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Sonntag, 29. Januar 2017

John Fante: 1933 war ein schlimmes Jahr

Quelle: pixabay/MiriamPereluk
"Ein Kultautor und sein vergessener Roman"! Das ist John Fante mit seinem Roman 1933 war ein schlimmes Jahr. Sogar das sonst so gespaltene Literarische Quartett war sich im Dezember bei der Bewertung dieses Romanes einig und hat sich zu einer 4:0-Wertung herabgelassen. Ich habe das Buch bei einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen. Mal sehen, wie hier die Wertung ausgefallen ist ....

Schauplatz dieses Romanes ist eine amerikanische Kleinstadt am Fuß der Rocky Mountains in den 30er Jahren. Dominic Molise, 17 Jahre, säbelbeinig, sommersprossig, rothaarig, etwas größer als ein Hobbit, lebt hier mit seiner italienischstämmigen Familie in sehr einfachen Verhältnissen. Das Geld ist immer knapp. Die Zukunftsaussichten sind hundsmiserabel. Dom träumt von einer Baseball-Karriere. Baseball ist sein Lebensinhalt, dafür tut er alles. Er trainiert wie ein Besessener, hätschelt seinen Wurfarm und gibt sich seinen Fantasien hin, eines Tages in der Profiliga mitzuspielen.
Doch sein Weg ist vorbestimmt. Sein Vater, der die Familie mehr schlecht als recht als Maurer ernährt, erwartet von seinem Sohn, dass dieser in seine Fußstapfen tritt und ihn zukünftig bei dem Unterhalt der Familie unterstützt. Von Dom's Traum möchte er zunächst nichts wissen. 
"Das war's also. Das ganze Buch. Die tragische Geschichte von Dominic Molise, geschrieben von seinem Vater. Teil eins: Nervenkitzel Steineklopfen. Teil zwei: Spiel und Spaß im Sägewerk. Teil drei: Wie man sich vom eigenen Vater das Leben verderben lässt. Teil vier: Hier ruht Dominic Molise, gehorsamer Sohn." (S. 32)
Quelle: Aufbau/Blumenbar
Dom's Eltern führen eine Ehe, die mehr Schein als Sein ist. Die Mutter gibt sich ihrer Frömmigkeit hin, der Vater flüchtet vor seiner bigotten Frau, indem er viel Zeit mit seiner Geliebten verbringt. Hier bekommt er scheinbar die Geborgenheit und Zuneigung, die ihm seine Frau vorenthält. Dom ist zwiegespalten. Einerseits hat er gelernt, Vater und Mutter zu ehren, und dass die Ehe seiner Eltern eine Verbindung ist, die anhalten sollte, bis dass der Tod sie scheidet. Doch erkennt er auch, dass die beiden ihre Liebe zueinander schon längst verloren haben. 

Dom hat auch genug mit sich selbst zu tun. Als pubertärer 17-Jähriger lebt er in einem ständigen Gefühlschaos. Oftmals spielen seine Hormone verrückt. Insbesondere dann, wenn er in die Nähe des Objektes seiner Begierde kommt: die Schwester seines besten Freundes Ken ist zwar älter als er, lässt aber seine Fantasien zur Höchstform auflaufen. Ken's Familie gehört zur reichen Gesellschaft der Stadt. Trotzdem verbindet die beiden Jungen eine tiefe Freundschaft. Ken teilt Dom's Traum von einer Baseball-Karriere und überredet ihn, zusammen auszureißen und ihr Glück gemeinsam bei einem Profiverein suchen.
"Mit spätestens 19 werde ich bereit sein für den großen Erfolg, entweder bei den Cubs oder bei den Phillies, das ist mir egal. Schenk mir die Zeit bis dahin und noch zehn Jahre dazu, lieber Gott, ein knappes Dutzend Jährchen insgesamt, mehr brauche ich nicht, dann kannst du mich gerne totschlagen, wenn es dir gefällt; die zwölf Jahre werden genug für jede Menge Baseball sein, zwölf Baseball-Meisterschaften zu je dreißig Partien, das macht dreihundertsechzig Spiele, viele tausend Würfe und reichlich Gelegenheit für Dom Molise, seinen Namen in der Ruhmeshalle der Unsterblichen zu verewigen." (S. 12)
Der Roman vermittelt von Anfang an eine melancholische Stimmung. Natürlich ist er aus der Sicht von Dom geschrieben. Schon mit den ersten Sätzen hat man ihn in ins Herz geschlossen. Er ist sensibel, kümmert sich um seine Familie, ist sogar bereit, seinen Traum hintenan zu stellen. Das macht aus ihm eine tragische Figur. Denn letztendlich wünscht man ihm, dass es ihm gelingt, seinen Traum zu leben, weiß allerdings auch, dass seine Herkunft der Erfüllung seines Traumes im Wege steht. 
Stellenweise ist der Roman sehr komisch. Insbesondere die Darstellung der pubertären Irrungen und Wirrungen von Dom sind ein echtes Highlight. Sehr lustig ist auch die Beschreibung von Grandma Bettina, die kein Wort Englisch spricht, Englisch nur dann versteht, wenn sie muss und allem Amerikanischen gegenüber misstrauisch ist. Dabei hält sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg - auf Italienisch natürlich!

John Fante war 54 Jahre alt, als er "1933 war ein schlimmes Jahr" geschrieben hat. Er hat in diesen Roman viel von seiner eigenen Geschichte einfließen lassen. Als Kind italienischer Einwanderer ist er selbst in einer Kleinstadt in Colorado aufgewachsen. Das eindrucksvolle Nachwort von Axel Capus, der diesen Roman übersetzt hat, liefert viele Informationen zu John Fante, beschreibt seinen Lebensweg und gibt einen Einblick in das Werk des Autors. John Fante starb 1983. Dieser Roman ist posthum veröffentlicht worden.

