Montag, 17. April 2017

Christine Wunnicke: Katie

Quelle: Pixabay / Mysticsartdesign
"Eine herrlich übersinnliche Geschichte, und das Beste: Es ist alles wahr. Wirklich."
Florence Cook, die Protagonistin dieses Romanes, war zu ihrer Zeit ein berühmtes Medium. Ein Medium bezeichnet eine Person, die bei einer spiritistischen Sitzung oder Séance in Kontakt mit Toten oder Geistern treten und deren Nachrichten aus dem Jenseits ins Diesseits übermitteln kann. Dies geschieht, indem das Medium von dem Toten oder Geist "besessen" wird ("Poltergeist" lässt grüßen). Der Tote spricht nun durch das Medium zu den Teilnehmern der Séance im Diesseits. Es gibt allerdings auch Tote und Geister, die zu schüchtern sind, um mit der Nachwelt zu plaudern. Diese wissen dann durch Stühlerücken, schwebender Gegenstände oder ähnlichem zu beeindrucken. Man mag es glauben oder nicht, doch unterhaltsam ist es alle Male. Zwischen 1850 und 1890 boomten die Séancen. Sie fanden im kleinen intimen Kreis statt oder wurden als Massen-Event gestaltet. Ein Star der Londoner Szene war in dieser Zeit Florence Cook.
Von Florence handelt dieser ungewöhnliche Roman von Christine Wunnicke. Stellt sich nun die Frage, wer "Katie" ist und welche Rolle sie in dem gleichnamigen Roman spielt. 
"'Ihre Florrie wird eine Hübsche werden", hatte der Arzt zu Mutter gesagt, und es hatte bedrohlich geklungen. Kaum eine ist hübsch, wusste Florence, dass sie deshalb berühmt wird. Und wenn doch, geht es moralisch schief. Das heißt dann 'berüchtigt'." (S. 15)
Katie ist eine ungewöhnliche Frau mit einer strahlenden Erscheinung. "Ungewöhnlich" - weil sie schon lange tot ist; "strahlende Erscheinung", weil sie als ebendiese im Diesseits erscheint. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hat sie sich Florence als Medium ausgesucht und geistert nun im viktorianischen puristischem London umher. 
Quelle: Kirchner PR/Berenberg

Florence (oder Florrie) ist ein junges Mädchen aus behütetem Elternhaus, das die Rolle des Mediums in Perfektion beherrscht.

Einen großen Anteil an ihrem Ruhm hat ihre ehrgeizige Mutter, die schnell erkennt, dass Florries Talent sehr lukrativ sein kann.

So groß der Hype um die parapsychologische Szene auch war, gab es natürlich auch Zweifler. Insbesondere Wissenschaftler versuchten, diese übersinnlichen Veranstaltungen entweder als Humbug zu entkräften oder einen Beweis für die Echtheit der Erscheinung zu finden. Einer davon war Sir William Crookes (man beachte die Namensähnlichkeit zu Florence Cook). Crookes war britischer Physiker, Chemiker, Wissenschaftsjournalist und Parapsychologe - also durchaus ein Fachmann auf dem Gebiet der Geistererscheinungen. Anfangs ein Skeptiker, hat er sich in seinen letzten Lebensjahren vom Spiritismus begeistern lassen. Ob Florence /Katie ihren Teil dazu beigetragen haben, den Wissenschaftler zu überzeugen? Denn in Christine Wunnickes Roman treffen Crooke und Florence aufeinander, als der, bis dahin erfolglose Wissenschaftler, mit einem Gutachten über Florence und ihre Glaubwürdigkeit beauftragt wird. Als Forschungsobjekt von ihrer Mutter zur Verfügung gestellt, zieht Florence in das Haus des Forschers, wo sie am Crookesschen Familienleben teilnimmt. 
"Crookes merkte, wie sein Hals zu schwellen begann. Dies geschah ihm in letzter Zeit öfter. Er wusste nicht, ob es Zorn war oder sein inneres, ängstliches Abdrücken der Luft. Er schätzte, den Spiritismus nicht sehr. Nur wenig hatte er bislang darin dilettiert, kaum drei-, viermal selbst gesessen. Doch in Gelehrtenkreisen war ihm nicht zu entkommen." (S. 27)
Sir William Crookes sieht Florrie als Möglichkeit, aus seinem Forscherdurchschnittsdasein herauszukommen. Auf die eine oder andere Weise will er Ruhm erlangen. Entweder als derjenige, der Florrie als Betrügerin entlarvt oder als derjenige, dem es gelingt, das Geheimnis einer Geistererscheinung zu lösen.

