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Dienstag, 30. April 2019

Lawrence Osborne: Welch schöne Tiere wir sind

Quelle: Pixabay/Free-Photos
"Hydra – ein Urlaubsparadies im Mittelmeer
Entdecken Sie die Schönheit einer winzig kleinen griechischen Insel, die internationale Jet-Setter und Künstler wie Chagall und Picasso verzaubert hat. Nur einen Atemzug von Athen entfernt, fasziniert diese kleine, bergige, karge Insel seit vielen Jahren Reisende mit ihrer reichen Geschichte und ihren kulturellen Reizen. 
Hydra war schon immer ein beliebter Rückzugsort von Jetsettern und Rockstars: Aristoteles Onassis, Maria Callas, Rex Harrison, Peter Ustinov, Leonard Cohen, Eric Clapton, die Rolling Stones und viele Künstler und Schriftsteller, darunter Picasso, Chagall und Miller."

Und auf dieses Kleinod des Müßiggangs entführt uns Lawrence Osborne in seinem Roman „Welch schöne Tiere wir sind“. Doch Urlaub kann gefährlich sein. Zuviel Hitze, zuviel Sonne, zuviel gutes Essen, zuviel Alkohol, zuviel Langeweile. Dies sind die Gefahren, denen der Urlauber in Lawrence Osbornes Roman ausgesetzt ist.
Bei den Urlaubern handelt es sich jedoch nicht um die Durchschnittsfamilie, die 2 Wochen Sommerurlaub auf Hydra verbringt. Nein. Hier geht es um reiche Familien, die einen ganzen Sommer hier verbringen. All-inclusive? Selbstverständlich nicht. Osbornes Urlauber bewohnen in der Regel eine Ferienvilla. Die besser Betuchten unter ihnen haben eine eigene, die weniger Betuchten wohnen zur Miete. Auf Geld muss keiner von ihnen achten. Sie tragen ihren Reichtum vulgär zur Schau. Und sie benehmen sich, als ob die Insel ihnen gehörte.
Quelle: Piper
"Bald jedoch beruhigte sich die Lage, und alles floss wieder ruhig dahin, denn es war unter Reichen Gesetz, dass die Muße im Sommer wie ein breiter und anmutiger Strom dahinfließen sollte. Es galt, eine gute Zeit zu haben und sich auf der leuchtenden Oberfläche treiben zu lassen. Niemand durfte kneifen oder irgendeine Schwäche zeigen."
Gleich zu Beginn des Romans lernen wir die Familie Codrington kennen. Die verwöhnte und gelangweilte Tochter Naomi, Mitte 20, die verhasste Stiefmutter Phaine sowie Vater Jimmy, Millionär. Die Familie verbringt den Sommer in der eigenen Luxusvilla, wie schon seit vielen Jahren. Naomi kennt die Insel in- und auswendig. Sie spricht sogar griechisch. Ihr Hauptproblem ist die unerträgliche Leichtigkeit des Urlaubs-Daseins. Ein echtes Luxusproblem. Denn trotz allem vorhandenen Reichtum, hat sie noch keine Möglichkeit gefunden, sich aus der täglichen Lethargie, hervorgerufen durch Hitze, Sonne und In-den Tag-Hineinleben, zu befreien. Sie lernt Sam kennen, die mit ihren Eltern ebenfalls ein paar Wochen auf Hydra verbringt – zur Miete. Daher nicht wirklich standesgemäß für Naomi, aber was soll’s. Also langweilen sich die beiden jungen Frauen zusammen. Naomi gibt in dieser Zweckverbindung den Ton an.