Fazit:
Wie anfangs erwähnt habe ich diesen Roman in einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen. Nicht nur ich bin von diesem Roman begeistert. Denn das einstimmige Urteil der Leserundenteilnehmer lautet 10:0 für diesen Roman. Deutlicher geht es nicht ;-)

© Renie




ISBN: 978-3-351-05031-3 



Über den Autor:
John Fante, geb. 1909 in Denver als Sohn italienischer Einwanderer, zog als Mittzwanziger nach L.A. In einer Stadt, die aus Filmträumen bestand, war er mehr als fehl am Platz, und so entstand sein unnachahmlicher Stil aus innerer Zerrissenheit, Großmut und erlösenden Rachegelüsten. Sein erster Roman „Warte auf den Frühling, Bandini“ wurde 1938 veröffentlicht, im Jahr darauf folgte „Warten auf Wunder“. Er starb 1983 an einer Folge seiner Diabetes-Erkrankung. Posthum verlieh man ihm den PEN Award für sein Lebenswerk. (Quelle: Blumenbar)

Donnerstag, 26. Januar 2017

David Garnett: Mann im Zoo

Quelle: Pixabay / Antranias
Da streiten sich zwei Liebende und am Ende landet einer von den beiden als Ausstellungsobjekt im Zoo. David Garnett hat in seinem Roman "Mann im Zoo" ein Szenario entwickelt, das, so unglaublich wie es ist, doch einen gewissen Reiz ausübt.

Der Roman beginnt mit einem Besuch in besagtem Zoo. Der Leser kommt dabei in den unterhaltsamen Genuss, dem Streit zweier Liebender beizuwohnen. Josephine und John haben jeder für sich einen starken Willen, den sie mit aller Macht durchsetzen wollen. Keiner will nachgeben, denn Nachgeben bedeutet, dem anderen gegenüber schwach zu sein. Unvorstellbar für zwei Charakterköpfe wie Josephine und John.

Worum es bei dem Streit geht? Er verlangt von ihr, dass sie sich zu ihm bekennt und sich von allen anderen, die ihr wichtig sind, lossagt. Aus "Liebe", versteht sich!
"Entweder du liebst mich oder du liebst mich nicht. Wenn du mich liebst, wird dir der Preis, die anderen für mich zu opfern, nicht zu hoch sein." (S. 16)
Tja, John scheint ein merkwürdiges Verständnis von einer Beziehung zu haben. Wen wundert es, dass Josephine sich mit allem, was sie hat, zur Wehr setzt. Frau ist doch nicht übergeschnappt!
Mit Vernunft ist John nicht beizukommen. Stur bleibt stur. Stattdessen greift er einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag der, bis auf's Blut gereizten Josephine auf: 
"Du bist Tarzan bei den Affen; du gehörst in den Zoo. Die Sammlung hier ist nicht vollständig ohne dich." (S. 17)
Quelle: Kirchner Kommunikation 
Und schon setzt er diesen Vorschlag in die Tat um. Denn
"dieser Mann war ebenso stolz wie störrisch, weshalb er im Affekt Beschlossenes so weit trieb, bis es kein Zurück mehr gab." (S. 19)
Aber verstehe jemand die Frauen. Josephine stürzt von einem Gefühlschaos ins nächste: Wut, Verzweiflung, Sorge, Sehnsucht, mal verflucht sie ihn, mal will sie ihn wieder haben. Am Ende kann sie nicht ohne ihn.

Was bringt jemanden dazu, sich wie ein Tier im Zoo ausstellen zu lassen und das am Ende noch zu genießen? Denn genau das passiert mit John. Anfangs ist dies eine ungewohnte Situation, die er jedoch aufgrund der Regeln und Bedingungen, die er für seinen Aufenthalt mit der Zoodirektion ausgehandelt hat, bestens meistert. Er ignoriert die Zoobesucher weitestgehend, hat sogar eine Rückzugsmöglichkeit, die ihm ein wenig Privatsphäre garantiert. Zu Beginn stehen die Zoobesucher Schlange, um ihn zu begaffen. Doch wie bei so vielen Attraktionen lässt das Interesse an ihm mit der Zeit nach.
"Ihn zogen stets jene Tiere im Garten an, die sich nicht um ihre angeborene Wildheit hatten bringen lassen. In seiner verzerrten Wahrnehmung kam es ihm vor, als hätten sie sich ihre Selbstachtung bewahrt." (S. 78 f.)
John's Leben im Zoo garantiert ihm ein hohes Maß an Individualität. Es ist ihm ein Graus, in der breiten Masse unterzugehen, sich fremden Regeln zu unterwerfen und sein Leben nach anderen auszurichten. Wieviel Komfort bietet ihm da der Zoo: die Alltagsregeln hat er selbst definiert, er muss sich nicht mit seinen Mitmenschen auseinandersetzen, kann in seiner kleinen Welt tun und lassen, was er will. Wenn da nur nicht die Liebe wäre.

Fazit:
David Garnett hat mit seinem Buch „Mann im Zoo“ einen kleinen, aber feinen Roman geschrieben, der viele philosophische Interpretationsansätze liefert. Dabei zeichnet er sich durch eine sehr lebhafte Sprache aus, die das Lesen sehr kurzweilig und unterhaltsam macht. Stellenweise ist der Roman sehr komisch, fast schon grotesk, dann wieder stimmt er sehr nachdenklich. Sein Leben nach den eigenen Regeln leben zu können, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen, ohne sich gesellschaftlichen Zwängen zu unterwerfen – ein reizvolles Szenario. Aber letztendlich ist der Mensch ein Herdenvieh und kann nicht ohne andere, wie der Roman am Ende beweist.

© Renie


ISBN: 9783038200406

Über den Autor:
David Garnett, am 9. März 1892 in Brighton geboren, war Schriftsteller, Buchhändler, Verleger, Kritiker und Mitglied der »Bloomsberries«. Dame zu Fuchs (1922) war der erste Roman, den David Garnett unter eigenem Namen veröffentlichte. Er erhielt dafür mehrere Preise. In zweiter Ehe war er mit Angelica Bell verheiratet, der Tochter seiner Freunde aus der Bloomsbury-Gruppe, den Malern Vanessa Bell und Duncan Grant, mit denen er eine Zeit lang in Charleston Farmhouse zusammengelebt hatte. Duncan Grant ist dieser Roman auch gewidmet. David Garnett verstarb am 17. Februar 1981. (Quelle: Dörlemann)

Donnerstag, 19. Januar 2017

Robin Black: Porträt einer Ehe

Quelle: pixabay
Ein melancholischer Roman über "eine matte, kampfesmüde, gebeutelte und wieder zusammengeflickte Liebe"