Zusammen mit Florrie zieht auch Katie in das Haus der Familie Crookes ein. Hier geistert sie umher und beglückt die Bewohner des Hauses auf die eine oder andere Art. Katies Biografie liest sich wie ein Abenteuerroman. Sie war zu Lebzeiten eine sehr sinnliche Frau, was sie auch als Tote nicht abgelegt hat. Insbesondere die männlichen Bewohner des Wissenschaftlerhaushaltes erleben Katie von dieser ganz besonderen Seite.

Ist sie nun Wirklichkeit, eine Ausgeburt der Fantasie oder fauler Zauber? Crookes gibt alles, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und auch als Leser ist man sich nicht sicher, was es mit der strahlenden Erscheinung von Katie auf sich hat. Auch bei Florrie hat man große Zweifel. Einerseits sieht man sie als kindliches Opfer, von ihrem Umfeld ausgenutzt, allen voran natürlich ihre ehrgeizige Mutter. Andererseits erstaunt sie aber durch ihre unberechenbaren Handlungen. Liegt ihre Unberechenbarkeit an einer tatsächlichen Besessenheit durch den Geist Katie oder an ihrer Durchtriebenheit? Oder gar an einer psychischen Erkrankung? Man weiß es nicht, wird es auch bis zum Ende dieses Romanes nicht in Erfahrung bringen. 
"Zuschauer waren aufgesprungen und strebten zur Bühne. Sie reckten die Hände nach Katie. Sie lächelte. Ihre Zähne strahlten. Sie neigte sich ein wenig vor und näherte ihre Hände den Händen der Zuschauer, ohne sie indes zu berühren. Die Geste hatte etwas Spöttisches, etwas Segnendes, etwas sehr Hübsches an sich." (S. 151)
Dieser Roman ist mit all seiner Übersinnlichkeit ein sehr lustiger Roman, was auf die Gestaltung der Charaktere zurückzuführen ist. 
Christine Wunnicke versetzt uns in ein Kabinett der Skurrilitäten. Keiner ihrer Charaktere erzeugt Sympathien. Bestenfalls für Florence empfindet man Mitleid, das sich jedoch in Grenzen hält. 
Fast schon süffisant macht die Autorin sich über ihre Charaktere lustig. Das ist ansteckend und hat einen sehr hohen Unterhaltungswert. 

Mein einziger Kritikpunkt an diesem Roman bezieht sich auf den Sprachstil: Im Großen und Ganzen konnte mich Christine Wunnicke durch ihren locker-leichten Sprachstil überzeugen. Allerdings versucht sie in einigen Passagen dieses Romanes dem wissenschaftlichen Charakter gerecht zu werden. Insbesondere in den Szenen um Crookes schmückt sie ihren Sprachstil mit wissenschaftlichen Fachtermini aus, die mir zu viel des Guten sind. Dies mag an meiner fehlenden naturwissenschaftlichen Ader liegen. Leser mit einer entsprechenden Neigung werden mit Sicherheit ihren Spaß daran haben. 

© Renie




Über die Autorin:
Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München. Sie schreibt Hörspiele, biografische Literatur und Romane. 2002 erhielt sie für ihre Biografie des Kas­tratensängers Filippo Balatri, »Die Nachtigall des Zaren«, den Bayerischen Staatsförderungspreis für Literatur. Für den Roman »Serenity« bekam sie 2008 den Tukan-Preis. Ihr Roman »Der Fuchs und Dr. Shimamura« – ihr zweites Buch im Berenberg-Programm – war 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert (Longlist). (Quelle: Berenberg)