Eines Tages begegnet den beiden jungen Frauen eine dankbare Ablenkung in Form von Faroud, einem syrischen Flüchtling, der in Hydra illegal gestrandet ist. Naomi fühlt sich berufen, Faroud zu helfen. Nicht ganz uneigennützig. Die geplante Flucht von Faroud von der Insel herunter bedeutet nicht nur, dass Naomi sich dem Anschein einer sinnvollen und wohltätigenTätigkeit hingeben kann, sondern auch gravierende Folgen für ihre Zukunft und die ihrer Eltern.
"Sie war die Retterin, und sie genoss diese Rolle. Durch sie fühlte sie sich auf eine neue Art lebendig. Ein anderes Leben zu retten: Das war nicht nichts. Es war keine großartige Errungenschaft, aber doch eine kleine Machtverschiebung in Richtung der Schwachen. Aus solchen Verschiebungen bestand die Substanz des moralischen Handelns - sie machten das Inakzeptable akzeptabel."
Genau wie in Patricia Highsmiths Roman „Der talentierte Mr. Ripley“, der 1960 das erste Mal unter dem Titel "Nur die Sonne war Zeuge" verfilmt wurde (Der Hauptdarsteller war seinerzeit der junge Alain Delon), liegt ein Verbrechen in der Luft. Dieser Eindruck wird durch das geschilderte Inselszenario noch verstärkt: Gluthitze – greller Sonnenschein, der sich auf der Wasseroberfläche des Meeres reflektiert – Stille, nur unterbrochen vom Zirpen der Grillen. Diese Stimmung begleitet den Leser spürbar während der kompletten Lektüre, so dass man den Drang hat zu Sonnenbrille und Sonnenmilch zu greifen.

Und inmitten dieses fast schon unbarmherzigen Szenarios treffen wir auf Charaktere, die nichts besseres mit sich anzufangen wissen, als ihre Bedürfnisse zu befriedigen: Fressen, saufen und darauf achten, nicht selbst gefressen zu werden. Natürlich im übertragenen Sinne. Der Roman hat nicht umsonst den Titel „Welch schöne Tiere wir sind“. Denn der Vergleich zur Tierwelt liegt nahe. Tiere handeln instinktgesteuert, so auch die menschlichen Tiere in diesem Buch. Überkommt sie die Gier, wird die Gier gestillt. Überkommt sie die Angst, wird geflüchtet. 
"Er wusste noch immer nicht, wie es dazu gekommen war; Panik und aufgestautes Grauen und vielleicht auch eine winzige Spur mysteriösen Hasses. Es war nicht seine Absicht gewesen, aber wer wusste schon, was Absicht war und was nicht? Sein Verstand hatte unwillkürlich gehandelt."
Lawrence Osborne hat sich auf die Reichen dieser Welt und deren Müssiggang eingeschossen. Auch in seinem Roman "Denen man nicht vergibt" nimmt er sich dieses Themas an. Was hat der Mann für ein Problem, dass ihm dieses Thema so am Herzen liegt? Letztendlich verdient er ja selbst nicht schlecht mit seinen Büchern. Lebt etwa ein kleiner Sozi in seinem Herzen, den es zu befriedigen gilt?
Dies ist für mich auch der einzige Wermutstropfen in diesem Buch: das Thema nutzt sich mit der Zeit ab. Entschädigt wird man jedoch durch die einzigartige Stimmung, die in diesem Roman vermittelt wird. Auch Osbornes Sprachstil ist nicht ohne: zynisch, dabei sehr fantasievoll und bildhaft, wodurch die Stimmung in diesem Roman noch verstärkt wird. 
Da dieser Punkt eindeutig überwiegt, habe ich diesen Roman sehr gern gelesen und fühlte mich bestens unterhalten.

Daher:Leseempfehlung!

© Renie

Mittwoch, 17. April 2019

Tomer Gardi: Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück

Quelle: Pixabay/Alexandra_Koch
"Surreal, an der Grenze zur Absurdität"