Augusta, genannt Gus, ist Malerin, Owen ist Schriftsteller. Die Ehe der beiden ist kinderlos. Die beiden sind seit einer gefühlten Ewigkeit zusammen. Ist ihre Beziehung anfangs von Leidenschaft geprägt, setzt doch irgendwann der Gewöhnungseffekt ein, der nicht unbedingt schlecht ist, da beide sich als Seelenverwandte sehen. Gus scheint jedoch mit der Zeit das gewisse Etwas in ihrer Beziehung zu Owen zu vermissen, das sie daraufhin in einer Affäre mit einem verheirateten Mann, dessen Tochter sie im Malen unterrichtet, zu finden hofft. Doch das Gewissen plagt sie. Sie beichtet Owen ihre Affäre und erhält von ihm die erhoffte Absolution. Die beiden wollen ihrer Beziehung eine neue Chance geben. Ein erster Schritt ist eine Heirat, die die Beziehung der beiden zueinander verbindlicher machen soll. Die beiden kaufen ein Farmhaus auf dem Land, in dem sie sich ihr weiteres Leben einrichten wollen. 
"Ich glaubte immer, dass Owen wahrscheinlich eines Tages seinerseits eine Affäre haben würde, in gewisser Hinsicht um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn ich in einer bestimmten düsteren Stimmung war, glaubte ich sogar, er habe das Recht dazu, obwohl mich der Gedanke abstieß." (S. 19)
So weit, so gut. Denn dies ist die Vorgeschichte des Ehepaars Gus und Owen, die sich durch Rückblenden und anhand von Erinnerungen der Ich-Erzählerin Gus konstruieren lässt. Der Roman setzt in der Zeit nach dem Umzug auf's Land ein.

Während Gus und Owen nun in der Zurückgezogenheit leben, malt sie weiterhin erfolgreich an ihren Projekten, wohingegen er eine Kreativ-Flaute durchlebt. Es ist, als ob Gus'  Vertrauensbruch Owen‘s Kreativität erstickt hat. Die beiden genügen sich zunächst selbst in ihrer neuen Zweisamkeit, was nicht bedeutet, dass sie ihre Persönlichkeit nicht ausleben können. Dieses Recht auf Individualität gestehen sie sich zu. Das Leben könnte in seiner Zufriedenheit ewig so weiter gehen.

Quelle: Randomhouse/Luchterhand
Doch eines Tages zieht Alison in das Nachbarhaus und stört die Zweisamkeit der beiden. Aus Höflichkeit lassen sich Gus und Owen auf ein paar Anstandsbesuche und -gespräche ein, aus denen jedoch schnell mehr wird. Alison malt ebenfalls, mit der Zeit freunden sich die beiden Frauen an. Je intensiver die Freundschaft zwischen den beiden wird, umso mehr verliert Owen den Bezug zu seiner Frau. Alison hat eine Tochter (Nora), die sie von Zeit zu Zeit besuchen kommt. Nora himmelt den Schriftsteller Owen, der mehr als doppelt so alt wie sie ist, an und bringt ihm die Bewunderung und Anerkennung entgegen, die er in den letzten Jahren schmerzlich vermisst hat. Und erneut steht die Beziehung zwischen Owen und Gus auf dem Prüfstand.
"In einer Ehe laufen oft zwei Gespräche nebeneinander ab. Das, das man gerade führt, und das, das man gerade nicht führt. Manchmal weiß man nicht einmal, wann dieses zweite, stillschweigende, begonnen hat." (S. 54)
Robin Black hat gerade für die beiden Charaktere Gus und Owen ein umfangreiches Psychogramm erstellt. Sie lässt den Leser tief in ihre Seelen blicken. Die Ich-Erzählerin Gus schildert die Vorkommnisse auf der Farm und erklärt dem Leser aber durch Rückblicke in die Vergangenheit, warum die Beziehung zu Owen zu dem wurde, was sie heute ist. Mit ihrem Seitensprung hat Gus natürlich die Verbindung zu ihrem Mann auf's Spiel gesetzt.  Mit ihrer Hochzeit und dem Rückzug auf das Land geben die beiden sich wieder eine Chance.
Aus Gus' Erinnerungen an ihre Kindheit und Familie erfährt der Leser, welches Verhältnis sie als Kind zu ihrem Vater hatte. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater reagierte mit Schweigen auf diesen Schicksalsschlag. Fortan wurde nicht mehr über die Mutter gesprochen. Er und seine drei Töchter haben die Bewältigung der Trauer somit im Keim erstickt. Geprägt von dieser Erfahrung, stellt Gus irgendwann fest, dass auch Owen ein Mensch ist, der dazu tendiert, Probleme in sich zu verschließen und mit sich selber auszumachen. Daher haben Gus und Owen auch über einen langen Zeitraum nicht die Möglichkeit gefunden, die seelischen Wunden, die Owen durch Gus‘ Fremdgehen davongetragen hat, gemeinsam zu heilen.

Mit der Nachbarin Alison und ihrer Tochter Nora, hat Robin Black zwei Figuren geschaffen, die man zunächst nicht einschätzen kann. Einerseits sieht man sie als die nette Nachbarin mit ihrer Tochter. Man freut sich für Gus. Sie hat in Alison jemanden gefunden, dem sie sich anvertrauen kann, der sie ihre Sorgen und Ängste schildern kann. Aber irgendetwas haben Mutter und Tochter an sich, das darauf hindeutet, dass das Friede-Freude-Eierkuchen-Verhältnis von Gus und Alison nicht so bleiben wird. Die Autorin spart dabei nicht mit Andeutungen, die sie auf sehr subtile Art einfließen lässt.
"Der Tag weicht der Dunkelheit, das Licht schwindet, so dass die strotzenden, grünen, hochsommerlichen Bäume in zwanzig Meter Entfernung sich zurückzuziehen und von der Bühne abzugehen scheinen. Nur zwei Lichtreflexe bleiben noch. Der Lichtschein aus der Küche, der auf die Veranda fällt, und das fließende Silberhaar einer der beiden Frauen, das, gegen den Sonnenuntergang eigenartig immun, glänzt und leuchtet wie ein auf die Erde gefallener Mond." (S. 45)
Robin Black hat einen Sprachstil, der sehr bildhaft ist und fast schon malerisch wirkt. Dabei vermittelt sie eine sehr melancholische Stimmung. Man begegnet immer wieder der Farbe „Grün“ in unterschiedlichen Schattierungen. Automatisch denkt man dabei an eine symbolische Bedeutung: Grün, die Farbe der Hoffnung. Da liegt es natürlich nahe, in die Geschichte und der Beziehung von Gus und Owen einen hoffnungsvollen und positiven Verlauf hinein zu interpretieren.
Derart eingestimmt, kommt Robin Black's Abschluss der Geschichte fast wie ein „Paukenschlag“ daher. Man wird von der Handlung zum Ende hin völlig überrascht.
Daher ist dies kein Buch, das man einfach zuklappen wird, sondern man wird das Bedürfnis haben, das Ende der Geschichte erstmal sacken zu lassen.

