunderwerk der Forschung und Technik: Adam , einer der "ersten wirklich funktionsfähigen künstlichen Menschen mit überzeugender Intelligenz und glaubhaftem Äußeren". Charlies Adam ist nicht nur nagelneu, er sieht auch noch gut aus. Adams Schöpfer haben sich viel Mühe bei der Konstruktion des Androiden gegeben, zumindest was das Äußerliche angeht. Denn die inneren Werte müssen vom neuen Besitzer noch konfiguriert werden, genauso wie die Charaktereigenschaften, des innovativen Produktes. Jeder Adam also nach der Façon des neuen Besitzers. 
Quelle: Diogenes
"Künstliche Menschen würden uns anfangs ähnlicher werden, dann genau wie wir und schließlich mehr als wir sein, deshalb können sie uns niemals anöden. Sie würden uns zwangsläufig stets aufs Neue überraschen, auch auf unerfreuliche Weisen, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. Tragödien waren möglich, Langeweile nicht."
So legt sich Charlie also ins Zeug, um aus Adam einen Vorzeige-Roboter zu machen. Dabei erhält er Unterstützung von seiner Nachbarin Miranda, die nebenbei noch eine gute Freundin ist, wenn nicht noch mehr. Und man wundert sich nicht, dass die Ansichten über die Eigenschaften einer fleischgewordenen Maschine bei Mann und Frau unterschiedlich aussehen. Maschine Adam wird das dritte Rad am Wagen dieser Zweierkonstellation aus Charlie und Miranda. So menschlich sich Adam auch präsentiert, darf man nicht außer Acht lassen, dass er nicht nur als anregende und innovative Gesellschaft angeschafft worden ist, sondern auch diverse andere Pflichten innerhalb der Gemeinschaft von Charlie und Miranda übernimmt. Inwieweit sich Adams Einsatz auszahlen wird, bleibt bis zum Ende des Romans spannend. 

Der Roman spielt in London, im Jahre 1982. Dabei nimmt Ian McEwan es mit der Chronologie der Zeitgeschichte nicht so genau. Neben der Falkland-Krise zwischen England und Argentinien tauchen in der Handlung auf einmal Handy und Internet auf, die man eigentlich erst mindestens 10 Jahre später auf dem Schirm hatte. Genauso lässt er mal eben Alan Turing, ein Pionier der frühen Computerentwicklung und Informatik, der sich zu Lebzeiten eingehend mit künstlicher Intelligenz beschäftigt hat, am Geschehen teilnehmen. Nur dass Turing bereits 28 Jahre zuvor gestorben ist. Fällt dieser Kunstgriff nun unter schriftstellerische Freiheit? Egal. Lassen wir McEwan den Spaß. Für mich war diese freizügige Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehr originell. McEwan definiert den Begriff der Science Fiction für sich neu. Warum nicht?!! 

Bei McEwan finde ich es immer wieder phänomenal, mit welcher Leichtigkeit er Stimmungen kreieren kann. Auch in "Maschinen wie ich" werden sämtliche Stimmungen angesprochen, die man sich vorstellen kann. Zu Beginn schwingt beim Lesen ein leichter Grusel und mulmiges Gefühl mit. Die Szene, in der Adams Akku das erste Mal geladen wird, um ihn in Betrieb nehmen zu können, würde einem Horrorfilm alle Ehre machen. Da sitzt ein äußerlich Mensch gewordener Roboter regungslos in Charlies Küche. Charlie belauert jeder Veränderung dieses Objektes. Das hat etwas von Auferstehung von den Toten (The Walking Dead lässt grüßen). 
Später wird Adam immer menschlicher. Er ist vom Hersteller so programmiert, dass er permanent lernt, insbesondere aus seinen Interaktionen und den Informationen, die er aus seinem Umfeld mitnimmt. Dieses Lernen bezieht sich nicht nur auf das Verarbeiten von Fakten, sondern gleichzeitig entwickeln sich Adams Gefühlsleben und Moral weiter. Ja, es ist kaum zu glauben, aber bei McEwan hat auch ein Roboter Gefühle. 
Es kommt zu slapstickhaften Szenarien. Insbesondere Charlie fällt es schwer, die Grenze zwischen Maschine und Mensch zu ziehen. Da kommt auch schon mal Eifersucht ins Spiel, wenn Charlie plötzlich mit Maschine Adam als Mann konkurrieren muss. 
Die Weiterentwicklung von Adam zum Individuum mit eigenen Moralvorstellungen ist nicht aufzuhalten. Dies birgt Konfliktpotenzial zwischen Charlie, Miranda und Adam. Denn scheinbar ist Maschine Adam der bessere Mensch in dieser Gemeinschaft. Gerade zum Ende zieht die Spannung an. Denn dem Konflikt zwischen einem Roboter mit einem Gewissen und seinen Besitzern, die eine weitaus großzügigere Auslegung von Moral haben als er, ist nicht mehr mit guten Worten beizukommen.
"In dem Moment, da wir im Verhalten keinen Unterschied mehr zwischen Mensch und Maschine erkennen können, müssen wir der Maschine Menschlichkeit zuschreiben."
Die Charaktere
Charlie ist ein Mittdreißiger, der bisher mit seinem Leben nichts Gescheites anzufangen wusste. Er legt eine naive Gleichgültigkeit an den Tag, wenn es um sein Leben und seine Zukunft geht. Sein Leben wirkt ziellos. Er lebt vor sich hin, will Spaß haben (wozu die Digitalisierung einen wichtigen Beitrag leistet), kommt irgendwie klar. Verantwortung ist nichts für ihn. Er träumt den Traum der Selbstverwirklichung. Nur, wer er ist, und was es zu verwirklichen gilt, ist ihm dabei nicht klar.
In dem Moment, wo sich Miranda und er näher kommen, fängt Charlie an umzudenken. Was die Liebe nicht alles ausmachen kann!
Als eingefleischter Nerd legt er sich Adam als neues technisches Spielzeug zu (eine Erbschaft bewirkt, dass er über die notwenigen finanzielle Mittel verfügt). Doch Charlie hat Schwierigkeiten, die Grenze zwischen Mensch und Maschine zu ziehen. Je "menschlicher" Adam wird, umso schwieriger ist es für Charlie, ihn als das zu betrachten, was er ist: eine Maschine.
Und auch ich hatte Schwierigkeiten, Adam auf Dauer als Maschine zu betrachten. Zugegeben, gerade am Anfang, als Adam noch völlig unbefleckt auf das Leben losgelassen wird und seiner Umgebung mit einer herzerfrischenden Naivität begegnet, fällt dies noch leicht. Doch je mehr Adam lernt, ein Mensch zu sein, verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Maschine. Aufgrund seiner unumstößlichen Moralvorstellungen mutiert Adam zu einem immer besseren Menschen. Und als Leser lernt man, dass auch Maschinen Gefühle haben. 

