Der Roman "The Street" der afroamerikanischen Schriftstellerin Ann Petry ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur. Als der Roman 1946 erschien, wurde er zu einem Sensationserfolg. Denn der Roman, in dessen Mittelpunkt Themen wie Rassismus und Sexismus stehen, kam in einer Zeit heraus, als afroamerikanische Literatur bis dahin eine Männerdomäne war und Frauenliteratur in Amerika von weißen Autorinnen geschrieben wurde. Die Bürgerrechtsbewegung steckte zu diesem Zeitpunkt noch in ihren Kinderschuhen und entwickelte ihre Kraft erst Mitte der 50er Jahre. Der legendäre Marsch auf Washington (Martin Luther King, "I have a dream") geschah erst 1963. Fast 20 Jahre zuvor tauchte also eine farbige Autorin auf und schrieb einen Roman, in dem die weibliche Protagonistin eine Farbige ist, die nicht nur unter dem Rassismus der damaligen Zeit litt, sondern sich auch mit dem, in den 40er Jahren vorherrschenden Frauenbild der, von Männern dominierten Gesellschaft auseinandersetzen musste.
Quelle: Nagel und Kimche |
"Sie stieg aus und merkte erneut, dass sie erst wieder wirklich Mensch war, wenn sie Harlem erreichte und die feindseligen Blicke der weißen Frauen los war, die sie downtown und in der Subway anstarrten. Die berechnenden Blicke der weißen Männer los war, die sich durch ihre Kleider bis zu ihren langen braunen Beinen zu bohren schienen. ... Vor den fiebernd heißen Blicken hätte sie schreiend davonlaufen mögen."
Lutie Johnson, Protagonistin von "The Street", zieht in ein heruntergekommenes Mietshaus in der 116ten Straße in New Yorks Stadtteil Harlem. Zu dieser Zeit leben hier fast ausschließlich Afroamerikaner. Lutie ist Ende 20/Anfang 30 und alleinerziehende Mutter eines 8-jährigen Jungen, Bubb. Harlem ist übervölkert, Wohnraum ist knapp, Amerika befindet sich in einer Wirtschaftskrise. Ein Großteil der männlichen Bevölkerung ist arbeitslos, so auch Luties Ehemann. Wie viele Mütter und Ehefrauen auch, sucht sich Lutie eine Arbeit als Hausangestellte bei reichen Weißen, um ihre Familie am Leben zu erhalten. Während sie also für den Lebensunterhalt ihrer Familie sorgt, fängt ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen Frau an. Lutie verlässt ihn daraufhin.
Die alleinerziehende Mutter träumt von einem besseren Leben und greift nach jedem Strohhalm, der Aussicht auf mehr Geld bietet. Denn mehr Geld bedeutet eine Zukunft fernab der 116. Straße, in der sie mit ihrem Sohn nun gestrandet ist. Während Lutie also nach Möglichkeiten sucht, sich und ihrem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen, wird sie immer wieder an Männern scheitern, die ihr zunächst Hoffnung geben, sich jedoch später als Enttäuschung erweisen. Aus anfänglichem Optimismus wird Mutlosigkeit. Lutie sieht ihre Träume dahinschwinden. Der Roman endet in einer Tragödie.
"Es gab im Leben krasse Gegensätze, dachte sie, und wenn die Welt der Reichen abgeschottet blieb, damit Menschen wie sie selbst sie nur von außen begaffen konnten, ohne jemals auf Zutritt hoffen zu dürfen, dann wäre es besser, blind auf die Welt zu kommen, damit man sie nicht sehen, taub, damit man sie nicht hören, ohne Tastsinn, damit man sie nicht fühlen musste. Oder noch besser ohne Gehirn, damit man von alledem erst gar nichts mitbekam, damit man nie erfuhr, dass es sonnendurchflutete Orte gab, wo man gut aß und die Kinder in Sicherheit lebten."
In diesem Roman gibt es eine Handvoll Charaktere, welche die Handlung dominieren. Neben der Protagonistin Lutie gibt es noch eine zwei weitere Frauen. Eine davon ist Mrs. Hedges, die sich mit dem Leben in all seiner Schlechtigkeit in Harlem arrangiert hat. Als Überlebenksünstlerin hat sie sich eine Nische geschaffen, die ihr ein lukratives Einkommen sichert. Sie betreibt ein Bordell und steht unter dem Schutz der lokalen Verbrechergröße. Denn ohne männlichen Schutz hat eine Frau in Harlem schlechte Karten, wie Lutie feststellen muss. Die anderen maßgeblichen Charaktere in diesem Roman sind Männer., die sich als Fieslinge erweisen. Ann Petry hat ihnen Rollen zugeschrieben, die einem literarischen Thriller alle Ehre machen würden. Sie sind kriminell, sie sind verhaltensgestört, sie sind skrupellos und auf ihren Vorteil bedacht. Eine gutaussehende Frau wie Lutie wird als Sexobjekt betrachtet, das man um jeden Preis in seinen Besitz bringen möchte.
Dieser Roman trägt nicht umsonst den Titel "The Street" - die Straße. Denn der Alltag in dieser Straße hat einen großen Anteil an der Handlung. Die einzelnen Kapitel beginnen oder enden gern mit einem Straßenbild. Das kann ein Windstoß sein, der Blätter über die Straße weht oder Kinder, die ausgelassen spielen. Diese Szenen wirken fast schon poetisch und stehen im Kontrast zu dem harten Kampf ums Überleben, den die ärmliche Bevölkerung, und insbesondere Lutie tagtäglich zu führen hat. Die Straße steht stellvertretend für den Rassismus und die daraus resultierende Armut. Wer einmal in die Fänge der 116. Straße geraten ist, kommt nicht so schnell von ihr los. So scheint die Straße ein eigenständiger Charakter in diesem Roman zu sein, was auch durch das stilistische Mittel der Personifizierung, welche Ann Petry an vielen Stellen anwendet, unterstrichen wird.
Anfangs habe ich den Roman als unspektakulär empfunden. Durch das gemächliche Sprachtempo baut sich zu Beginn nur wenig Spannung auf. Scheinbar wird die Geschichte einer alleinerziehenden farbigen Mutter erzählt, die trotz aller Hindernisse am Ende doch ihren Weg Richtung Happy End gehen wird. Der Roman wird zunächst aus der Sicht von Lutie erzählt. Doch mit dem sehr überraschenden Wechsel - übrigens einer von vielen in diesem Roman - der Erzählperspektive auf einen der männlichen Charaktere nimmt die Handlung Fahrt auf. Ab diesem Moment steigt die Spannung in diesem Roman stetig an, die Geschichte wird zu einer anderen als ursprünglich angenommen. Scheinbar fehlte bis zu diesem Zeitpunkt eine Prise Boshaftigkeit, die der Geschichte die besondere Würze verleiht und von jetzt an zu finden ist. Die Spannung hält sich bis zum Schluss und lässt die Handlung unaufhörlich auf ein trauriges Ende dieses Romans zu steuern.
Fazit:
The Street ist als Anklageschrift gegen ein rassistisches Amerika der 40er Jahre zu verstehen. Einer Zeit, in der Farbige der Bodensatz der Gesellschaft waren, und farbige Frauen im Besonderen. Was scheinbar als optimistische Geschichte mit einem vorhersehbaren Handlungsverlauf beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Roman voller Wut, Ungerechtigkeit und Traurigkeit. Ein Roman, der mich noch lange beschäftigen wird! Leseempfehlung!
© Renie