Ein sehr intensiver Roman, der mir lange in Erinnerung bleiben wird.

© Renie


ISBN: 978-3-630-87322-0


Über die Autorin:
Robin Black lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Philadelphia. Ihre Erzählungen und Essays sind in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht worden, und sie hat Stipendien der Leeway Foundation und der MacDowell Colony erhalten. Heute lehrt sie am Brooklyn College. Mit ihrem Roman »Porträt einer Ehe« kam sie auf die Longlist des Flaherty-Dunnan First Novel Prize. (Quelle: Luchterhand)

Donnerstag, 12. Januar 2017

Leila S. Chudori: Pulang (Heimkehr nach Jakarta)

Quelle: pixabay

Bhinneka tunggal ika - Diesen Spruch findet man im Wappen Indonesiens. Er bedeutet "Einheit in Vielfalt" und passt perfekt zu Leila S. Chudoris Buch Pulang (Heimkehr nach Jakarta). Sie hat mit diesem Roman eine literarische Einheit geschaffen, die vielfältiger nicht sein könnte.
Es ist ein Familienroman, ein Mehr-Generationen-Roman, ein politischer Roman, ein historischer Roman, ein Liebesroman, ein Roman mit einer Vielzahl an Erzählperspektiven und Zeitebenen; ein Roman, der zu unterhalten, zu faszinieren und zu informieren weiß; der einen in ein fremdes exotisches Land entführt, das in vielen Dingen Europa doch so ähnlich ist. Ach ja, und es ist ein Roman über gutes Essen. Ich garantiere, dass sich bei manchen Passagen dieses Romanes ein riesengroßer Appetit auf indonesisches Essen entwickeln wird.
"Warum müssen wir uns irgendeiner Gruppe anschließen, nur um für alle sichtbar eine bestimmte Überzeugung zu haben? Vor allen Dingen sollten wir uns lieber fragen, ob unsere Überzeugung denn tatsächlich die einzig wahre ist. Sozialismus, Kommunismus, Kapitalismus - müssen wir eine dieser Ideologien ganz schlucken? Ohne zu zweifeln oder eine kritische Haltung einzunehmen?" (S. 46)
Der Roman beginnt in Indonesien in den 60er Jahren. Der Journalist Dimas ist für indonesische Verhältnisse ein unpolitischer Mensch, da er sich nicht für eine politische Seite entscheiden möchte. Er ist eher nach allen Seiten hin offen eingestellt. Leider übt er seinen Beruf zu einer Zeit aus, in der Politik den indonesischen Alltag bestimmt und die Anfeindungen zwischen den Parteien ihren Höhepunkt erreichen. Im Jahre 1965 kommt es zu einem Putschversuch durch Teile des Militärs, der von dem rechtsgerichteten General Suharto niedergeschlagen wird. Obwohl die damalige kommunistische Partei des Landes an dem Aufstand unbeteiligt war, werden ihre Mitglieder von Suharto für den Putschversuch hauptverantwortlich gemacht. 
Menschen mit einer linken politischen Gesinnung werden zu Staatsfeinden erklärt. Journalisten sind prädestiniert für diese Rolle, insbesondere, wenn sie regimekritisch schreiben. Dank einem glücklichen Zufall befindet sich Dimas zur Zeit der Machtergreifung Suhartos auf einer Auslandsreise, zusammen mit 3 Journalistenkollegen. Die Rückkehr in ihre Heimat bleibt ihnen zunächst verwehrt, da sie als politisch kriminell gelten und ihnen in Indonesien Gefängnisstrafen, wenn nicht Schlimmeres, drohen. 
Die vier Kollegen stranden schließlich in Paris, wo sie politisches Asyl erhalten. Hier werden sie nun den größten Teil ihres Lebens verbringen, sich eine neue Existenz aufbauen, sich verlieben und Familien gründen. Von hier aus beobachten sie voller Sorge die Vorgänge in ihrer Heimat Indonesien.

Suharto ist gründlich. Sein Strafsystem macht keinen Unterschied zwischen "Delinquent" und Angehörigen, also zwischen "schuldig" und unschuldig. Die Familien und Freunde in Indonesien werden mit Schikanen im Alltag bis hin zu Verfolgung, Gefängnisstrafen, sogar Folter für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, die sie nicht begangen haben. Das Einzige, dessen sie sich schuldig gemacht haben: mit einem "Delinquenten" verwandt oder befreundet zu sein.

Die Freunde in Paris verlieren niemals den Kontakt nach Indonesien. Durch den Betrieb ihres erfolgreichen indonesischen Restaurants, können sich die Freunde in Frankreich etablieren.