Mein Fazit:
Das Thema "Künstliche Intelligenz" ist irgendwie und überall präsent. Aber dennoch habe ich mich bisher mit diesem Thema nur oberflächlich auseinandergesetzt. Daher bin ich begeistert, dass ich hier viele Denkansätze gefunden habe, die bei mir zwar unterschwellig vorhanden waren, aber erst durch diesen Roman herausgekitzelt wurden. Ian McEwan ist wieder zur Höchstform aufgelaufen, in dem er ein Thema, das in unserer Gesellschaft immer mehr Raum einnimmt, auf eine unnachahmlich spritzige und charmante Weise präsentiert hat. Es ist ihm dabei gelungen, niemals die Ernsthaftigkeit in der Betrachtung dieses Themas außer Acht zu lassen. Ian McEwan hat es einfach drauf und bleibt damit auf der Liste meiner Lieblingsschriftsteller ganz weit oben. 

© Renie

Sonntag, 22. November 2020

Margaret Goldsmith: Patience geht vorüber

Die amerikanische Autorin Margaret Goldsmith (1895 - 1971) erzählt in ihrem feministischen Roman "Patience geht vorüber" die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und zeichnet gleichzeitig ein Bild der deutschen sowie der englischen Gesellschaft in der Zeit von 1918 bis 1930.

Zu Beginn der Handlung hat die Protagonistin Patience gerade ihr Abitur bestanden. Sie ist die Tochter einer britischen Adeligen und eines deutschen Arztes. Die Familie lebt in Berlin. Patience ist zweisprachig aufgewachsen - ungewöhnlich für die damaligen Verhältnisse. 

Nach einem kurzen Intermezzo in einer deutschen Behörde, wird Patience journalistisch tätig. Ihre Zweisprachigkeit ist ihrem beruflichen Werdegang dabei sehr förderlich. Während sie sich im Beruf sehr zielstrebig durchs Leben bewegt, scheint Patience im privaten Bereich ein wenig orientierungslos zu sein. Ihre erste große Liebe ist ihre beste Freundin, mit der sie erste sexuelle Erfahrungen sammelt, was jedoch nicht bedeutet, dass sie eine körperliche Abneigung gegenüber Männern verspürt. Ganz im Gegenteil. Diese Zweigleisigkeit überfordert Patience allerdings.
Quelle: AvivA
"Alles ging wie ein Kreisel im Kopf herum. Innerlich: deutsche Grübelei; äußerlich: gelassene angelsächsische Haltung, die ihre Verstörtheit nicht im geringsten verriet. Aber die große Spaltung zwischen dem Inneren und dem Äußeren wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Etwas mußte geschehen."
Irgendwann bricht sie ihre Zelte in Berlin ab und geht nach London. Eine Anstellung bei einer Zeitung macht dies möglich. Mittlerweile ist sie zu einer selbstbewussten jungen Frau geworden, die ihren eigenen Stil gefunden hat. Sie strahlt eine gewisse Exzentrik aus, da sie das Leben nun lebt, wie sie es für richtig hält, ungeachtet dessen, was die Gesellschaft als schicklich ansieht. Dennoch bleibt sie immer diskret, bei dem, was sie tut. Doch diese Exzentrik erweist sich als Fassade. Denn im tiefsten Inneren ist Patience rastlos und auf der Suche nach etwas, das ihrem Leben Erfüllung bringt. Und dieses etwas wird sie zum Ende des Romans finden.

