Freitag, 25. September 2020

Martina Altschäfer: Andrin

Carl Schuch: Stillleben mit Porree
Warnung! "Andrin" von Martina Altschäfer ist ein Roman, der Sehnsüchte weckt. Insbesondere, wenn man als Stadtkind durch den Alltag hetzt, dabei von Lärm, Gestank, Hektik und Stress geplagt wird und sich einfach nur nach einem Ort voll himmlischer Ruhe und Entschleunigung sehnt. In "Andrin" gibt es diesen Ort, der zu schön ist, um wahr zu sein.
Dieser paradiesische Ort heißt Voglweh und ist gar nicht weit entfernt. Nur ein Katzensprung Richtung Italien und irgendwo in den Schweizer Alpen findet man Voglweh. Oder Voglweh findet denjenigen, der mal eine Auszeit von Stress und Alltag benötigt.
Genau dies ist Susanne, Protagonistin dieses Romans, widerfahren. 

Susanne ist eine mehr oder weniger erfolgreiche Schriftstellerin aus der Großstadt. Sie ist "weniger erfolgreich", wenn es um die Veröffentlichung eigener Werke geht. Sie ist "mehr erfolgreich", wenn sie als Ghostwriterin Auftragsarbeiten erledigt. Insbesondere im Schreiben von Biografien zahlungskräftiger "Berühmtheiten" oder solchen, die meinen, eine zu sein, hat sich Susanne als sehr talentiert erwiesen. Doch ihr aktueller Auftrag bringt sie an ihre kreativen Grenzen. Tapetenwechsel und Auszeit müssen also her. Das meint insbesondere ihr Chef und Verleger, der keine Kosten und Mühen scheut, Susanne - eines seiner besten Pferde im Stall der Ghostwriter - auf die kreativen Sprünge zu helfen. So reist sie also mit dem Zug nach Italien. Doch auch ein Wunderwerk der Technik ist vor den Tücken der Natur nicht gefeit. Steinschlag bremst den Zug aus, woraufhin Susanne versucht, auf eigene Faust weiterzureisen. Und hier verliert sich zunächst ihre Spur für alle, die sie vermissen könnten.
Quelle: Mirabilis Verlag
Doch der Leser begleitet sie weiter auf ihrer Reise, die plötzlich anders als verläuft als geplant. 

Und jetzt kommt der Teil, der Sehnsüchte weckt: Susanne wird von einem älteren Herrn namens Andrin am Straßenrand aufgabelt. Er nimmt sie mit nach Voglweh. Hier lebt er seit ein paar Jahren mit seiner Frau Uta. Sie sind die einzigen Bewohner dieses Ortes. Die beiden versorgen sich selbst, leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Und die Natur meint es dabei gut mit ihnen. Ihr Lebensrythmus richtet sich nach den Jahreszeiten, ihr Tagesablauf ist einfach strukturiert: Arbeiten in der Natur oder Instandhaltung der wenigen Gebäude, die es gibt; viel Schlafen und viel Essen. Das Leben, das sie führen ist luxuriös einfach. Es scheint Ihnen an nichts zu fehlen. Zumindest gibt es nichts, was sie vermissen. 
Susanne wird zunächst als Gast angesehen, doch nach und nach entwickelt sie sich zu einem festen Bestandteil der Gemeinschaft. Sie bringt sich in die täglichen Arbeiten ein, so gut es geht. Denn als Stadtkind sind ihre viele Arbeiten fremd und müssen erlernt werden. Gleichzeitig will sie die Zeit ihres Aufenthaltes nutzen, an ihrer aktuellen Auftragsarbeit weiter zu schreiben.
"Viele Dinge, die mich in dieser Zeit dringend hätten beschäftigen müssen, entglitten mir auf angenehme Weise, schwebten sanft wie Seifenblasen davon und schickten höchstens bei günstigstem Licht in dem verwirbelten Muster ihrer schlierigen Haut einen flüchtigen Gruß."
Das Leben gestaltet sich als paradiesisch. Doch das Paradies wäre kein Paradies, wenn es keine Schlange gäbe - natürlich im übertragenen Sinne. Denn worin genau die Bedrohung des paradiesischen Lebens in Voglweh besteht, ist kaum greifbar. Von Naturgewalten bis hin zur Mystik, die die Handlung des Romans an die Schwelle des magischen Realismus lenkt, ist alles möglich und obliegt der Fantasie des Lesers. Die Autorin macht das an dieser Stelle sehr geschickt. Sie kreiiert ein bedrohliches Szenario, das die Handlung unterschwellig begleitet, aber niemals in den Vordergrund rückt. Dadurch erzeugt sie eine ungeheuere Spannung, so dass der Leser damit rechnet, dass die Vertreibung aus dem Paradies Voglweh kurz bevor steht. Wie diese Vertreibung aussehen könnte, und ob sie überhaupt stattfindet, bleibt jedoch bis zum Ende offen.