Diese Worte beschreiben in etwa meinen Leseeindruck von dem Roman "Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück" von Tomer Gardi. Eine interessante Leseerfahrung habe ich mit diesem Buch gemacht. Denn mir fällt kein vergleichbares Buch ein, auch wenn der Plot an einen altbekannten Klassiker erinnert.
Vielen sind die Geschichten aus tausendundeiner Nacht ein Begriff. Da gab es dieses schöne Mädchen Scheherazade, die ein Opfer der Umstände wurde. Ihr König ließ nämlich seine untreue Ehefrau hinrichten und hatte die fixe Idee, sich ab sofort jede Nacht eine Jungfrau zu "gönnen", die dann ebenfalls am nächsten Morgen geköpft werden sollte. (Nach Sinngebung und Zusammenhang lohnt sich an dieser Stelle nicht zu fragen.) Eine dieser Jungfrauen und potenziellen Kopflosen war besagte Scheherazade. Doch in ihr hatte der König seine Meisterin gefunden. Das clevere Mädchen fing nämlich von der ersten Nacht an, ihm Geschichten zu erzählen, die sie jedoch nie beendete. Stattdessen hörte sie in schöner Regelmäßigkeit an der spannendsten Stelle auf, so dass der König unbedingt die Fortsetzung hören wollte. So hat sie es tatsächlich auf 1001 Nächte und ein Happy End gebracht. Und der Kopf ist auch drangeblieben.
Quelle: Literaturverlag Droschl/Kirchner PR
"Ich stand dort, gegenüber dem Aquarium, betrachtete den merkwürdigen rosa Fisch, wie er da schwamm, so allein. Man sieht beim Arbeitsamt nicht wenige traurige Geschöpfe, dieser Fisch kann gewiss einen der ersten Plätze unter ihnen beanspruchen. "
Tomer Gardi hat Scheherazades erzählerische Meisterleistung als Anregung genommen, seine ganz eigene Form der Geschichten aus tausendundeiner Nacht zu schreiben. Seine Scheherazade ist ein arbeitsloser Schriftsteller in Israel, der seinen Sachbearbeiter vom Arbeitsamt, davon überzeugen muss, dass Schriftsteller ein Beruf ist, und er daher Anspruch auf Arbeitslosengeld hat. Er muss quasi seine Qualifikation unter Beweis stellen, indem er ihm Geschichten erzählt. Und der Sachbearbeiter, der herrschergleich hinter seinem Schreibtisch thront, lässt sich gern seinen tristen Büroalltag durch diese kunterbunten, aber eigenwillige Geschichten versüßen.

Diese Geschichten werden scheinbar in einem bunten Wirrwarr erzählt. Aber dennoch sind sie miteinander durch deren Protagonisten verknüpft. Einige der Protagonisten nehmen Doppelrollen ein. Sie existieren in der Realität des Ich-Erzählers, spielen aber genauso eine Rolle in seinen Geschichten.
Die Sprache ist quicklebendig und zeichnet sich durch einen feinen Witz aus.
Tomer Gardi erlaubt sich jedoch eine Merkwürdigkeit im Sprachstil. Denn seine quirlige Sprache wechselt zwischendurch ins Märchenhafte. So wird der Sachbearbeiter des Arbeitsamtes beispielsweise als "ehrwürdiger König" tituliert.
"Fürchte dich nicht, gute Frau, öffnete da der rosafarbene Fisch seinen Mund und sprach weiter, ich bin der kommerzialisierte rosafarbene Feng-Shui-Fisch, der nach dem Glauben des Feng-Shui Glück und wirtschaftlichen Aufschwung beschert."
Das alles ist merkwürdig, lustig, skurril und unterhaltsam. Doch es gibt auch die ernsthaften Momente in diesem Buch, welche schwer zu verdauen sind, da sie sehr drastisch und plakativ beschrieben sind. Wer z. B. bis jetzt noch kein Gegner von Stierkämpfen war, wird es spätestens nach diesem Buch sein. Darauf gebe ich mein Ehrenwort.

Fazit:
Es gibt sie tatsächlich noch, die Überraschungsbücher. "Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück" ist eines dieser Bücher, welches sich mit nichts vergleichen lässt, was ich bisher gelesen habe. Es ist schräg und steckt voller Verspieltheit und Fantasie. Es ist surreal und bewegt sich an der Grenze zur Absurdität. Es ist eines der Leseexperimente, auf die man sich einlassen muss. Mit gesundem Menschenverstand ist diesem Buch nicht beizukommen. Dieser Roman strotzt nur so vor lauter Übermut. Dennoch sollte man darüber nicht vergessen, dass dieses Buch als Satire auf die Gesellschaft - vornehmlich Israel - zu verstehen ist. Und das hat Tomer Gardi in einem sehr eigenwilligen Stil umgesetzt. Der Autor scheint ein großer Schelm zu sein, der einen riesengroßen Spaß hat, an dem was er tut.