Patience geht nicht nur vorüber, sie sitzt auch zwischen den Stühlen: kulturell und gefühlsmäßig. Als Tochter eines Deutschen und einer Engländerin hat sie von kleinauf beide Kulturen und ihre Eigenarten mitbekommen. Egal, wo ihr Lebensmittelpunkt gerade war, Patience hat sich stets der anderen Kultur verbunden gefühlt, was sie immer zum Außenseiter gemacht hat.
Diese Zerrissenheit zeigt sich auch in ihrem Liebesleben. Denn Patience liebt zunächst Frauen, wird sich aber später zum anderen Geschlecht orientieren.
"Und alles, was mit Freiheit zusammenhing, alles was auch nur im geringsten nach Freiheit schmeckte, war ihr ein Fetisch geworden. 'Technik ist alles', keine dauernden Bindungen, keine Verantwortung in menschlichen Beziehungen, so viel vom Leben nehmen, wie möglich, und so wenig wie möglich geben."
Patience ist - gemessen am damaligen Zeitgeist - eine ungewöhnliche Frau: Sie ist selbstbewusst, steht ihre Frau bei der Arbeit in einer Männerdomäne und ist dabei von keinem Mann abhängig. Ganz im Gegenteil. Im Zusammensein mit Männern behält sie immer die Oberhand und ist mit ihrer exzentrischen Art sehr provokant. Mit der Zeit weiß sie, was sie will und geht zielstrebig ihren Weg, um dies zu erreichen. 

In einem sehr informativen Nachwort dieses Romans erfahren wir, dass es auffällige Parallelen zwischen dem Leben von Patience und ihrer Schöpferin Margaret Goldsmith gab. Die amerikanische Schriftstellerin, die 1895 in Amerika auf die Welt kam, wuchs in Berlin auf. Genau wie Patiences Lebensweg war auch ihrer für die damalige Zeit ungewöhnlich. Ihre berufliche Karriere verlief sehr zielstrebig. So wurde ihr Anfang der 30er Jahre eine Führungsposition im diplomatischen Dienst zugesprochen, was sie zu eine der ersten Amerikanerinnen machte, die Karriere in dieser Männerdomäne erlangte.
Margart Goldsmith lebte genau wie Patience in mehreren Kulturen. Sie ist in der Welt herumgekommen, nicht zuletzt aufgrund ihres beruflichen Werdegangs. Diese Erfahrungen fließen in ihrem Roman auf sehr humorvolle Art ein. Die Autorin schildert die Eigenarten der unterschiedlichen Kulturen aus der Sicht von Patience, die mal als Deutsche in England lebt und mal als Engländerin in Deutschland. Margaret Goldsmiths Schreibstil ist dabei sehr lebhaft und quirlig, was dieses Buch sehr modern erscheinen lässt. Kaum zu glauben, dass dieser Roman erstmalig 1931 veröffentlicht wurde.

Leider war für mich das Ende dieses Romans schwer nachvollziehbar. Die selbstbewusste Patience, die sich bis zu diesem Zeitpunkt weitestgehend über gesellschaftliches Rollendenken hinweggesetzt hat, findet ihre Erfüllung am Ende in einer Rolle, die jeglicher feministischer Denkweise widerspricht. Gemessen an der heutigen Zeit ist dieses Ende für mich nicht stimmig. Doch hinsichtlich der damaligen Zeit lässt sich nur mutmaßen, dass die Autorin trotz aller Modernität und feministischer Einstellung eine Frau ihrer Zeit geblieben ist und das vorherrschende Rollendenken im tiefsten Inneren nicht ablegen konnte.

Mein Fazit:
Patience hat mal eben im Vorübergehen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Denn mit "Patience geht vorüber" habe ich einen Roman über die Entwicklung einer Frau gelesen, die nach anfänglichen Startschwierigkeiten in ihr Erwachsenenleben, den für sie richtigen Lebensentwurf gefunden hat. Hätte Patiences Geschichte in unserer heutigen Zeit gespielt, könnte man dieses Buch als einen von vielen Entwicklungsromanen abtun. Doch in Anbetracht der Zeit, in der der Roman spielt, erhält Patiences Geschichte eine völlig andere Bedeutung und macht diesen Roman zu einem lesenswerten und ungewöhnlichen Stück Frauenliteratur.

© Renie










Montag, 16. November 2020

Hans Rath: Im nächsten Leben wird alles besser

Quelle: Pixabay
Hans Rath war mir bisher eher als Drehbuchautor von lustigen Filmkomödien ein Begriff. Als ich seinen aktuellen Roman "Im nächsten Leben wird alles besser" im Briefkasten hatte, war ich zunächst nicht sicher, ob ich mit diesem Buch warm werden würde. Da ich immer mit großen Vorbehalten an Romane herangehe, die einen betont lustigen Titel tragen und den Anschein von Geistreichtum und Esprit vermitteln wollen, hatte "Im nächsten Leben wird alles besser" schlechte Voraussetzungen, um vor meinem kritischen Auge bestehen zu können. (Warum denke ich bei diesem Buchtitel nur immer an "Beim nächsten Mann wird alles anders"?)
Da ich jedoch auch gerne mal was riskiere - literarisch zumindest -, habe ich mich mutig in diesen Roman gestürzt.