Eines meiner Highlights in diesem Buch sind die täglichen gemeinsamen Abendessen der drei Protagonisten. Das mag sich im Moment banal anhören. Doch wer das erste Mal einer Mahlzeit in diesem Buch beigewohnt hat, wird definitiv verstehen, was ich meine.
Andrin ist ein kreativer Koch, dem es gelingt, aus den Lebensmitteln, die den drei Bewohnern zur Verfügung stehen, und die sie größtenteils selbst anbauen, kulinarische Köstlichkeiten zu zaubern. Die Zubereitung der Mahlzeiten wird akribisch geschildert. Zutaten und Menüfolgen sind sehr besonders. Es geht dabei nicht allein um notwendige Nahrungsaufnahme, sondern der Genuss steht im Vordergrund. Wenn man bedenkt, dass Voglwehs Bewohner nicht viel Abwechslung im Alltag haben, scheint die Schlemmerei einen Ausgleich zu bieten. Diese Abschnitte über die gemeinsamen Essen haben dafür gesorgt, dass mir regelmäßig das Wasser im Mund zusammen gelaufen ist.
"Die Teigtaschen, die ihre außergewöhnliche Farbe einigen Tropfen einer Rote-Bete-Reduktion verdankten, waren mit einer Steinpilzfarce gefüllt. Für die Sauce hatte er Butter zerlassen und mit dem Sud aus leicht gegorenem Fichtennadelextrakt cremig aufgeschlagen. Das Gericht, das ein Topping aus gerösteten Steinpilzbröseln krönte, schmeckte nach Wald. Der ganze Teller duftete nach Moos, nach Pilzen und Tannenzapfen, und nach der Erde, wenn nach einer langen Regennacht die Sonne morgens den Boden wieder wärmt."
Die Appetitlichkeit dieser Momente wird sicherlich durch den Sprachstil der Autorin gefördert. Zeichnet sich dieser Stil von Beginn an durch Spritzigkeit und Lebendigkeit aus, entwickelt er in den Passagen rund ums Essen eine wahre sprachliche Schwelgerei. Die Autorin Martina Altschäfer scheint ein Genussmensch zu sein, denn selten sind Speisen und deren Herstellung mit soviel Fantasie und Poesie geschildert worden.

Mein Fazit zu diesem Roman:
Die Geschichte ist originell, weckt Sehnsüchte und ließ mich vom Alltagsstress in Tagträume hinabgleiten. Ich wurde also in einen literarischen Kurzurlaub geschickt und habe mich dabei prächtig erholt. Nur schade, dass auch der schönste Urlaub irgendwann vorbei ist.

Leseempfehlung! Unbedingt!

© Renie


Sonntag, 20. September 2020

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

Quelle: Pixabay/cromaconceptovisual
Das Städtchen Holbrook, befindet sich in den USA, könnte in New York, Massachusetts, Arizona oder sonst wo liegen, könnte aber auch fiktiv sein. Was soll's? Viel interessanter ist, dass dieser Ort eine wichtige Rolle in Annette Mingels Buch "Dieses entsetzliche Glück" spielt, ist er doch das wesentliche Bindeglied zwischen unterschiedlichen Geschichten und unzähligen Protagonisten dieses Romans, der auch als Sammlung von Kurzgeschichten durchgehen könnte.