Dimas heiratet eine Französin. Die gemeinsame Tochter Lintang wächst in 2 Kulturen auf, der indonesischen und der europäischen. Obwohl sie noch nie in Indonesien war, ist sie tief in ihrem Herzen mit diesem Land verwurzelt. Die Liebe Dimas' zu seiner Heimat überträgt sich auf seine Tochter. Als Lintang 1998 während ihres Studiums nach Jakarta geht, um einen Dokumentarfilm über dieses Land zu drehen, lernt sie den indonesischen Zweig der Familie kennen. Seit dem Weggang ihres Vaters aus Indonesien bis zu diesem Zeitpunkt sind über 30 Jahre vergangen. Es hat einen Generationenwechsel gegeben. Aus den Kindern sind junge Erwachsene geworden, die sich politisch engagieren und gegen das Suharto Regime protestieren. In Indonesien brechen Studentenunruhen aus, die das Ende der Regierung Suhartos einläuten.
"Mein Vater sagte, mein Blut stamme aus einem Land weit entfernt von Europa, aus einem Land, das den Duft von Nelken und einer vergeblichen Traurigkeit atme. Ein fruchtbares Land, reich an Pflanzen in ungezählten Farben und Formen; und ebenso reich an Glaubensrichtungen. Aber es war auch ein Land, das seine Staatsbürger vernichtete, nur weil sie eine eigene Meinung hatten." (S. 132)
Frau Chudori ist es gelungen, die jüngste Geschichte Indonesiens anhand der einzelnen Lebenswege ihrer Charaktere nahe zu bringen. Ich habe ihre Verbundenheit zu diesem Land mit jeder Zeile gespürt. Durch ihren lebhaften Sprachstil fiel es mir leicht, mich auf diese fremde Geschichte einzulassen. Sie macht neugierig auf ihre Heimat. Auch wenn der größte Teil der Handlung in Paris spielt, ist Indonesien doch stets präsent: in der Erinnerung der Charaktere, durch deren Beobachtung der politischen Situation in ihrer Heimat und natürlich durch die indonesische Küche, der in diesem Roman mehr als gehuldigt wird. 

Fazit:
Dieser Roman hat einfach alles, was einen guten Roman für mich ausmacht. Einen interessante Geschichte, wundervolle Charaktere, eine lebhafte Sprache, Einblick in eine fremde Kultur. Er ist kurzweilig, spannend, ergreifend, ernsthaft und amüsant. Klare Leseempfehlung!


© Renie

ISBN: 978-3-938803-75-2


Über die Autorin:
LEILA S. CHUDORI, 1962 in Jakarta geboren, begann bereits mit zwölf Jahren zu schreiben. Ihre Kurzgeschichten erschienen in verschiedenen indonesischen Zeitschriften. Sie studierte Politikwissenschaft und Vergleichende Gesellschaftspolitik an der University of Trent, Kanada. Seit 1989 arbeitet sie als Redakteurin bei der indonesischen Zeitschrift »Tempo«. Darüber hinaus schreibt sie Drehbücher für Fernsehfilme. 2007 wurde sie für ihre Arbeit als Drehbuchautorin ausgezeichnet. (Quelle: Weidle)








Dienstag, 10. Januar 2017

Gavin Extence: Libellen im Kopf

Quelle: pixabay


Nachdem mich Gavin Extence mit seinem ersten Roman "Das unerhörte Leben des Alex Woods" begeistern konnte, habe ich natürlich mit Hoffen und Bangen sein neues Buch erwartet: "Libellen im Kopf", kürzlich im Limes Verlag erschienen. Natürlich habe ich gehofft, dass der Autor einen weiteren Coup im Sinne von "Alex Woods" landen würde. Gleichzeitig habe ich aber auch befürchtet, dass er den hohen Erwartungshaltungen, die durch seinen gnadenlos guten Erstling entstanden sind, nicht gerecht werden kann. 

Worum geht es in diesem Roman?
Kurz zusammengefasst geht es um eine Frau, Abby, die unter einer bipolaren Störung leidet und deren Leben gerade außer Kontrolle gerät. Dieser Roman behandelt ihren seelischen Absturz, ihren Krankenhausaufenthalt und die Zeit danach.
"Die Leute reden ständig über düstere Stimmungen. Düstere Stimmungen hier, düstere Stimmungen da. Aber eine Depression ist keine düstere Stimmung. Es ist eine aschgraue Stimmung oder vielleicht auch eine beigefarbene Stimmung." (S. 93 f.)

Der Roman lässt sich in 3 Teile gliedern:
Teil 1 - die Zeit vor dem Klinikaufenthalt
Der Einstieg ist grandios. Abby, die ein wenig schräg rüberkommt, findet zufällig den toten Simon, ihren Nachbarn, in seiner Wohnung. Obwohl sie so gut wie gar nichts über ihn wusste, löst Simon's Tod irgendetwas in ihr aus, Auffällig ist, dass sie völlig untypisch auf die Situation reagiert. Diese Szene wirkt sehr skurril und lustig und lässt einiges für den weiteren Verlauf der Handlung hoffen.

Abby, Mitte 20, ist freiberufliche Journalistin, schreibt Artikel über Themen, die ihr gerade in den Sinn kommen und verkauft ihre Beiträge an diverse Zeitungen. Sie lebt mit Beck zusammen, ihrem Freund, der sie abgöttisch liebt und so ganz anders ist als Abby. Sie ist die Chaotische, er ist der Ordnungsliebende und Vernunftmensch. Mal abgesehen vom gelegentlichen Drogenkonsum führt Abby also ein stinknormales Leben. Und doch scheint mit ihr etwas nicht zu stimmen. Es gibt regelmäßige Termine bei Dr. Barbara, einer Psychologin.
Was genau mit Abby nicht stimmt, erschließt sich dem Leser im weiteren Verlauf dieses ersten Teils.

Kleine Exkursion in die Psychologie:
Quelle: Randomhouse / Limes Verlag
Eine bipolare Störung ist eine schwere psychische Erkrankung, die durch manische und depressive Stimmungsschwankungen charakterisiert wird. Manische und depressive Phasen wechseln sich ab. In der manischen Phase durchlaufen die Erkrankten extreme Stimmungshochs. Sie sind dann überaktiv, gereizt, euphorisch und leiden unter extremen Schlafstörungen. Die depressive Phase bewirkt das Gegenteil: Depressionen, Antriebslosigkeit, gedrückte Stimmung, tiefe Traurigkeit bis hin zur Selbstmordgefährdung. Ca. 1 bis 3 % der Menschen leidet unter dieser Krankheit. Überdurchschnittlich viele kreative Menschen sind betroffen. Die Ursache dieser Erkrankung ist noch nicht geklärt.

Schnell stellt sich heraus, dass Abby in eine manische Phase schliddert, die sie zu Handlungen bewegt, die mit gesundem Menschenverstand nicht erklärbar sind. Was Abby anstellt ist schon heftig. Sie schadet sich gesundheitlich und finanziell. Ihr ist auch nicht mit Vernunft und guten Worten beizukommen. Sie wirkt wie ein Pulverfass, das kurz vor der Explosion steht. Im letzten Moment wendet sie sich an Dr. Barbara, die gar nicht anders kann, als Abby in die Psychiatrie einzuweisen - zu Abbys eigenem Schutz.