Der Plot ist schon mal vielversprechend:
Arnold, ein Miesepeter aus dem Jahr 2020, der seinem Umfeld mit seinem ewigen Pessismismus auf die Nerven geht, gerät quasi im Schlaf in das Jahr 2045. Der nun 78-Jährige kann sich nur leider nicht daran erinnern, was in den letzten 25 Jahren in seinem Leben und der Welt passiert ist. Zumindest ist ihm die Welt im Jahre 2045 völlig fremd geworden: künstliche Intelligenzen in Menschengestalt, permanente Kontrolle der Menschen durch Datenübertragungen jeglicher Form inklusive Überwachung ihrer Vitalfunktionen. 
"'... Die Reichen und Mächtigen lassen es sich eine Menge Geld kosten, uns Normalsterbliche loszuwerden. Als Arbeitskräfte werden wir nicht mehr gebraucht, weil die Bots alles erledigen. Und als Konsumenten sind nur Menschen interessant, die über entsprechende Mittel verfügen. Mehr als die Hälfte der Menschheit ist überflüssig. Wir fallen einfach durchs Raster. Wir sind zu arm, zu krank oder zu dumm, um der Welt noch länger von Nutzen zu sein, also findet unsere weitere Geschichte in einem Computernetzwerk statt.'" 
Die Welt ist komplett digitalisiert. Die Einen empfinden dies als Fluch, die Anderen als Segen. Und wem die Realität nicht gut genug ist, hat die Möglichkeit, sich eine Realität nach seinen eigenen Wunschvorstellungen zu schaffen. Wünsche werden zur Wirklichkeit - egal, wie verrückt, ungesund oder unbezahlbar sie erscheinen. 

So versucht also unser gealteter Skeptiker Arnold in seiner neuen Gegenwart zurechtzukommen und stellt vieles an, um sein Gedächtnis wiederzuerlangen.
Natürlich ist die zentrale Frage dieses Romans, wie unser Held in diese Situation gekommen ist, und was es mit seiner Amnesie auf sich hat. 

Arnold durchläuft in diesem Roman eine Entwicklung. War er im Jahre 2020 ein Protagonist zum Abgewöhnen - wer gibt sich schon gerne mit Miesepetern ab? -, wird er im Jahre 2045 zu einem angenehmen Zeitgenossen, der in die Jahre gekommen ist, und der die Welt, in der er jetzt lebt, hinterfragt. Tatsächlich entwickelt er sich zu einem Rebellen, der sich am Ende weigert, sich dem System anzupassen. 
"'Weißt du, so eine Amnesie ist wie eine Wundertüte. Man weiß nie, ob man gute oder schlechte Erinnerungen bekommt, wenn man jemanden trifft, der ein gemeinsames Kapitel aufschlägt. Es ist wie das ungute Gefühl nach einer Party, bei der man zuviel getrunken hat, weshalb man sich am nächsten Morgen nicht mehr an jedes Detail erinnern kann. Man freut sich, wenn man hört, dass es ein netter Abend war. Aber leider ist es auch nicht zu ändern, falls man sich danebenbenommen hat.'"
Eine in die Zukunft gerichtete Zeitspanne von 25 Jahren ist nicht besonders lang. War das jetzt Science Fiction, die ich gelesen habe? Ich befürchte nicht. Denn viele digitalen Errungenschaften, die sich der Autor für das Jahr 2045 ausgedacht hat, haben ihre Anfänge bereits in der heutigen Zeit. Ich habe doch sehr viele Ähnlichkeiten zu unserem jetzigen Alltag gesehen. Hans Rath mag es an manchen Stelle mit seiner Vision, was unsere Zukunft betrifft, auf die Spitze getrieben haben. Doch weit kann diese Spitze nicht entfernt sein. Mir scheint, wir stehen kurz davor. 

Plot und Gestaltung des Charakters haben mir also gut gefallen. Natürlich ist der Autor seiner humorvollen Schiene treugeblieben. Es ist schon sehr amüsant, wie der Protagonist durch sein neues Leben stolpert. Dieses Buch ist für mich daher ein humorvoller Unterhaltungsroman, der ein Zukunftsszenario kreiiert, das man nicht erleben möchte.

Leider ist der Handlungsablauf in weiten Teilen vorhersehbar. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, die begründen könnten, warum unser Protagonist auf Zukunftsreise gegangen ist. Die Auflösung dieses Rätsels lag mir zu sehr auf der Hand. Das ist schade. Denn ich möchte von einem Autor überrascht werden. Wenn ich im Vorfeld ahne, wie eine Handlung ablaufen wird, läuft eine Geschichte Gefahr, dass ich das Interesse an ihr verliere. 

Mein Fazit:
Plot und Charaktere sind gut gemacht. Die Ideen des Autors, wie unsere Welt in 25 Jahren aussehen könnte sind durchaus vorstellbar. Leider hat mir die Vorhersehbarkeit, was die Auflösung des Geheimnisses über die Geschichte des Protagonisten betrifft, meiner Freude an diesem Roman einen Dämpfer verpasst. 

© Renie

Mittwoch, 11. November 2020

Sien Volders: Norden

Quelle: Pixabay/ArtTower
Die flämische Autorin Sien Holders stellt in ihrem Roman "Norden" einen ganz besonderen Ort vor: die Goldgräberstadt Forty Mile, welche hoch im Norden von Kanada an der Grenze zu Alaska liegt. Zu ihrer Blütezeit, Ende des 19. Jahrhunderts, zählte dieser Ort etwa 700 Einwohner. Heute ist Forty Mile nur noch eine Geisterstadt, die imTerritorium Yukon liegt und unter der Verwaltung der Territoriumsregierung sowie der Tr'ondëk Hwëch'in, den Ureinwohnern dieser Gegend, steht.
An diesen legendären Ort führt uns also die Handlung von "Norden" und deutet auf Abenteuerroman und Goldgräberstimmung hin. Doch weit gefehlt, es geht auch anders.