© Renie


Freitag, 12. April 2019

Manichi Yoshimura: Kein schönerer Ort

Quelle: Pixabay/werner22brigitte
"Das Haus hatte einen kleinen Garten."
Dies ist der erste Satz der Erzählung "Kein schönerer Ort" des japanischen Autors Manichi Yoshimura. Und dieser hübsche Satz führt den Leser aufs Glatteis. Wenn eine Geschichte mit solch einem "Wohlfühl"-Satz beginnt, erwartet man eine schöne Geschichte, durchtränkt von Harmonie und Idylle. Wenn die Ich-Erzählerin  dann auch noch ein  entzückend naives 11-jähriges Mädchen ist, möchte man mit viel Wohlbehagen in diese Geschichte eintauchen.
Doch Manichi Yoshimura lässt seine Protagonistin alles andere als eine niedliche Kindergeschichte erzählen. Es braucht allerdings einige Seiten, bis man begreift, dass hier etwas nicht stimmt. Zunächst tauchen kleine Ungereimtheiten auf, man beginnt gewisse Dinge zu hinterfragen, man fühlt sich an manchen Textstellen unbehaglich. Und auf einmal wird aus der Wohlfühl-Geschichte eine Geschichte, die betroffen macht und man fragt sich, ob das, was hier geschildert wird, wirklich so passiert ist oder passieren könnte.

Doch worum geht es in dieser Erzählung?
Die 11-jährige Kyoko lebt allein mit ihrer Mutter in einer Wohnung in Umizuka. Kyoko ist ein sehr fantasievolles Kind, scheint aber in der Schule eine Außenseiterin zu sein. Die Mutter versucht, sich und ihre Tochter mit mehreren Jobs durchzubringen. Den größten Teil des Tages arbeitet sie, daher ist Kyoko oft allein. Die Mutter ist merkwürdig. Sie ist streng, kritisiert und beobachtet ihre Tochter ständig. Sie scheint einen Putzfimmel zu haben. Dazu ist sie stark übergewichtig, was wohl an der schlechten Ernährung liegt, die sie sich und ihrer Tochter zumutet.
"Mutter aß auch das Fleisch und das Gemüse, das sie im Supermarkt kaufte nicht. Sie sagte immer, sie würde es 'der Einrichtung' spenden, aber zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass sie es wegwarf. Im Supermarkt fühlte sie sich beobachtet und kaufte deshalb wohl oder übel diese Sachen, warf die Frisch- und Freilandprodukte hinterher aber alle weg. Und das, obwohl wir so arm waren! Ich wusste, dass sie ihre Gründe dafür hatte, fand es aber auch übertrieben." 
In Umizuka muss vor einiger Zeit ein Unglück geschehen sein, das die Einwohner jedoch eng zusammengeschweißt hat. Denn in Umizuka wird der Gemeinschaftssinn gepflegt. Die Bewohner sind stolz auf ihre Stadt und stolz darauf, dazugehören zu dürfen. Doch wird man den Eindruck nicht los, dass diese Einstellung von den örtlichen Behörden und Organisationen forciert wird. Fast schon gehirnwäschegleich werden die Menschen in jeder Lebenslage mit dem Wohlfühl-Spirit Umizukas berieselt.

Innerhalb dieses Szenarios begleiten wir Kyoko über einen kurzen Zeitraum, vielleicht von ein paar Wochen, in dem sie mit Freuden dazugehören möchte, in dem sie feststellt, dass ihre Mutter nur notgedrungen an dem Gemeinschaftsleben Umizukas teilnimmt und in dem viele Menschen erkranken bzw. sterben.

Das Leben in Umizuka scheint also sehr speziell zu sein, und nicht ganz ungefährlich. Und das, aus der naiven Sichtweise einer Schülerin erzählt, gibt dem Ganzen noch einen besonderen Kick, der das Unbehagen beim Lesen steigert. Denn Kyoko nennt die Dinge nicht beim Namen. Sie deutet in ihrer kindlichen Art an, so dass man zwischen den Zeilen liest und vieles dazu dichtet.

Und wenn man dann noch im Klappentext liest, dass der Autor diese Erzählung aus Anlass der Reaktorkatastrophe in Fukushima (11.03.2011) geschrieben hat, wird einem so einiges klar. Und die Geschichte nimmt auf einmal erschreckend reale Züge an. Und das gilt es erst einmal zu verdauen.

Leseempfehlung!