Teil 2 - die Zeit in der Klinik
Abby, die ihren Klinikaufenthalt als unfreiwillig erlebt, wird hier langsam seelisch stabilisiert. Es ist ein langer und mühevoller Weg, den sie zu gehen hat. Anfangs ist ihre Zielsetzung, so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus zu kommen. Deshalb schauspielert sie, versucht die Ärzte und Pfleger zu täuschen, um möglichst schnell wieder auf freiem Fuß zu sein. Sie freundet sich mit Melody, einer anderen Patientin, an. Sie scheinen sich gut zu tun. Denn beide profitieren von den gemeinsamen Gesprächen und unterstützen sich gegenseitig auf ihrem Weg zurück in die Normalität.

Teil 3 - die Zeit nach der Klinik
Abby versucht, wieder allein mit dem Leben zurechtzukommen. Sie nimmt das Angebot an, das Haus einer Schriftstellerin, die sie vor einiger Zeit interviewt hat, für einige Wochen zu hüten. 
"Ich bin Amok gelaufen, was sich in impulsiven Handlungen äußerte, in Geldverschwendung und sexueller Freizügigkeit, aber ich leide nicht unter Wahnvorstellungen. Ich halte mich nicht für die Jungfrau von Orleans, für einen Außerirdischen oder für die weibliche Reinkarnation von Jesus." (S. 186 f.)
Es fällt mir schwer, diesen Roman zu bewerten, weil ich ihn, ehrlich gesagt, nicht zu Ende gelesen habe. Man ahnt es: er hat mir nicht gefallen. Der Anfang ist grandios, die Szene mit dem toten Nachbarn originell, aber dann verliert sich der Autor über Seiten in der Beschreibung des Alltags von Abby, der sich nicht so sehr von dem anderer Menschen unterscheidet. Erst als sich Abbys seelische Ausraster intensivieren, zieht die Spannung in diesem Roman an.
Der zweite Teil entschädigt anfangs für die Schwächen des ersten Teils. Die Darstellung des Klinikalltags und die Art und Weise, wie Abby versucht, mit ihrer Situation zurechtzukommen wirken authentisch. Extence schreibt in einer saloppen und spritzigen Art, die mir auch in seinem ersten Buch so sehr gefallen hat. Mit dem Ende des 2. Teiles schreibt sich Extence jedoch um Kopf und Kragen: Es kommt zum Eklat zwischen Abby und ihrer Freundin Melody. Der Autor stellt dabei eine Verbindung zum Anfang des Romanes her, die so haarsträubend konstruiert wirkt, dass ich den Roman an dieser Stelle genervt abgebrochen habe. Zufälle gibt es, die gibt es einfach gar nicht.

In Anbetracht der Tatsache, dass Gavin Extence selbst mit einer bipolaren Störung zu kämpfen hat, fällt es mir nicht leicht, diesen Roman, in dem er seine persönlichen Erfahrungen verarbeitet, abzuwatschen. Ich habe großen Respekt vor Extence, und wie er sein Leben mit dieser Krankheit meistert. In einem sehr persönlichen Nachwort gewährt er einen Einblick in seine Erfahrungen und den Leidensweg, den er und seine Angehörigen oftmals gehen müssen.

Auch wenn das Nachwort mich berührt hat, der Roman konnte es leider nicht. Meine Kritikpunkte überwiegen leider. Ich bin mir jedoch sicher, dass dieser Roman seine Leserschaft findet - dafür zieht der Name "Gavin Extence" zu sehr. Ich kann mir sogar vorstellen, dass Leser, die sich mit Psychologie und psychischen Erkrankungen befassen, einen deutlich besseren Zugang zu diesem Buch haben werden und diesen Roman anders erleben werden als ich.

© Renie




ISBN: 978-3-8090-2634-1


Über den Autor:
Gavin Extence, geboren 1982, lebt mit seiner Frau, seinen Kindern und einer Katze in Sheffield. Mit seinem Debütroman »Das unerhörte Leben des Alex Woods« schrieb er sich in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen. Der Roman wurde in Großbritannien mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, eroberte auch in Deutschland die Bestsellerliste und gehört zu den meistempfohlenen Büchern 2014. »Libellen im Kopf« ist der zweite Roman von Gavin Extence. (Quelle: Limes Verlag)

Mittwoch, 4. Januar 2017

Ray Bradbury: Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Quelle: Pixabay
Ray Bradbury war mir bisher nur als Autor der Dystopie Fahrenheit 451, bekannt, die er 1953 veröffentlicht hat. Ich kann mich noch gut an die Romanverfilmung mit Oskar Werner in der Hauptrolle des Bücher verbrennenden Feuerwehrmannes erinnern. Doch der Science Fiction Autor Bradbury beherrscht noch ein anderes Genre: Horrorliteratur.
In einer Leserunde bei Whatchareadin bin ich in den Genuss von Horror gekommen, wie ich ihn mag: intelligent, fantasievoll und blutarm. In "Das Böse kommt auf leisen Sohlen" inszeniert Ray Bradbury ein Szenario, das mich mächtig gruseln ließ.