Zum Inhalt:
Die, in Vancouver lebende, junge Silberschmiedin Sarah erhält ein lukratives Angebot von einem bekannten Schmuckproduzenten, das sie in ihrer Karriere voran bringen könnte. Zunächst zögert sie und sieht sich noch nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Sie muss sich zunächst darüber im Klaren werden, was ihr im Leben wichtig ist. Dadurch entschließt sie sich zu einer Denkpause an einem abgelegenen Ort, um sich darauf zu besinnen, was sie tatsächlich möchte. Denn Sarah versteht ihre Schmuckarbeiten als Ausdruck ihrer Persönlichkeit und tut sich schwer damit, diese einem kommerziellem Diktat zu unterwerfen. Dieser abgelegene Ort ist für sie Forty Mile. 
Quelle: Residenz Verlag

"Jeden Herbst, jeden Winter, jedes Frühjahr spürten sie bis in die Knochen, wie der Norden rief und lockte. Die Täler und die Tundra, die Flüsse und die Stille. Die Leere, die niederschmetternd sein konnte. Der Hunger nach Einsamkeit und nach einem Leben in der Wildnis, der die meisten in diesem letzten Städtchen im Norden der bewohnten Welt stranden ließ. Forty Mile. Wo jeder rumhing, jeder fieberte. Wo man einander am Rand der Einöde fand. Wo Kameradschaft durch die knallharten Winter brachte und es immer und überall genügend Alkohol gab, um die eigene Ohnmacht wegzusaufen."
In Forty Mile ticken die Uhren anders. Menschen, die hier leben sind Individualisten und Aussteiger. Viele von ihnen sind hierher gekommen, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Menschen leben ein einfaches Leben, das den Regeln der Natur unterworfen ist. Sarah genießt das unverfälschte Dasein in der Goldgräberstadt. Freundschaften entwickeln sich, sie verliebt sich. Am Ende wird sie sich für die Arbeit mit der Schmuckfirma entscheiden. Doch Forty Mile und seine Menschen werden von da an immer ihre neue Heimat bleiben, in die sie immer wieder zurückkehren wird.
Es geht in diesem Roman hauptsächlich um die Protagonistin Sarah. Doch auch die Bewohner von Forty Mile haben einen großen Anteil an der Handlung. Die Autorin Sien Volders geht sehr liebevoll auf die persönlichen Geschichten dieser Menschen ein. Eine von ihnen ist Mary, die hier den einzigen Laden führt und Dreh- und Angelpunkt für den Austausch von Nachrichten der Bewohner Forty Miles ist - sowohl der Zugezogenen, der Alteingesessenen als auch der Weggezogenen. Denn Mary kennt alle und alle kennen Mary. Mary ist vor etlichen Jahren mit ähnlichen Beweggründen wie Sarah hergekommen. Doch sie entschied sich damals gegen den kommerziellen Erfolg, verliebte sich aber genauso wie Sarah in einen Bewohner Forty Mile's.
Zu Sarahs neuen Freunden in Forty Mile gehören auch die beiden Musiker Jacob und Adam. Die beiden Aussteiger sind beste Freunde, die regelmäßig in der einzigen Bar vor Ort Musik machen. Für Jacob ist die Musik ein Hobby, für Adam ist sie - ähnlich wie für Sarah ihr Silberschmuck - ein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Wenn Adam auf seiner Geige spielt, verliert er sich in der Musik. Er strebt nach Perfektion, will dabei neue Wege gehen und sucht Inspiration in der Musik der Ureinwohner, die nach wie vor in dieser Gegend zu finden sind.
"Er erzählte ihr, da wäre sehr wohl noch Leben, den ganzen weiten Weg bis zum nördlichen Polarmeer, in den wenigen Dörfern und Niederlassungen der Ersten Völker. Dort würden die letzten Musiker leben, die  noch jene Musik spielten, für die er in den Norden gekommen war. Athabaskische Musik. Die Geigenlieder, die die ersten Trapper vor über hundert Jahren aus ihren irischen und schottischen Häusern und Herbergen mitgebracht hatten. Die Ureinwohner hätten diese aufgeschnappt, und diese wären mit der Musik von hier verschmolzen." 
Für Sarah bedeutet ihre Kunst eine Facette ihrer Persönlichkeit. Adams Persönlichkeit hingegen wird von seiner Musik komplett vereinnahmt. Der hochsensible Mann scheint an dem Streben nach Perfektion zu zerbrechen. Adam ist schwer depressiv und Alkoholiker. Zumindest die Liebe zu Sarah gibt ihm positive Impulse, um sein Leben lebenswert zu finden - wenn sie denn in seiner Nähe ist. 

Die Handlung verläuft über einen Zeitraum von ein paar Jahren (1982 bis 1988), umfasst auch gleichzeitig Erinnerungen aus der Zeit davor, als Mary, die Ladenbesitzerin, ihre Anfänge in Forty Mile genommen hat. Hätte die Autorin sich ausschließlich auf ihre Protagonistin Sarah konzentriert, hätte ich diesen Roman vermutlich nicht gelesen. Die Handlung hätte sich auf eine moderne junge Frau bezogen, die damit beschäftigt ist, sich selbst und den Mann fürs Leben zu finden. Dieser Plot hätte mich zu sehr an die "moderne Herz-Schmerz-Frauenbelletristik" erinnert, gegen die ich eine Abneigung habe. Doch dieser Roman ist viel viel mehr.

