Donnerstag, 8. September 2016

Elizabeth Strout: Bleib bei mir

Es gibt Schriftsteller, deren Namen mir nahezu überall begegnen. Bücher dieser Schriftsteller befinden sich natürlich auch auf meinem SuB. Ich nehme mir ständig vor, endlich eines dieser Bücher zu lesen. Aber immer kommt mir ein anderes Buch dazwischen. Elisabeth Strout ist so eine Schriftstellerin. Die Pullitzer-Preisträgerin von 2009 habe ich schon geraume Zeit im Blick. Der Roman „Bleib bei mir“ lag schon seit langem auf meinem SuB. Aber irgendwie hatte mich bisher dieser doch sehr kitschige deutsche Titel dieses Romans abgeschreckt. Jetzt habe ich diesen Roman endlich doch gelesen. Und ich muss gestehen, dass es mich jetzt ein wenig ärgert, dass ich nicht schon früher zu einem der Bücher von Elizabeth Strout gegriffen habe.

In dem Roman „Bleib bei mir“, der im Jahre 2014 in Deutschland veröffentlicht wurde (Originaltitel: Abide with me*, erstmalig erschienen in 2005) , geht es um Folgendes:


In einer Kleinstadt im einsamen Norden der USA hat Pastor Tyler Caskey nach dem tragischen Tod seiner Frau das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er hadert nicht nur mit sich und der Welt, sondern zweifelt auch an Gott und seinem Glauben. Und in der Gemeinde, in der er bis dahin geliebt und geachtet war, fragen sich immer mehr Leute, ob Tyler sich nicht zu sehr gehenlässt in seinem Schmerz… Mit unnachahmlicher Leichtigkeit und großer Menschenkenntnis zeichnet Elizabeth Strout das Porträt einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt. Und sie erzählt von Menschen wie du und ich, von ihren Stärken und Schwächen, von ihrer Warmherzigkeit und Freundlichkeit, aber auch von ihrem Misstrauen und ihrer Engstirnigkeit. (Quelle: Random House/Luchterhand)

Der Roman setzt ca. 1 Jahr nach dem Tod von Tylers Frau Lauren ein. Der Leser erfährt, wie Tyler seinen Alltag meistert. Die jüngste Tochter wächst bei seiner Mutter auf. Die ältere befindet sich in seiner Obhut. In Rückblicken erinnert sich Tyler an seine Ehefrau, die Zeit des Kennenlernens, ihre gemeinsame Ehe und das Verhältnis zu seinen Schwiegereltern.
"Vielleicht war es das, mehr noch als alles andere, was seine anhaltende Beliebtheit in der Gemeinde ausmachte: diese Momente plötzlicher Ratlosigkeit, fundamentaler Verunsicherung. Gerade angesichts seiner sonstigen Beherrschtheit, der sanften, zerstreuten Ergebenheit, mit der er sein Unglück trug, erlaubten es diese Augeblicke offen eingestandenen Nicht-weiter-Wissens den Menschen - besonders den Frauen, aber keineswegs nur ihnen -, ihren Pastor als jäh und ungeahnt verwundbar zu sehen, was ihn die restliche Zeit nur umso stoischer erscheinen ließ. Heldenhaft fast schon." (S. 18)

Tyler war schon immer ein Idealist, eigentlich ist er zu gut für diese Welt. Sein Anspruch ist, ständig Gutes zu tun. Er ist für seine Gemeinde da. Mit der Zeit wird er immer mehr von seiner Gemeinde vereinnahmt und man hat den Eindruck, dass er seinen „Schäfchen“ bald mit Haut und Haar gehört. Insbesondere die Damen des Ortes erweisen sich als wahre Herrscherinnen über das Gemeindeleben. Zu ihren Lebzeiten ist Lauren mehr schlecht als recht mit den Damen der Gemeinde zurechtgekommen. Sie entsprach einfach nicht dem Bild einer Pastorenfrau, was die Gemeinde ihr und ihm - schließlich hat er sie in die Gemeinde gebracht -  krummgenommen hat. Nach Laurens Tod und einer angemessenen Zeit der Anteilnahme, wird Tyler misstrauisch beäugt. Wie wird er sein Leben meistern? Ist er in der Lage, seine Kinder allein großzuziehen? Sollte er nochmal heiraten? Wenn ja, wann und wen? Die Damen der Gemeinde machen sich so ihre Gedanken über ihren Pastor.
"Nicht lange, und Frauen in West Annett, die seit Jahren nicht mehr geweint hatten, standen schluchzend in der Küche. Dass Lauren Caskey sich für etwas Besseres gehalten hatte, war vergessen oder vergeben. Ihr Schicksal ermöglicht ein Schwelgen in Gefühl, wie es sich lange Zeit keiner mehr gegönnt hatte. Das arme, arme Ding, sagten die Leute - wie furchtbar." (S. 107)
Tyler ist überfordert, wenn er auf Widerstand stößt. Insbesondere die anfangs versteckte Kritik der Gemeinde, die mit der Zeit immer gehässiger wird und sogar in böser Nachrede ausartet, macht ihm zu schaffen. Er weiß einfach nicht damit umzugehen, da er sich im Traum nicht vorstellen kann, dass es Menschen gibt, die ihm etwas Böses wollen.