© Renie






Montag, 8. April 2019

Nicoletta Giampietro: Niemand weiß, dass du hier bist

Quelle: Pixabay/CorsoCG
In "Niemand weiß, dass du hier bist" erzählt die Autorin Nicoletta Giampietro eine faszinierende und spannende Heldengeschichte "gegen das Vergessen". Ihr Held ist kein muskelbepackter Rächer der Unterdrückten sondern ein ganz normaler Junge, Lorenzo, der mit seinen gerade mal 12 Jahren (so alt ist er als die Geschichte einsetzt) über sich hinauswächst und Unglaubliches leistet.

Zu Beginn dieses Romans treffen wir auf den Jungen, der seine Verwandten in Siena besucht. Wir schreiben das Jahr 1942. Der 2. Weltkrieg ist im Gange. Lorenzo hat einen großen Teil seiner, bis dahin glücklichen Kindheit in Libyen verbracht. Dieses nordafrikanische Land war über lange Jahre eine Kolonie Italiens und Lorenzos Eltern sind nach Lybien ausgewandert. Als der 2. Weltkrieg auch auf Afrika übergreift, entschließt sich Lorenzos Mutter, ihren Sohn wieder nach Italien zu bringen. Ihre Schwägerin Chiara, eine Lehrerin, lebt in Siena zusammen mit Lorenzos Großvater und einer Haushälterin. Lorenzos Vater ist von der italienischen Armee eingezogen worden. Während Lorenzo also in Siena bleibt, reist seine Mutter wieder ab. Sie will versuchen, Lorenzos Vater von der Front abziehen zu lassen. Soweit zur Vorgeschichte.
Quelle: Piper
"Ich war an einen sicheren Ort gebracht und zurückgelassen worden. Aber Kriege sind unberechenbar. Und sichere Orte auch."
Im Glauben, dass seine Eltern ebenfalls in Kürze nach Siena zurückkehren werden, gestaltet Lorenzo seinen Alltag in der neuen Umgebung. Er geht zur Schule und lässt sich, wie die meisten Italiener, von der Begeisterung um Mussolini mitreißen. In Italien wird zu diesem Zeitpunkt noch der Faschismus gefeiert: Mussolini hat mit seiner Machtergreifung einen wirtschaftlichen Aufschwung in Italien erwirkt. Die Menschen lieben ihn dafür. Doch nachdem Mussolini anfängt, mit Hitler und den Deutschen zu sympathisieren, bröckelt die Fassade, was sich auch bei der Stimmung der Italiener bemerkbar macht. Kritik macht sich breit, wenn auch zunächst leise. Immerhin gibt es immer noch sehr viele bekennende Anhänger des Duce, die jegliche Kritik an ihrem geliebten Führer mit allen Mitteln im Keim ersticken würden.
Auch Italiens Kinder lieben den Duce, schließlich haben dies ihnen ihre Eltern vorgelebt. Sie organisieren sich in Vereinigungen ähnlich der Hitlerjugend. Insbesondere die Jungs  gehören gern dazu, können sie doch Krieg spielen. Der Krieg wird von den Kindern und Jugendlichen (und von vielen Erwachsenen) verherrlicht. Kaum ein Junge, der nicht davon träumt, die Ehre des Duces und Italiens an der Front zu verteidigen. So auch Lorenzo.
"'... Du bist in einer Fantasiewelt voller Pathos und Helden aufgewachsen. Aber es ist nicht die echte Welt. In der echten Welt wirst du deine Kindheit schneller verlieren als deinen nächsten Milchzahn.'"
Spätestens mit Durchsetzung der Judengesetze ist es bei Lorenzo mit der Herrlichkeit von Mussolinis Faschismus vorbei. Denn Lorenzo lernt den gleichaltrigen Juden Daniele kennen. Die beiden werden Freunde. Als Danieles Familie in einer Nacht- und Nebelaktion nach Deutschland deportiert werden soll, rettet Lorenzo seinen Freund, indem er ihn heimlich in einer Dachkammer in dem Haus seines Großvaters versteckt. Und man will es nicht glauben, aber Lorenzo schafft es mit seinen gerade mal 12 Jahren, seinen Freund über einen Zeitraum von mehreren Monaten zu verstecken und für ihn zu sorgen. Diese enorme Verantwortung für ein anderes Leben geht natürlich nicht spurlos an dem ehemals unbeschwerten und aufgeweckten Lorenzo vorüber. Er leistet Unfassbares. Der Preis dafür ist, dass er dadurch ein großes Stück seiner Kindlichkeit verliert. 