Worum geht es in diesem Roman?
Der Inhalt ist schnell zusammengefasst. Die Handlung spielt in den 20er/30er Jahren. In einer amerikanischen Kleinstadt gastiert ein Wanderzirkus. Doch dieser Zirkus ist kein gewöhnlicher Zirkus: merkwürdige und unheimliche Dinge geschehen mit einigen Leuten, die diesen Zirkus mit seinen Attraktionen - Karussel und Spiegelkabinett - besuchen. Einzig die beiden Jungen Will und Jim - Freunde vom Tag ihrer Geburt an - kommen dem Zirkus und seinem Geheimnis auf die Spur. Sie bringen sich dadurch in große Gefahr, denn die Zirkusleute wollen sich nicht von zwei Kindern ins Handwerk pfuschen lassen.
Quelle: Diogenes
"Der Zirkus ist wie Menschen - nur menschlicher. Ein Mann und eine Frau gehen nicht voneinander, sie bringen einander nicht um, sondern sie martern einander ein Leben lang, reißen sich die Haare, die Fingernägel einzeln aus, und die Qual des einen ist dem anderen das Narkotikum, das ein Leben erst lebenswert macht. Der Zirkus spürt von Magengeschwüren geplagte Egos aus meilenweiter Entfernung auf und fliegt herbei, um Hand an die Schmerzen zu legen. Er riecht Jungen, die sich damit abquälen, Männer zu werden, und die dabei schmerzen wie große dumme Weisheitszähne aus zwanzigtausend Meilen Entfernung, einen in Winternacht gebetteten Sommer." (S. 192 f.)
Den Anfang dieses Romanes habe ich zwiegespalten erlebt. Bradbury hat einen sehr eigenwilligen Sprachstil: von Metaphern durchzogen und teilweise wirre Gedankengänge. Der Einstieg war daher nicht leicht für mich. Aber irgendetwas hatte die Geschichte, dass ich nicht mehr von ihr lassen konnte. Mit der Zeit habe ich mich an den Sprachstil gewöhnt und konnte ihm sogar einiges abgewinnen. Insbesondere die teilweise sehr morbide Wortwahl hat es mir angetan.

Bradbury entführt den Leser in eine Gedankenwelt, die herzlich wenig mit Logik und Vernunft zu erklären ist. Gerade die beiden Jungs Jim und Will nehmen unglaubliche Dinge wahr, die mich oft verunsichert haben. Häufig tauchte bei mir die Frage auf, ob diese Dinge, die die beiden Jungen erleben, in dem Roman tatsächlich passieren oder nur eine Ausgeburt ihrer kindlichen Fantasie sind. Diese Frage hat mich tatsächlich bis zum Ende nicht losgelassen.

Es gehört schon einiges dazu, wenn ein Autor von der ersten Seite an eine unheimliche Stimmung vermittelt, die bis zur letzten Seite anhält, ohne dass sie jemals merklich nachlässt. Ray Bradbury ist genau dies gelungen. Seine Qualität als Horror-Autor haben auch schon andere namhafte Schriftsteller dieser Zunft erkannt. So ließ sich z. B. Stephen King von Bradbury's Geschichten inspirieren. "Es" lässt grüßen.

Fazit:
Dieser Roman weiß durch seine unheimliche Stimmung zu überzeugen. Bradbury hat es geschafft, mit seinem eigenwilligen Sprachstil, Horror vom Feinsten zu schreiben - intelligent und fantasievoll, dabei relativ blutarm. Das "Böse" ist dem Leser dabei ständig präsent - mal unterschwellig, dann auch wieder sehr direkt. Die eigene Fantasie läuft zur Höchstform auf. Das Kopfkino liefert Bilder, die die Nerven doch sehr strapazieren. Das ist einfach nur gruselig, und so soll es sein!

© Renie

"Das Böse kommt auf leisen Sohlen" von Ray Bradbury, erschienen bei Diogenes (2013)
ISBN: 978-3-257-20866-5 


Über den Autor:
Ray Bradbury, geboren 1920 in Waukegan (Illinois). Nach dem Highschool-Abschluss verkaufte er an einer Straßenecke die Zeitschrift ›Futura Fantasia‹. Die Namen unter den Beiträgen täuschten: Geschrieben hatte Bradbury fast alles selber. 1953 erschien ›Fahrenheit 451‹, sein erster und berühmtester Roman, den François Truffaut verfilmte. Das Spektrum des »Louis Armstrong der Science-Fiction« (Kingsley Amis) reicht aber weiter, über Kinderbücher und Gedichte bis zu Drehbüchern, wie jenes zu ›Moby Dick‹ von John Huston. Ray Bradbury starb 2012 in Los Angeles. (Quelle: Diogenes)

Montag, 2. Januar 2017

Nathalie Chaix: Liegender Akt in Blau

Quelle: pixabay 

Nicolas de Staël war ein französischer Maler, der in seinen Anfängen der informellen Malerei zuzuordnen war, jedoch später einen eigenen Stil entwickelt hat. Er versuchte Abstraktion mit Gegenständlichkeit zu vereinen. Seine Werke zeichnen sich durch kräftige und großflächig aufgetragene Farben aus. In den letzten 3 Jahren seines Lebens war de Staël von einer unglaublichen Produktivität erfüllt und hat in dieser Zeit Dreiviertel seines Werkes geschaffen. Im Alter von 41 Jahren nahm de Staël sich das Leben. Wie so viele Künstler litt er unter Depressionen und Selbstzweifeln.

Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern ein unangemessenes Wikipedia-Halbwissen, das ich mir angelesen habe. Der Wahrheit halber muss ich gestehen, dass ich Nicolas de Staël vor der Lektüre dieses Romanes nicht kannte. Für mich war dieses Buch daher eine echte Herausforderung. Wie werde ich, die Kunstbanausin, einem künstlerisch gestalteten Buch über einen Maler gerecht? Wahrscheinlich gar nicht. Hier ist mein Versuch, meine Eindrücke über dieses Buch wiederzugeben.
Quelle: Kirchner PR / kunstanstifter



