"Die Gelegenheit beim Schopf packen" ist ein Ausspruch, der seinen Ursprung in der Darstellung des griechischen Gottes Kairos hat. Kairos galt in der griechischen Mythologie als Verkörperung des günstigen Augenblickes, den man nur festhalten konnte, wenn man ihm an der Stirnlocke packte, denn ansonsten war er kahl. Zog Kairos also an seinem Gegenüber vorbei, war's das mit dem günstigen Moment.
Der Roman von Jenny Erpenbeck trägt nicht umsonst den Titel "Kairos". Denn den günstigen Moment erwischen die Protagonisten Katharina und Hans, als sie sich Ende der 80er Jahre zufällig in Ost-Berlin begegnen. Aus dieser Zufallsbegegnung entwickelt sich eine, in vielfacher Hinsicht, ungewöhnliche Beziehung.
Katharina ist eine 19-jährige Auszubildende, die bei ihrer Mutter wohnt und an der Schwelle zum Erwachsensein steht. Sie ist in der DDR geboren und aufgewachsen. Der Sozialismus gehört für sie zur Normalität, sie ist genauso politisch interessiert, wie andere ihrer Generation - mal mehr, mal weniger. Hans ist Mitte fünfzig, verheiratet, Vater eines Sohnes in der Pubertät, Schriftsteller und überzeugter Sozialist. In der Liaison der beiden herrscht ein Ungleichgewicht. Hans dominiert Katharina, blendet sie mit seiner Lebenserfahrung, seinem unerschöpflichen Wissen über Kunst und Kultur. Er sonnt sich in ihrer Bewunderung und versucht, sie nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen. Katharina verwechselt Schwärmerei mit Liebe und versucht, seinen Ansprüchen zu entsprechen. Dadurch verliert sie immer mehr von ihrer eigenen Persönlichkeit. Die Beziehung zwischen den beiden nimmt einen ungesunden Verlauf, über mehrer Jahre, in denen sich seelische Höhen und Tiefen abwechseln.
Jenny Erpenbeck hat es mir mit der Darstellung des Hans nicht einfach gemacht. Ich konnte nicht anders, als mich über diese Figur zu empören. Dabei war der Altersunterschied nicht entscheidend, sondern eher die Dominanz eines Mannes, der außerhalb dieser Beziehung ein Schwächling ist und im echten Leben wenig Rückgrat besitzt. Er nutzt die Dominanz gegenüber Katharina um sein Ego aufzumöbeln.
Während Katharina und Hans also mit ihrer und in ihrer "Liebe" kämpfen, findet um sie herum ein politischer Umbruch statt. Das Leben wird von dem Untergang der DDR bestimmt. Die Grenzen werden geöffnet und der Westen hält Einzug in den Alltag der Menschen, die plötzlich mit abrupten Veränderungen zu tun haben, die nicht alle willkommen sind, zumindest nicht in der Schnelligkeit.
Einer, der von der Wende überfordert sein wird, ist Hans. Das Weltbild des überzeugten Sozialisten stürzt ein. Es fällt ihm schwer, sich mit der neuen Situation zu arrangieren.
Kairos ist also eine interessante Kombination aus Wende-Roman und Beziehungsgeschichte. Was mich dabei begeistert hat, ist der Aufbau des Romans. Kairos wird aus zwei Perspektive erzählt, die eng miteinander verwoben sind - enger geht es nicht. Der Wechsel der Perspektiven findet innerhalb der Kapitel des Romans völlig unvermittelt statt; Satzzeichen der wörtlichen Rede sind nicht vorhanden. Man rutscht also von einem Moment auf den anderen in die Gedankenwelt des anderen Protagonisten - zunächst völlig unbemerkt, was natürlich gewöhnungsbedürftig ist. Doch durch die sprachliche Intensität der Autorin schafft man es, eine gedankliche Abgrenzung zwischen den beiden Gedankenwelten herzustellen.
Mein Fazit:
Eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Umbruchs der DDR, wobei mir der Hintergrund besser als der Vordergrund gefallen hat. Denn die Beziehungsgeschichte hat mich nicht überzeugt, was ausschließlich an meiner Ablehnung des männlichen Protagonisten lag. Bemerkenswert sind jedoch die sprachliche Intensität von Jenny Erpenbeck sowie der ungewöhnliche Aufbau dieses Romans. Leseempfehlung!
© Renie