Währenddessen findet in Italien ein politischer Wandel statt. Mussolini wird entmachtet. Aber Mussolini kommt mit Unterstützung der Deutschen wieder an die Macht. Zum Dank lässt er die Deutschen in Italien einmarschieren. Sie können schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Mussolini wird zu einer Marionette der Deutschen. Dies hat zur Folge, dass sich die Menschen politisch umorientieren. Viele Faschisten werden auf einmal zu Partisanen, entsagen Mussolini und versuchen aus dem Untergrund heraus gegen die deutschen Besatzer anzugehen. Aber immer noch gibt es Menschen, die an dem Faschismus festhalten und auch kein Problem damit haben, die Deutschen bei ihren Machenschaften zu unterstützen. Italiener kämpfen auf einmal gegen Italiener. Das Land ist gespalten.
Auch Lorenzo gerät mehr oder weniger unfreiwillig zwischen die Fronten. Durch einen Bekannten der Familie bekommt er Zugang zu den Partisanen im Untergrund. Doch auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.
Die Besatzung Italiens endet im Frühjahr 1945. Lorenzo ist mittlerweile 15 Jahre alt.
"'Der Große Krieg war nicht groß, Lorenzo, er war ein Gemetzel. Ein fürchterliches, sinnloses Gemetzel. Hätten wir euch das gesagt, hätten wir vielleicht diesen Krieg verhindert. Aber wir waren zu feige.'"
Es gibt mehrere Aspekte, die ich bei diesem Roman hervorheben möchte:

1. Ein Buch gegen das Vergessen aus einer fremden Perspektive
Hier wird der 2. Weltkrieg aus einer mir bisher fremden Sichtweise geschildert. Die jüngste Geschichte Italiens steht im Mittelpunkt, und es wird einmal mehr klar, dass nicht nur Deutsche nicht vergessen dürfen, sondern im Grunde genommen jede Nation, die in irgendeiner Form am Krieg beteiligt war. In diesem Roman ist es Italien mit seiner Verherrlichung des Faschismus, seiner Ergebenheit Hitler-Deutschland gegenüber und seiner Judengesetze, aber auch seiner bürgerkriegsähnlichen Zustände als Italiener gegen Italiener aufgrund unterschiedlicher politischer Überzeugungen kämpfen.

Bemerkenswert fand ich die Weigerung der Autorin zu urteilen. Lediglich zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ist ihr zu einfach. Und Recht hat sie. So gestattet sie insbesondere den vermeintlich Bösen in diesem Roman Ansätze von Menschlichkeit und Weichheit. Dadurch macht sie bewusst, dass der Grat zwischen Gut und Böse ein sehr schmaler ist.

2. Lorenzos Entwicklung
In dem Roman entwickelt sich Lorenzo von einem unbeschwerten Jungen, der den Krieg verherrlicht, zu einem nachdenklichen Jugendlichen, der von der Welt der Erwachsenen enttäuscht wird. Dazwischen übernimmt er Verantwortung für das Leben seines Freundes Daniele und lernt in den Kriegszeiten zurechtzukommen. Ein bisschen viel für ein Kind seines Alters. Insbesondere, wenn die Ereignisse innerhalb kurzer Zeit stattfinden. Er bekommt viele Dinge zu sehen, die kein Kind sehen dürfte, und die es erst einmal zu verarbeiten gilt. Umso schöner ist das hoffnungsvolle Ende dieses Romans. Mit Einmarsch der Alliierten in Italien kann er wieder Kind sein, und es sind Erwachsene da, die ihn lieben, ihn auffangen und dabei helfen werden, die Geschehnisse zu verkraften.

3. Sprache und Spannung
Die Sprache ist einfach gehalten, was nicht als negative Kritik zu verstehen ist. Diese Geschichte um Lorenzo und Italien braucht keine besonderen stilistischen Mittel, um den Leser zu beeindrucken. Das kann sie von ganz allein. Man ist sofort von der Handlung gefesselt. Der Spannungsbogen ist unglaublich hoch und flacht zu keinem Zeitpunkt ab. "Niemand weiß, dass du hier bist" ist großes Erzählkino. Und Romane wie diese haben das Zeug, später verfilmt zu werden.

Leseempfehlung!

© Renie