Dabei konzentrieren sich diese Geschichten auf das Gefühlsleben der Charaktere. Es sind Menschen, die auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück sind. Dabei haben sie mit Sorgen und Nöten zu kämpfen, die ihnen bei dieser Suche im Wege stehen. Ihre Sehnsüchte und Wünsche sind dabei nicht außergewöhnlich und unterscheiden sie nicht von denen anderer. Es sind also Menschen wie du und ich. Gerade diese Alltäglichkeit bewirkt, dass man als Leser sehr dicht an den Charakteren und ihren Problemen dran ist. Die Geschichten in diesem Roman durchzieht dabei eine wohltuende Melancholie, die mit der Stimmungslage der Protagonisten sowie ihren Sorgen und Nöten eine harmonische Einheit bildet. 
Quelle: Penguin
"Sie kannten einander seit mehr als dreißig Jahren, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er seit Langem aufgehört hatte, sie schön zu finden. Nicht dass er ihr Aussehen nicht mochte. Es war ihm einfach gleichgültig geworden. Er hatte ihr von Zeit zu Zeit gesagt, dass er sie liebte - zumindest hoffte er das. Aber so wenig er sich schön fand, so wenig fand er sie schön. Es war ihm nicht mehr wichtig gewesen, und vielleicht, dachte er jetzt, war das ein Fehler."
Zunächst lässt sich kein Zusammenhang zwischen den einzelnen Personen erkennen. Sie kommen und gehen, hinterlassen mit ihren Geschichten beim Leser mal mehr, mal weniger Eindruck. Es ist schwierig, sich die Namen der Charaktere zu merken. Erst nach und nach zeichnen sich Verbindungen ab. Die loseste Verbindung ist dabei Holbrook, denn alle Protagonisten leben in diesem Ort oder haben hier gelebt. Die engsten Verbindungen sind Verwandtschaften. Dazwischen können Bekanntschaften, Freundschaften oder der Beruf eine Verbindung zwischen den einzelnen Personen herstellen.
Eine Besonderheit dieses Romans ist sicherlich der Perspektivwechsel. Jedes Kapitel und somit jede Geschichte wird aus der Sicht eines Protagonisten erzählt. Hinzu kommt eine Verschiebung der Wahrnehmung. Lernt man die Protagonisten zunächst aus der, ihnen eigenen Sichtweise kennen, begegnet man ihnen an späterer Stelle aus der Sicht eines weiteren Protagonisten wieder, das kann als Nebendarsteller in einem anderen Kapitel sein oder auch als Gesprächsgegenstand anderer. Man wird als Leser feststellen, dass Eindrücke, die man sich von einem Protagonisten geschaffen hat, an späterer Stelle wieder revidiert werden müssen. Denn selten stimmen die Selbstwahrnehmung eines Protagonisten mit demjenigen Bild überein, das andere von ihm haben. Wie im echten Leben!

Fazit:
Die Kombination aus "Alltäglichen Geschichten, die das Leben schreibt" sowie die wohltuende Melancholie als tragende Stimmung dieses Romans, haben bei mir für Tiefenentspannung beim Lesen gesorgt. Ich konnte herrlich von meinem Alltag abschalten.
Leseempfehlung!

