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Mittwoch, 20. Oktober 2021

James Sallis: Sarah Jane

Die literarische Gattung Krimi "thematisiert in der Regel ein Verbrechen und seine Verfolgung und Aufklärung durch die Polizei, einen Detektiv oder eine Privatperson. Der Schwerpunkt, Sicht- und Erzählweise einzelner Kriminalromane können sich erheblich unterscheiden." - so Wikipedia. 

"In der Regel", wohlgemerkt, denn Krimi ist nicht gleich Krimi. Wikipedia unterscheidet folgende Untergattungen: 
Schauer- und Kriminalromane für Frauen - Whodunit - Verschiedene Ermittlungsformen - Thriller - Schwarze Serie - Gangsterballaden - Komischer Krimi - Regionalkrimi 

Eine eigenwillige Unterteilung, die sicher nicht vollständig ist. Denn es gibt Krimis, die nicht in diese Schubladen passen. Einer, der keine Schubladen-Krimis schreibt, ist der amerikanische Autor James Sallis, der für einige seiner Kriminalromane bereits den Deutschen Krimi Preis (International), den amerikanischen Hammett Prize und den französischen Grand prix de littérature policière gewonnen hat. 
Sein aktueller Roman "Sarah Jane" ist momentan auf Platz 4 der Deutschen Krimibestenliste (September 2021). Und mit "Sarah Jane" hat James Sallis einen Roman geschrieben, für den es jene Krimi-Schublade geben müsste, die in der o.g. Unterteilung fehlt: der literarische Krimi.

Sarah Jane, Protagonistin des gleichnamigen Romans, ist eine Frau, die schon einiges in ihrem Leben mitgemacht hat. Vorsichtig formuliert: sie hat bisher ein "bewegtes" Leben geführt. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen im Mittleren Westen Amerikas, ist sie bereits sehr jung von zuhause ausgerissen und hat sich die nächsten Jahre mehr schlecht als recht durchgeschlagen. Sie blieb nie lang an einem Ort, geriet in schlechte und bessere Gesellschaft. Das Militär bewahrte sie vor einer Haftstrafe. In Amerika wurde sie von den unterschiedlichsten Männern ein Stück ihres Lebensweges begleitet. Diese Männer taten ihr gut und mal weniger gut. Nun lebt sie in der amerikanischen Kleinstadt Farr, ist im Polizeidienst, sorgt für Recht und Ordnung und hat offene Augen und Ohren für die Probleme der Kleinstadtbewohner. Sie wird für ihre Empathie geschätzt, die Menschen mögen sie. Scheinbar kehrt endlich Ruhe in das bewegte Leben der Sarah Jane ein. Wenn da nicht die Geister ihrer Vergangenheit wären.

Und wie sich das für Geister gehört, bleiben sie weitestgehend unsichtbar und tauchen nur dann auf, wenn man nicht mit ihnen rechnet, was wiederum zu Zweifeln führt, denn Geister gibt es eigentlich nicht. Auf den Punkt gebracht: Sarah Jane hat Geheimnisse, die aus ihrer Vergangenheit resultieren, aber nicht offensichtlich sind und selbst für den Leser weitestgehend verborgen bleiben. 

Der Roman beginnt mit den Erinnerungen von Sarah Jane an ihre Zeit und die Jahre bevor sie nach Farr kam. Sie macht es dem Leser dabei nicht einfach. Denn sie erzählt ihre Erinnerungen chronologisch unsortiert und springt zwischen den Ereignissen hin und her. Der Leser wird mir einem Wirrwarr an Gedanken konfrontiert. Und irgendwo inmitten dieses Wirrwarrs blitzen immer wieder kleine Momente auf, die stutzig machen und den Verdacht erwecken, dass es in Sarah Janes bisherigem Leben schlimme Momente gab, wenn nicht sogar kriminelle Momente.

Die Buchbeschreibung des Verlages bringt es auf den Punkt: "James Sallis erzählt von einer Frau, die versucht, der Welt die Stirn zu bieten und mit dem Leben ins Reine zu kommen. "Sarah Jane" ist ein fesselnder, ungewöhnlicher Roman über Schuld, Sühne und das Ringen mit den eigenen Dämonen."

Im Mittelpunkt steht also Sarahs Geschichte und die Entwicklung von einer sprunghaften und wilden Jugendlichen zu einer ernsthaften und geheimnisvollen Frau mit - wie sich in Farr herausstellt - ganz viel Empathie für ihre Mitmenschen. 