Indem die Autorin die Bewohner auf Forty Mile mit ihren unterschiedlichen Geschichten in die Handlung um Sarah einflicht, schafft sie ein vielfältiges Gesamtpaket, das mich von seiner literarischen Qualität überzeugt hat. Hinzu kommt dieser unglaubliche Schauplatz am Rande der Zivilisation Kanadas, an dem die Menschen, die dort leben der Natur ausgeliefert sind. Ihr Leben richtet sich nach dem Wechsel der Jahreszeiten. Dieser naturbedingte Rhytmus ist in der heutigen Zeit kaum vorstellbar und daher umso faszinierender.
"Heute setzte die Fähre zum letzten Mal über. Schon seit Tagen treiben Eisschollen vorbei, und die Eisschicht am Rand wuchs immer weiter. Wochenlang würde der Strom noch in Bewegung bleiben, ein kontinuierlich sich veränderndes Schauspiel gefrierender Eisschollen mit einer gefährlichen Unterströmung. Bis er schließlich knirschend und schabend in den Winterschlaf fiel und immer tiefer gefror, zu einer unveränderlichen Eislandschaft wurde."
Faszinierend war für mich auch der kraftvolle und gleichzeitig poetische Sprachstil von Sien Volders, der die unterschiedlichsten Stimmungen vermittelt hat. Diese Stimmungen standen oft im Kontrast zueinander. So folgten auf Szenen voller Lärm, Musik und Ausgelassenheit, Situationen inmitten der Natur, voller ohrenbetäubender Stille.

Bleibt am Ende noch die Frage, wie es Sien Volders gelungen ist, einen Kanada-Roman zu schreiben, der dermaßen authentisch wirkt, dass man ungläubig auf die Herkunft der Autorin blickt (Belgien). In einem Interview las ich, dass Sien Volders vor Jahren selbst dort war und tiefgreifende Erfahrungen in diesem Land gemacht hat. Diese Eindrücke wollte sie in einem Roman festhalten. Das hat sie hervorragend hinbekommen. Denn man merkt diesem Buch die Begeisterung der Autorin für dieses wundervolle Land an. Und von dieser Begeisterung habe ich mich sehr gern anstecken lassen.

Leseempfehlung!

© Renie

Samstag, 7. November 2020

Kerstin Hensel: Regenbeins Farben

Quelle: Pixabay/capri23auto
Eine Geschichte, deren Handlung hauptsächlich auf dem Friedhof stattfindet, ist entweder todtraurig, gruselig spannend oder übersinnlich. Die Eigenschaften "lustig" und "komisch" verbindet man eher selten damit. Doch Kerstin Hensel hat mich mit ihrer Novelle "Regenbeins Farben" eines Besseren belehrt. 

Schauplatz ist ein Friedhof, der in der Einflugschneise eines Flughafens liegt. Von morgens bis abends donnern Flugzeuge mit einem Höllenlärm über diesen Friedhof hinweg. Die Toten stört es nicht, und die Trauernden haben sich daran gewöhnt. So auch unsere 4 Protagonisten:
Karline Regenbein - bisher unentdeckte Malerin, schüchtern und unscheinbar, Witwe eines Fotografen, der sich in der Ehe als eifersüchtiger Kontrollfreak erwies.
Lore Müller-Kilian - verwitwete Industriellengattin, die sich schon immer ihre langweilige Existenz durch die schönen und luxuriösen Dinge des Lebens, versüßt hat. Lore besitzt eine Kunstsammlung.
Ziva Schlott - 80-jährige Kunstprofessorin und kettenrauchende Zynikerin. Sie war mit einem Kollegen verheiratet, der jedoch keine maßgebliche Rolle in ihrem Leben gespielt hat.
Eduard Wettengel - junggebliebener Galerist, den die Trauer über den Verlust eines Ehepartners von allen Protagonisten am meisten zu treffen scheint.
Quelle: Luchterhand
Jeden Tag kommen diese vier Personen zum Friedhof, um nach den Gräbern ihrer Liebsten zu sehen und zu trauern - jeder auf seine Weise.
"'Heul nicht', befiehlt Ziva. 'Trauer muss man treten. Das ist nur gerecht! Am Anfang hätschelst du sie wie einen Welpen, das ist bereits der erste Fehler. Sie macht mit dir, was sie will, weil du denkst, sie liebt dich. Aber sie will nur fressen, wachsen und den, der sie füttert, beherrschen. Wenn du sie nach ein paar Monaten nicht gelehrt hast, dir zu gehorchen, wird sie dich irgendwann reißen.'"
Im Verlauf der Friedhofsgeschichte zeichnet sich ab, dass sich die Vier nicht erst hier kennengelernt haben. Durch ihre Verbindung zur Kunst kennen sich die Protagonisten bereits seit vielen Jahren.

Die Buchbeschreibung zu dieser Novelle verleitet dazu, eine Komödie über 3 lustige Witwen zu erwarten, die auf der Suche nach einem Mann sind. Keine Frage, selbstverständlich buhlen die Damen um Eduards Gunst - sonst wäre es ja nicht lustig. Doch tatsächlich bildet dieser Aspekt nur einen Bruchteil dessen, was einen in dieser Geschichte erwartet.