© Renie




Sonntag, 13. September 2020

Lucien DeLong: Ein Dieb - Bekenntnisse

Bei Protagonisten wie Felix Krull, Thomas Crown oder Arséne Lupin will man gern darüber wegsehen, dass sie Kriminelle sind. Jemandem, der höflich, stilvoll und kultiviert als Gentleman daherkommt, nimmt man die Missetaten als Leser und Zuschauer nicht krumm, zumindest fallen die Urteile über seine Vergehen milde aus. Der Begriff "Kavaliersdelikt" erhält plötzlich eine ganz andere Bedeutung. In der Rechtssprechung steht zwar das Delikt im Vordergrund, denn meistens geht es um Bagatellvergehen. Doch in der Literatur steht eher der Kavalier im Fokus, ganz gleich, was er verbrochen hat. (Natürlich wäre es schön, wenn er nicht gerade jemanden umgebracht hat.) Hochstapelei, Diebstahl und Betrug gesteht man einem Kavalier und Gentleman gerne zu. Insbesondere, wenn er gut aussieht bzw. als solches beschrieben wird.
Der Leser, der seinen Felix Krull genossen und Thomas Crown im Film bewundert hat, sollte daher nicht an dem Roman "Ein Dieb - Bekenntnisse" von Lucien DeLong vorbeigehen. Denn der Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans ist ein Gentleman-Dieb.
"Meine Vorstellungen davon, wie ein Dieb sein sollte, orientierten sich an Cary Grants Meisterdieb Katze "über den Dächern von Nizza", an Thomas Crown und James Bond. Elegant, schnell, gewitzt. Vor allem ein Gentleman, vor allem charmant - auch wenn mir das nicht immer gelang. Selbstsicher, in jeder - auch der absurdesten Situation - souverän, furchtlos, mit einem lässigen Spruch auf den Lippen. Cool. Ein Einzelgänger, dessen eigentliches Leben ein Mysterium birgt. Das war das Bild, das ich ausfüllen wollte."
Wie wird ein junger Mann, der 1987 mit Anfang 20 noch in einer deutschen Kleinstadt schlecht bezahlt in einem Repro-Studio arbeitet, zu einem Gentleman-Dieb? Ganz einfach: Indem er die Gelegenheit beim Schopf packt. Irgendwann sagt sich unser Held, dass sein Dasein in der Kleinstadt nicht alles gewesen sein kann, was die Zukunft ihm zu bieten hat. Doch für alles, was für ihn im Leben erstrebenswert ist, benötigt er das nötige Kleingeld. Am besten so schnell wie möglich. Und was bietet sich da passenderes an als ein Raubüberfall, wenn sich die Umstände dieses Überfalls als dermaßen einladend erweisen, wie es hier der Fall ist. 
Dieser Raubüberfall ist der Beginn einer längeren verbrecherischen Karriere. Unserem Protagonisten ist klar, dass er sich von nun an hauptsächlich auf der Flucht - besser gesagt, auf Reisen befinden wird. Anfangs bescheiden, werden seine Ansprüche an die Hotels in denen er unterkommt und dem Lebensstandard, den er führt immer größer. Seine Verbrechen werden immer raffinierter und dreister. Er stiehlt Pässe und schlüpft dadurch in die unterschiedlichsten Rollen. Es gelingt ihm, nach und nach sein altes Ego und seine Herkunft abzustreifen. Zwangsläufig bekommt er Zugang zur besseren Gesellschaft.
"Ich wurde zum Chamäleon. Ich floss ein in die Welt, in der ich mich bewegte, nahm die Farbe meiner Umgebung an. Die Rolle des mysteriösen Fremden gefiel mir, wie ein Geist zwischen den Menschen zu wandeln, da zu sein und eigentlich doch nicht. Ich vergaß meine wahre Geschichte, mein eigentliches Wesen und wurde zu der Person, die ich darstellen wollte oder musste."
Sein Leben als Gentleman-Dieb hätte immer so weitergehen können, wenn ihm nicht die Liebe in die Quere gekommen wäre. Und am Ende landet er dort, wo wir ihm bereits im ersten Kapitel dieses Buches begegnet sind: im Gefängnis. Doch damit will er sich nicht abfinden.

Das Lesen dieses Romans hat Charme. Kein Wunder, der Ich-Erzähler ist ein Charmeur, der Spaß am Verbrecherleben hat. Und durch den lebhaften Sprachstil des Autors Lucien DeLong, der an Plauderei erinnert, wird dieser Spaß sehr gut dargestellt. Unser Protagonist bewegt sich unbeschwert durchs Leben. Scheinbar bieten ihm diejenigen Momente, in denen er Gefahr läuft, aufzufliegen, die thrillige Würze für sein Dasein. 

Anfangs wissen wir, dass er erwischt wird. Denn er erzählt aus der Zelle heraus seine Geschichte als Gentleman Dieb en detail. Wir reisen dabei mit ihm durch die Welt, wohnen in Luxushotels, schnuppern am Reichtum und genießen das unbeschwerte Leben der Reichen und Schönen. Doch gleichzeitig ist er sich der Einsamkeit und Rastlosigkeit, die ihm sein verbrecherisches Geheimnis zwangsweise auferlegt, genauso wie seines Identitätsverlusts durch die unterschiedlichen Rollen, die er spielen muss, bewusst. Armer Kerl, man könnte fast Mitleid mit ihm haben.
"Für mich entpuppte es sich als der 'best and worst way of life' gleichzeitig. Es vereinte all die Elemente, die mich am Leben reizten: Abenteuer, Freiheit, Abwechslung, Spannung und Luxus. Und alle, die ich am Leben am meisten fürchtete: Einsamkeit, Wurzellosigkeit, Rastlosigkeit."
Es gab eine Merkwürdigkeit in diesem Buch. Zuvor beschrieb ich den Sprachstil in diesem Roman als lebhaft. Tatsächlich trifft dies erst ab Kapitel 2 zu. Ich weiß nicht warum, aber im ersten Kapitel unterscheidet sich der Sprachstil vom Rest des Buches drastisch. Der Autor verwendet fulminante Bilder und Vergleiche, die einen dramatischen Effekt haben. Diese sprachliche Schwelgerei hört abrupt mit dem 2. Kapitel auf. Der Autor schaltet einen Gang zurück und verfällt in den lebhaften Plauderton, der sich bis zum Ende des Romans durchzieht. Dieser sprachliche Kontrast zwischen dem ersten Kapitel und allen anderen ist sehr auffällig und für mich nicht nachvollziehbar.