Die Gemeinde treibt es auf die Spitze. Man sollte meinen, dass sie Tylers Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, als Ansporn sieht, weiter auf ihn einzudreschen. Zum Ende, als sich die Ereignisse überschlagen, erinnert mich das Szenario an Kinder, die sich prügeln und am Ende erschrocken sind, wenn eines sich dabei eine blutige Nase holt. Genauso geht es Tyler. Nur, dass seine blutige Nase ein Nervenzusammenbruch ist. Die Gemeinde ist zu Tode erschrocken, über das, was sie angerichtet hat. Aber am Ende beruhigen sich alle wieder, lecken ihre Wunden, sind wieder nett zueinander und das Gemeindeleben geht weiter.
"An diesem Tag klingelten nicht viele Telefone, und an den folgenden Tagen auch nicht. Die Leute aßen ihr Sonntagsessen schweigend, ermahnten höchstens einmal ihre Kinder, die Serviette zu benutzen oder beim Abräumen zu helfen. Es war wie bei einem Todesfall, der erst verarbeitet sein wollte, und so wurde über das Vorgefallene ein Mantel neuenglischer Zurückhaltung gebreitet, ein respektvolles Schweigen, vermischt mit einer Portion schlechten Gewissens." (S. 313)
Elizabeth Strout macht diese Geschichte aus dem Kleinstadtleben zu etwas Besonderem. Von Beginn an war ich von ihrer lebhaften und farbenfrohen Sprache fasziniert. Sie hat Spaß daran, fantasievolle Metaphern einzusetzen, die beim Leser ein wunderbares Kopfkino in Gang setzen. Man taucht in der Kleinstadtwelt ab, reibt sich an der Engstirnigkeit und Spießigkeit der Bewohner und leidet mit dem sehr naiven Gutmenschen Tyler. Elizabeth Strouts Charaktere sind hervorragend ausgearbeitet. Das wird einem insbesondere bei den unterschiedlichen Perspektiven bewusst, aus denen die Handlung erzählt wird. Neben Tylers Sicht wird die Geschichte auch aus den Perspektiven anderer Gemeindemitglieder erzählt. Elizabeth Strout lässt den Leser dadurch in das tiefste Innere dieser Charaktere blicken. Und man wundert sich manches Mal über die Denkweise einzelner Charaktere. 

Der Roman hat mich auf den Geschmack gebracht. Elizabeth Strout könnte aufgrund ihrer wundervollen Sprache zu meiner Lieblingsautorin werden. Keine Frage! Dieses Buch bekommt daher von mir eine klare Leseempfehlung!

© Renie



*"Abide with me", der Originaltitel dieses Romans, ist im Übrigen der Titel eines englischen Kirchenliedes:
... Abide with me ist als Abend- und Sterbelied bis heute jedem Briten vertraut. Es erklingt bei Begräbnissen und anderen Anlässen der königlichen Familie, bei den militärischen Gedenkfeiern Festival of Remembrance in der Royal Albert Hall und ANZAC Day, aber auch alljährlich zu Beginn des Finalspiels des FA Cup sowie in zahlreichen Spielfilmszenen. (Quelle: Wikipedia)




Bleib bei mir von Elizabeth Strout, erschienen im Luchterhand Verlag
Erscheinungsdatum: Juli 2014
ISBN: 978-3-630-87445-6


Über die Autorin:
Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und wuchs in Kleinstädten in Maine und New Hampshire auf. Nach dem Jurastudium begann sie zu schreiben. Ihr erster Roman „Amy & Isabelle“ (1998) wurde für die Shortlist des Orange Prize und den PEN/Faulkner Award nominiert. „Bleib bei mir“ war ihr zweiter Roman (2006) und wurde hoch gelobt. Für „Mit Blick aufs Meer“ bekam sie 2009 den Pulitzerpreis. Alle ihre Romane, auch „Das Leben, natürlich“, waren Bestseller. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City. (Quelle: Random House/Luchterhand)