Ich habe diese Novelle auch als Entwicklungsgeschichte gesehen, die verdeutlicht, dass Trauer als Chance betrachtet werden kann. Insbesondere die Namensgeberin der Novelle, Karline Regenbein, deren Ego während ihrer Ehe unter der kranken Dominanz ihres Gatten leiden musste, lernt langsam, aber stetig, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen und sich auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren. Dieses neue Ich findet Ausdruck in ihren Bildern, die wiederum ihren Weg in die Öffentlichkeit finden - natürlich mit Unterstützung der anderen beiden Witwen sowie dem Galeristen. 
Darüberhinaus ist "Regenbeins Farben" ein Satire, in der die Scheinwelt der Kunstszene genussvoll abgewatscht wird. Die Autorin läuft dabei zur Höchstform auf. 
"Auf dem Hausvorplatz versammeln sich Leute, einander in ihrer Kunstsinnigkeit übertrumpfend. Damen tragen, mit akrobatischem Ehrgeiz, hohe Schuhe aus Lackleder. Auch Herren sind der Kothurnmode erlegen und üben auf Plateausohlen Standfestigkeit. Anzüge, Kleider, Hüte werden in einer Show exquisiter Labels vorgeführt. Man setzt auf Naturstoffe und Einzeldesign. Die Frisuren der Galeriebesucher zeigen ebenfalls Ergebnisse kreativer Farb- und Formgestaltung."
Durch den eigenwilligen Sprachstil der Autorin, die eine Meisterin der Ironie ist, wird der Leser durch die Handlung gewirbelt. Denn Kerstin Hensel hat Spaß an anspruchsvollen Wortspielereien, von denen ich in diesem Buch nicht genug kriegen konnte.

Fazit:
Ein gelungenes literarisches Paket aus Komödie, Entwicklungsgeschichte und Satire, das durch die anspruchsvollen Wortspielereien von Kerstin Hensel zu einem großen Lesevergnügen wird. 

Leseempfehlung!

© Renie


Dienstag, 3. November 2020

Charles Lewinsky: Der Halbbart

Mittlerweile kann ich mich blind darauf verlassen, dass mir ein Roman gefallen wird, sobald das Prädikat "Lewinsky" auf dem Buchcover zu finden ist. "Lewinsky" steht für mich für literarische Überraschungen. Denn selten bin ich darauf vorbereitet, was mich in einem Buch des Autors Charles Lewinsky erwarten wird. Ob er nun die Geschichte eines berühmten Schauspielers erzählt oder eines kriminellen Stotterers oder einer Familie über mehrere Generationen, ob er eine Biografie, einen Krimi oder ein Kinderbuch schreibt, ich bin jedes Mal aufs Neue verblüfft, was der Autor aus einem Thema macht - so auch dieses Mal bei seinem aktuellen Roman "Der Halbbart".
"Der Halbbart" ist ein Roman, der auf einem historischen Ereignis basiert: der Marchenstreit zwischen dem Schweizer Kloster Einsiedeln und dem Ort Schwyz im 13./14. Jahrhundert. Hierbei ging es um Besitzrechte an den Ländereien in dieser Gegend. 

Charles Lewinsky hat sich also diesmal ein unpopuläres historisches Thema vorgenommen, denn welcher Nicht-Schweizer kennt sich schon mit der Schweizer Geschichte zur Zeit des späten Mittelalters aus. Der Freiheitskämpfer Wilhelm Tell, der zur selben Zeit gelebt hat, mag vielen noch ein Begriff sein. Aber "Marchenstreit"? (s. Wikipedia)
Daher war ich doch sehr gespannt, wie der Autor an dieses Thema herangeht, und vor allem, was er daraus macht.
Quelle: Diogenes

Der erzählende Protagonist dieses Romans ist Eusebius, Sebi genannt, ein 13-jähriger Zeitzeuge, der mit seiner Familie in Schwyz gelebt hat.

"'Die Menschheit ist wie ein Körper', hat er mir erklärt, 'Die Geistlichkeit ist der Kopf, der alles lenkt, die Ritter sind die Arme, die es zum Kämpfen braucht, und die Bauern sind die stinkigen Füße und müssen die anderen tragen.'"

Dieser Sebi ist ein herzerfrischender Charakter. Er hat eine blühende Fantasie, ist ein cleveres Kerlchen und ein aufmerksamer Beobachter. Doch in einem Dorf, dessen Leben von Ackerbau bestimmt und eher Muskelkraft als Klugheit benötigt wird, sind Sebis Fähigkeiten kaum gefragt. Daher wird er leider selten für voll genommen. Einer der wenigen, die ihn ernst nehmen, ist der geheimnisvolle Halbbart. 