Dennoch hat dies dem Spaß an dem Buch keinen Abbruch getan. Der Roman ist gute Unterhaltung, mit einer Geschichte, die von einem Charmeur charmant erzählt wird.

© Renie





Samstag, 5. September 2020

Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir

Quelle: Pixabay
Die, für ihre Lyrik bekannte Autorin Ulrike Almut Sandig kann mit Worten und das in unterschiedlicher Ausprägung. Sie schreibt Gedichte und Erzählungen, von denen bereits einige veröffentlicht und verfilmt wurden. Sie ist Mitglied der Poetry-Band "Landschaft", mit der sie ein Musikalbum veröffentlicht hat. Hörspiele gibt es ebenfalls von ihr. Für ihr bisheriges Werk ist sie bereits mehrfach ausgezeichnet worden.
In ihren vor Kurzem erschienenen Roman "Monster wie wir" lässt sie ihre Fähigkeiten als Lyrikerin einfließen. Das Ergebnis ist ein  Buch, das es in sich hat - sowohl inhaltlich als auch stilistisch.
Es behandelt ein Thema, das so entsetzlich ist, dass manch einer zögern wird, dieses Buch zur Hand zu nehmen: sexueller Missbrauch von Kindern.
Die Protagonisten dieses Romans sind Ruth und Viktor, zwei Menschen, die ihre Kindheit in den 80er/90er Jahren in der ehemaligen DDR verbracht haben.
Sie sind die hauptsächlichen Opfer in diesem Roman. Beide wurden als Kinder von Menschen aus ihrem familiären Umfeld über mehrere Jahre missbraucht.

Der Einstieg in dieses Buch ist rätselhaft. Den Auftakt des Romans bildet eine Szene in der Gegenwart: die erwachsene Ruth, die Musikerin geworden ist und kurz vor einem ihrer Auftritte hinter dem Vorhang steht und das Publikum betrachtet. Sie scheint jemanden im Publikum zu suchen. Sie spricht in Gedanken mit einer Person, die zunächst nicht zuzuordnen ist. Dabei macht sie verwirrende Andeutungen, die auf eine Geschichte hinweisen, die man eigentlich nicht hören möchte. Das hat etwas Tieftrauriges, aber auch Bedrohliches. Es ist jedoch nicht so, dass Ruth uns nicht gewarnt hätte, vor dem, was sie erzählen wird. 
"Also falls du mitwillst, zu diesem unwirtlichen Stück Land, auf dem ich mich befinde, dann komm."
Und schon taucht sie in ihre Kindheitserinnerungen ein, die den ersten Abschnitt dieses Buches bilden. Auf den ersten Blick hatte sie eine unbeschwerte Kindheit in einem intellektuellen Elternhaus. Der Vater war Pfarrer. Er, der schon vorher Schwierigkeiten hatte, sich dem sozialistischen System anzupassen, träumte von der Freiheit und engagierte sich entsprechend mit anderen Gleichgesinnten. Wir wissen, wie sich die Wende in der DDR vollzogen hat. Daher lassen sich die Erinnerungen an Ruths Kindheit nicht von denen des politischen Umschwungs und der Maueröffnung trennen. Nun sollte man annehmen, dass das Aufwachsen in einem intellektuellen und moralisch integrem Elternhaus die besten Voraussetzungen für einen Start ins Leben bietet. Intellektuell gesehen vielleicht schon. Doch hinter der Fassade von Bildung und Freidenkertum schien nicht alles gold zu sein, was glänzte. Die Ehe der Eltern kriselte und der Vater legte manchmal eigenwillige  Verhaltensweisen im Umgang mit seiner Familie an den Tag. 
Ruth wurde von einem engen Verwandten missbraucht. Alles deutet darauf hin, dass mindestens einer in ihrer Familie wusste, was mit ihr passierte, aber dennoch die Augen vor dem verschloss, was Ruth widerfuhr.
Ihr Schulfreund, Viktor, mit dem sie viel Zeit verbrachte, spürte ihre tiefe Traurigkeit, auch wenn sie sich ihm gegenüber nicht öffnen konnte. Die beiden Kinder waren Leidensgenossen. Denn auch Viktor wurde das Opfer sexuellen Missbrauchs. Und auch er war kaum in der Lage, das Unfassbare in Worte zu fassen.
"Wir lachten, weinten, verstanden nichts und aßen Eis, wir verstanden alles und vergaßen es wieder."
Jahre später erleben wir einen fast erwachsenen Viktor, den es kurz nach der Schule ins Ausland zog. In Südfrankreich arbeitete er bei einer wohlhabenden Familie als Aupair und hütete die Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Und hier machte er die Erfahrung, dass das, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist, leider in den besten Familien vorkommt. Dieser Part bildet den 2. Abschnitt dieses Buches.
Der letzte Teil dieses Buches führt uns wieder zur Szene des Romananfangs zurück: wir befinden uns immer noch hinter der Bühne des Konzertsaals. Erneut folgen wir Ruths Gedanken vor ihrem Auftritt. Und langsam zeichnet sich ab, wen Ruth im Zuschauerraum sucht. So viel sei gesagt: so niederschmetternd die Erinnerungen von Ruth und Viktor sind, umso positiver ist das Ende dieses Romans. Denn Ruth zeigt, dass sie auf dem besten Wege ist, die Opferrolle abzulegen.