Wo bleibt also das "thematisierte" Verbrechen dieses Kriminalromans? 
Tatsächlich gibt es in "Sarah Jane" Verbrechen genauso wie es Tote gibt. Doch diese Dinge sind nebensächlich und irgendwo inmitten der Vielzahl an Sarah Janes Erinnerungen sowie den Geschichten über die Menschen um sie herum verborgen. Und dieses versteckte Böse, das irgendwo in Sarah Janes Geheimnissen existiert, gibt dem Roman die Würze und das gewisse Extra, um aus diesem Roman einen Krimi zu machen, ergänzt um das Prädikat "literarisch". Denn James Sallis ruhiger Erzählton, der eine wundervoll melancholische Stimmung erzeugt, trägt dazu bei, dass dieser Roman ein literarischer Hochgenuss ist.

Leseempfehlung!

© Renie





Dienstag, 12. Oktober 2021

Charles Lewinsky: Melnitz

Der Roman "Melnitz" ist über 900 Seiten starke Fabulierkunst, wie nur Charles Lewinsky sie beherrscht. Er erzählt darin die Geschichte der jüdisch-schweizerischen Familie Meijer über einen Zeitraum von fünf Generationen. Die Handlung beginnt im Jahre 1871 und endet 1945.

Die Familie kommt aus dem gutbürgerlichen Milieu. Familienoberhaupt Salomon, mit dem die Geschichte beginnt, ist Viehhändler. Mit den nächsten Generationen werden die Meijers ihren Lebensunterhalt im Einzelhandel verdienen. Sie haben Erfolg bei dem, was sie machen. Der Erfolg sorgt für Wohlstand, mal mehr, mal weniger bescheiden. Die nachfolgenden Generationen werden davon profitieren. Es wird Nachkommen geben, die das Vermächtnis ihrer Eltern fortführen, genauso wie es Nachkommen geben wird, die einen eigenen beruflichen Weg einschlagen werden.

Die Ehen in dieser Familie werden anfangs weniger aus Liebe, sondern eher aus Vernunft geschlossen. Erst über die Jahre wird es zu Verbindungen kommen, die aus Liebe entstanden sind.
Quelle: Diogenes

Bei den Meijers wird gemenschelt und gejüdelt. Denn die jüdische Familie lebt nach den Regeln des Talmud. Ob aus Frömmigkeit oder Tradition, der jüdische Glaube bestimmt das Leben der Meijers.

Charles Lewinsky lässt in diesem Roman Schweizer Geschichte stattfinden, denn er bettet die Handlung in einen historischen Rahmen. Erzählt wird die Geschichte des Judentums in der Schweiz, vom 19. Jahrhundert bis hin zum 2. Weltkrieg am Beispiel der Meijers. 

Der Roman "Melnitz" ist ein großes Lesevergnügen, was nicht zuletzt an dem Sprachstil des Schweizer Autors liegt. Mit großer Fabulierlust und viel Ironie schildert Charles Lewinsky die großen und kleinen Probleme und Ereignisse aus dem Familienlebens der Meijers. Die Charaktere werden von ihm überspitzt dargestellt. Persönliche Macken und Eigenheiten werden dabei genüsslich ausgeschlachtet. er Autor lässt nur wenig Spielraum, um sich ein eigenes Bild von den Figuren zu schaffen. Dafür sind seine Beschreibungen viel zu akribisch, aber dafür gestochen scharf, so dass sie ein stimmiges Bild des jeweiligen Charakters ergeben.

Und dieser Roman ist unverkennbar jüdisch. Denn die Sprache ist von jiddischen Begriffen, Aussprüchen und Lebensweisheiten durchsetzt, die aber in einem mehrseitigen Glossar am Ende des Buches für den nicht-jiddisch sprachigen Leser übersetzt werden.

Namensgebende Figur dieses Romans ist übrigens ein Verwandter - Onkel Melnitz -, um wieviele Ecken er mit den Meijers verwandt ist, lässt sich schwer sagen. Doch irgendwie scheint er zur Mischpoche dazuzugehören. Und wie das häufig mit Verwandten ist, taucht der Onkel meistens dann auf, wenn man nicht mit ihm rechnet und sorgt für verstörende Unruhe. Doch wie jeder weiß, kann man sich Verwandtschaft bekanntlich nicht aussuchen.

Fazit:

Über 900 Seiten jüdische Familiengeschichte und keine Seite zuviel. Der Geschichtenerzähler Lewinsky hat wieder Höchstform bewiesen und mich mit seinem Roman verzaubert. Meine Begeisterung für diesen Autor hält an.