Eines Tages taucht dieser Halbbart in Sebis Dorf auf und lässt sich hier nieder. Keiner weiß, woher er gekommen ist, keiner weiß, was ihm Schreckliches widerfahren ist. Denn dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist, ist deutlich sichtbar. Das Gesicht des Halbart ist durch große Brandnarben verunstaltet. Die Dörfler sind zunächst misstrauisch gegenüber dem unheimlichen Fremden. Einzig der Sebi freundet sich mit dem Halbbart an. Nach und nach erfährt er dessen Geschichte. Auch die Dorfbewohner gewöhnen sich langsam an den Fremden, und er wird zu einem festen Bestandteil der Dorfgemeinschaft, was nicht zuletzt an seinem Wissen über Kräuterkunde und Heilmethoden liegt. 
"Es ist etwas Eigenes mit dem Halbbart: Die Menschen werden entweder ganz schnell seine Freunde, oder sie mögen ihn überhaupt nicht."
Der Titel dieses Romans verleitet natürlich dazu, die Geschichte des Halbbart in den Mittelpunkt zu rücken. Doch dem ist nicht so. Tatsächlich entwickelt sich dieser Charakter zu einem Nebendarsteller, der anfangs größeren Einfluss auf die Handlung hat als zum Ende hin. Der Halbbart ist der väterliche Freund des Protagonisten Sebi und prägt dessen Entwicklung.
Unser Sebi reift in diesem Roman. Vom anfänglichen Lausbuben, der träumerisch durchs Leben geht, entwickelt er sich in kurzer Zeit zu einem jungen Menschen, der weiß, was er will und der vernünftiger erscheint als manch einer, der mehr Lebenserfahrung besitzt als er. Wodurch sich Sebi jedoch immer auszeichnet, ist sein Mitgefühl und sein gesunder Menschenverstand. Diese beiden Eigenschaften unterscheiden ihn deutlich von den Meisten der Charaktere in diesem Buch. Man sollte meinen, dass der Sebi zu gut für die Welt ist - zumindest für die Welt des Jahres 1313, indem die Handlung dieses Romans stattfindet.

Sebi muss lernen, dass scheinbar jeder Mensch eine dunkle Seele in sich birgt, die sich selten unterdrücken lässt. Diese Erkenntnis trägt dazu bei, dass Sebi seine Naivität und Gutgläubigkeit im Umgang mit den Menschen um ihn herum langsam  verliert.
"'... Man meint bei vielen Sachen, sie könnten nicht anders sein, als sie sind, so wie die Sonne aufgeht und wieder unter oder der Mond voll wird und wieder leer. Aber was zwischen den Menschen passiert, das hat nicht der Himmel gemacht, sondern wir selber, und manchmal könnte man glauben, es sei der Teufel gewesen. ...'"
In diesem Roman spielen Kirche und Religion eine große Rolle. Der Einfluss der Kirche auf das damalige Leben war unermesslich, wobei die Kirche weniger als geistlicher Beistand anzusehen war, denn als Großgrundbesitzer. Denn der Kirche gehörten große Teile der Ländereien, die von der Bevölkerung bewirtschaftet wurde, inklusive der Wälder. Und wie es sich für Großgrundbesitzer gehört, lebten die Klerikalen in besseren Verhältnissen als der Rest der Bevölkerung, was natürlich zu Unzufriedenheit führte. Losgelöst von der Vorherrschaft der Kirchen waren die Menschen streng religiös. Glaube und Aberglaube bestimmte deren Alltag. Jede Lebenslage hatte ihren Heiligen, an dessen Wundertaten voller Ehrfurcht geglaubt wurde.

Genauso wie der Halbbart wird auch der Marchenstreit in den Hintergrund dieser Geschichte treten. Dieser Konflikt gibt zwar immer noch den Rahmen für die Handlung vor. Dennoch werden die Menschen dieser Gegend, mit all ihren Tugenden und Lastern, im Mittelpunkt stehen. Der Sebi wird uns viele bunte Geschichten über seine Zeitgenossen erzählen, die diesen Roman zu einem großen Vergnügen machen.
"Geschichten ausdenken ist wie lügen, aber auf eine schöne Art."
Der Sprachstil in diesem Roman ist auf die damalige Zeit, seinem jugendlichen Ich-Erzähler aus einfachen Verhältnissen sowie dem Schauplatz angepasst. Wir befinden uns im dunklen Mittelalter. Demenstprechend düster erscheint die Stimmung in dieser Geschichte, wird aber immer wieder von der herzerfrischend jugendlichen Erzählweise des Sebi aufgelockert. 

In der Sprache dieses Romans finden sich viele Begriffe aus dem Schweizerdeutschen. Diese sind wie selbstverständlich in die Geschichte  integriert. Anfangs mag das befremdlich erscheinen, doch schnell wird man feststellen, dass sich das Verständnis dieser Ausdrücke aus dem Zusammenhang ergibt. (Und wer es genau wissen will, kann in einem Glossar auf der Diogenes Seite nachschlagen). Sebi ist ein Junge aus einfachen Verhältnissen, der weder lesen noch schreiben kann. Er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, inklusive freizügiger Grammatik und simpler Wortwahl. Doch gerade diese simple Ausdrucksweise in Kombination mit dem Schweizerdeutsch erhöht die Glaubwürdigkeit des Sprachstils. Man nimmt dem Autor das Mittelalter ab. 

Mein Fazit:
Auf das Prädikat "Lewinsky" kann man sich blind verlassen. Denn Erzählkünstler Charles Lewinsky ist mit "Der Halbbart" zur Höchstform aufgelaufen und hat aus einem unpopulären historischen Thema ein schillerndes literarisches Kunstwerk gemacht. 
Ich bin restlos begeistert von diesem Roman!

Leseempfehlung!

© Renie