Der Aufbau dieses Romans ist sehr besonders. Indem die Autorin jedem ihrer Protagonisten einen eigenen Abschnitt widmet, stellt sie die Individualität des Einzelnen in den Vordergrund und reduziert sie nicht auf ein Opfer sexuellen Missbrauchs. Daher könnten diese beiden Abschnitte losgelöst voneinander betrachtet werden, was sich auch in den unterschiedlichen Erzählweisen der Autorin,  bemerkbar macht.
Diese Abschnitte werden dabei vom Anfang und Ende dieses Romans schützend umschlossen. Es scheint, als ob die Autorin ihren Protagonisten dadurch genügend Distanz zur Leserschaft ermöglicht, um ihre schmerzhaften Erinnerungen überhaupt wieder aufleben lassen zu können.
Bemerkenswert ist, dass die Protagonisten dem Leser nicht als Opfer in Erinnerung bleiben werden. Am Ende sehen wir Viktor und Ruth (insbesondere) als Menschen,  deren persönliche Entwicklung zwar von ihren traumatischen Erlebnissen geprägt wurde, die aber auf dem besten Weg sind, sich mit dieser seelischen Last zu arrangieren und nach vorn zu blicken.
"Alles ist gleichzeitig da, Vergangenheit und Gegenwart, das wiegt schon einiges. Und wir sind auch immer noch da. Also gibt es keinen Grund, es nicht zu wagen."
Wie ich eingangs erwähnte ist Ulrike Almut Sandig eine Lyrikerin. Wer gute Lyrik schreibt, beherrscht die Kunst des Weglassens. Denn mit wenigen Worten, beschränkt auf Verse und Strophen, werden Bilder im Kopf des Lyriklesers geschaffen, die sich zu komplexen Szenarien verdichten. Die Fantasie des Lesers muss mitspielen, sonst berührt Lyrik nicht. Die Autorin beherrscht diese Kunst des Weglassens par Excellence. Auch in "Monster wie wir" weckt sie die Vorstellungskraft des Lesers, indem sie Dinge verschweigt oder zwischen den Zeilen versteckt. Und nennt sie die Dinge beim Namen, geschieht das sehr subtil. Gerade deshalb entstehen ungeheuerliche Bilder im Kopf des Lesers, die sich an der Grenze zur Erträglichkeit abspielen und daher sehr schmerzhaft sind.
"Danach war er wieder mein Großvater, der im Sessel saß und Nachrichten hörte. Seine Wangen leicht gerötet, als hätte er einen Spaziergang im Garten gemacht, die Augen geschlossen. Aber ich war immer noch eine Puppe und stakste mit steifen Beinen aus der Stube. Die Radiowellen rollten durch die Stubenluft und erschwerten das Vorankommen."
Mein Fazit:
"Monster wie wir" - Auch wenn die Geschichte aufgrund der Thematik wehtut, bin ich von diesem Roman restlos begeistert. Die Entwicklung der Protagonisten vom Opfer zum Individuum sowie der bewundernswerte Erzählstil der Autorin haben dazu beigetragen. Leseempfehlung!

© Renie