Worum geht es in diesem Roman?
Der Maler Nicolas zieht sich nach einer sehr anstrengenden Zeit des Reisens und Repräsentierens in den Süden Frankreichs zurück. Zu diesem Zeitpunkt ist er in 2. Ehe mit Françoise verheiratet. Während eines Italienurlaubes lernt er die junge Jeanne kennen, ebenfalls verheiratet. Die beiden verlieben sich ineinander. Jeanne wird die Muse seiner letzten Schaffensphase. Die Gefühle für sie wird er in seinen Bildern verarbeiten. Zunächst halten die beiden ihr Verhältnis aus Rücksicht auf ihre Familien geheim. Doch gerade Nicolas verliert sich immer mehr an Jeanne und drängt sie, mit ihrem alten Leben abzuschließen.
"Für ihn ist sie wie Wasser in seinen Händen. Entweicht, verrinnt, entgleitet. Es gelingt seinen Händen nicht, sie zu halten. Der verheißungsvolle Klang der Quelle. Verbrennt ihn. Rinnt durch seine Finger. Bis zu den Knien im Netz. Er ballt die Faust. Presst die Finger zusammen. In einem Augenblick: wundersame Pfütze in der Vertiefung seiner Handfläche. In einem Augenblick. Nichts mehr." (S. 99)
Jeanne fühlt sich hin- und hergerissen. Sie wird sich einige Male von Nicolas trennen, doch immer wieder zu ihm zurückkehren. Irgendwann ist Nicolas' Druck auf sie zu groß. In ihrer Bedrängnis entscheidet sich Jeanne für ein Leben ohne Nicolas. Sie hat das Gefühl, dass er sie mit seinen Besitzansprüchen erstickt. Sie verlässt ihn endgültig, trennt sich jedoch auch von ihrem Mann und lebt fortan allein. Einfach nur die Frau von einem Mann zu sein, reicht ihr nicht. Sie möchte ein Leben führen, in dem sie sich verwirklichen kann, ohne von jemandem abhängig zu sein oder von jemandem besessen zu werden. Nicolas, der Verlassene, geht an diesem Verlust zugrunde. Der Roman endet mit seinem Tod.
"Ich will wirklich existieren. Nicht nur die Frau von sein. Nicht im Schatten eines Mannes leben. Ich sein. Ungehemmt. Unverstellt. Ohne zu ersticken." (S 191)
Der Schreibstil von Nathalie Chaix ist sehr kreativ, aber auch gewöhnungsbedürftig. Der Text besteht stellenweise aus einer Aneinanderreihung von Satzfragmenten, die den Lesefluss zum Stocken bringt. Trotzdem war für mich in ihren Worten eine Intensität und Eindringlichkeit zu spüren, die mich tief berührt haben.
Fließtext und Versform wechseln sich ab. Einige Textpassagen sind als Gedichte ausgelegt. Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt: Jeanne, die als Ich-Erzählerin fungiert sowie eine personale Erzählperspektive aus der Sicht von Nicolas. Die Schrift ist der jeweiligen Erzählperspektive angepasst: Jeanne -"schwarz gedruckt"; Nicolas -"grau gedruckt". Diese Kennzeichnung ist sinnvoll, da der Wechsel zwischen den Erzählperspektiven oft überraschend kommt, man aber durch das Schriftbild sofort weiß, aus wessen Sicht die Geschichte weitererzählt wird.
Fast hat man den Eindruck, dass Nathalie Chaix ihren Schreibstil dem Maler de Staël angepasst hat. Man kann gar nicht anders als ihren Stil als "farbenfroh" zu bezeichnen. Und die Illustratorin Christina Röckl steht ihr dabei in nichts nach. Ganz im Gegenteil!

englischgrün,
mischung aus preußischblau
und chromgelb,
veronesergrün, kupferarsenit
pistaziengrün
malachitgrün
mandelgrün
moosgrün
smaragdgrün
.....
(S. 274)

Die Illustratorin Christina Röckl hat sich ausgiebig mit dem Werk von de Staël befasst, hat sogar die Originalschauplätze des Romanes besucht. Mit ihren Illustrationen, die komplette Seiten einnehmen, hat sie die Stimmungen und Lichtverhältnisse der Umgebung einfangen können - ähnlich wie de Staël in seiner Malerei. Auch bei ihr entdeckt man die großflächige Farbgebung. Teilweise sind einzelne Seiten in einer Farbe gehalten, mit einigen wenigen Farbschattierungen, die man erst bei genauerem Hinsehen entdeckt. Ihr Malstil ist abstrakt und lässt sehr viel Raum für Interpretationen, auf die ich mich gern eingelassen habe. So findet sich in ihrer Arbeit häufig ein bestimmtes Motiv, von dem ich mich optisch täuschen ließ. Denn dieses Motiv hat mich zunächst an eine Vase erinnert. Erst mit der Zeit konnte ich zwei sich anblickende Profile ausmachen - Nicolas und Jeanne - die je nach Beziehungsstatus in der Geschichte mal näher zusammenstanden, sich aber auch voneinander entfernten.

Auszug aus dem Buch "Liegender Akt in Blau", kunstanstifter Verlag

Das Zusammenspiel zwischen Text und Illustration vermittelt eine sehr intensive Stimmung. Die Geschichte kommt wie eine Naturgewalt daher, die mich förmlich mitgerissen hat. Die Leidenschaft und Verzweiflung der beiden Charaktere Nicolas und Jeanne sind deutlich spürbar. Fast fühlt man sich als Leser unwohl in der Flut dieser Emotionen.

Fazit:
Nathalie Chaix befasst sich in ihrem Raum "Liegender Akt in Blau" mit der letzten Schaffensphase des Malers Nicolas de Staël und erzählt seine Geschichte in einem sehr kreativen, aber eindringlichen Sprachstil, der von den farbenprächtigen und kraftvollen Illustrationen von Christina Röckl begleitet wird.
Dieser sehr poetische Roman handelt von Liebe und Leidenschaft, genau genommen von einer Liebe, die Leiden schafft und in Zerstörung endet. Eine beeindruckende Verbindung aus Geschichte und Illustration, die mich gefühlsmäßig zu beschäftigen wusste.

© Renie






Über Nathalie Chaix:
Nathalie Chaix, 1972 in Annecy, Frankreich, geboren, lebt und arbeitet in Genf. Sie ist dort im kulturellen Bereich tätig. Ihre ersten Erfolge feierte sie mit dem Roman Exit Adonis aus dem Jahr 2007, für den sie den George Nicole Preis bekam. Liebe und Schöpfung sind Themen, die ihr in ihren Büchern wichtig sind. Beim Schreiben des Romans Grand Nu Orange fühlte sie sich frei inspiriert vom Leben und Schaffen des französischen Malers Nicolas de Staël. (Quelle: kunstanstifter)

Über Christina Röckl:
Mit Und dann platzt der Kopf schloss Christina Röckl kürzlich ihr Masterstudium in Illustration bei ATAK/Georg Barber ab. Das Bilderbuch wurde für den Giebichenstein Designpreis nominiert und zusammen mit Ergebnissen eines von ihr geleiteten Comicworkshops im Vogtlandmuseum Plauen ausgestellt. Auslöser für das Projekt war für sie die große Frage, weshalb Slimer eine Seele hat, ein Haufen Schleim aber nicht.
Christina Röckl lebt und arbeitet in Leipzig. (Quelle: kunstanstifter)