Donnerstag, 15. September 2016

Clemens Böckmann, Shyan Siow (Ill.): Wahrscheinlich war es anders

Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Mittlerweile lebe ich in einer Großstadt, fahre aber immer wieder gern in meine alte Heimat. Ich schau bei alten Nachbarn vorbei und freue mich, wenn ich zufällig Schulfreunden begegne, die auch gerade zu Besuch sind. Ich lasse mich von Muttern bekochen und schwelge in Erinnerungen. Und ehe man es sich versieht, kommt irgendwann der Moment, in dem die Frage gestellt wird "Weißt du noch?". Dies ist dann der Beginn einer dieser herrlichen Geschichten von früher, in denen man sich so wundervoll verlieren kann.

In dem wundervoll illustrierten Buch „Wahrscheinlich war es anders“ von Clemens Böckmann und Shyan Siow (Ill.) geht es um solch eine Geschichte. 


(Quelle: Kirchner Kommunikation)


Buchbeschreibung
Ein merkwürdiger Gast soll das norddeutsche Dorf besucht haben.
Ein schwerfälliges Tier, das in aller Seelenruhe Äpfel vom Baum des Nachbarn gefressen hat. Oder waren es Birnen? ein tier, so groß, dass es von allen übersehen wurde. Oder war schlicht niemand da, der es hätte sehen können? Nur eines ist sicher, wenn es um diesen Elefanten geht: Sicher ist nichts, denn wahrscheinlich war es anders.


Jeder kennt das: Gerüchte, die zum Selbstläufer werden. Eine unglaubliche Geschichte wird erzählt, jeder hat etwas dazu beizutragen. Komischerweise hat jeder die Geschichte irgendwie anders erlebt. Und so gibt jeder seinen „Senf“ dazu. Und am Ende haben wir zwar eine wundervoll ausgeschmückte Geschichte. Nur ob das Erzählte tatsächlich so passiert ist, bleibt zu bezweifeln. Aber schön war es trotzdem, darüber zu reden.
"Jansens waren schon immer erfinderisch, wenn es ums Arbeiten ging. 
Der Alte brauchte auch immer Geld. So eine Leidenschaft ist halt teuer. 
Um wieder zu arbeiten, kam der jedenfalls nicht. Denn außer ein paar vermeintlichen Spuren zu hinterlassen und ein bisschen Schweinefutter zu essen, hat er nichts gemacht. 
Das hätte er sich auch sparen können. 
Funke behauptet, seine Schweine hätten danach Alpträume gehabt. 
Als ob Schweine Träume hätten. 
Wer weiß. 
Mir wurde es immer so gesagt." (S. 28)

In der vorliegenden Geschichte geht es um den denkwürdigen Tag, als ein Elefant in einem norddeutschen Dorf auftauchte. Als Leser verfolgt man ein Gespräch zwischen mehreren Dorfbewohnern, die an diesem Tag dabei waren … oder auch nicht dabei waren. Auf jeden Fall haben sie eine Meinung zu den Geschehnissen, auch wenn diese auf Hörensagen basieren könnte. Das ist sehr amüsant, zumal hier Dorftratsch in Reinkultur präsentiert wird und man schnell feststellt, dass Erinnerungen seltsame Wege gehen können. Jeder Gesprächsteilnehmer präsentiert seine Version der Geschichte als die einzig Wahre und die Erinnerungen der anderen werden angezweifelt.

Begleitet wird das Gespräch von den wundervollen Illustrationen von Shyan Siow. Die Abbildungen sind in Grautönen gehalten und wirken sehr detailliert. Die Zeichnungen strahlen eine unglaubliche Schlichtheit und Zartheit aus. Dabei konzentrieren sie sich auf den Helden der Geschichte: der Elefant. In jedem Bild steht dieser Elefant im Mittelpunkt.  Dorfbewohner sind nicht zu sehen, dafür einige der tierischen Bewohner. Allein schon die Idee, einen Elefanten in eine menschenleere Umgebung zu verfrachten, wirkt sehr komisch und grotesk. Trotz der Tiere wirkt das Szenario einsam und nahezu ausgestorben. Man stellt sich immer wieder die Frage: „Aber wo sind denn alle hin?“. Der Elefant scheint auf der Suche nach etwas zu sein, das er nicht findet. Von den Zeichnungen geht daher eine Traurigkeit aus, die den Leser in eine melancholische Stimmung versetzt. 
(Auszug aus dem Buch, Seite 19)

Dieses Büchlein, mit seinen gerade mal 40 Seiten, ist für Leser ab 8 Jahren geeignet. Man bekommt ein Kind ganz einfach dazu, sich für dieses Buch zu interessieren. Ich habe meinem Sohn erzählt, dass der Buchrücken sich anfühlt wie Elefantenhaut und schon war er fasziniert. Denn es ist tatsächlich so: der Einband besteht aus geprägtem Skinflex, das an die Struktur einer Elefantenhaut erinnert. Kinder konzentrieren sich bei diesem Buch auf die Zeichnungen, lassen sich von ihnen verzaubern und löchern einen mit Fragen über den einsamen Elefanten. Mit dem Text selbst können sie meines Erachtens nicht viel anfangen, weil sie durch die unterschiedlichen Varianten in der Geschichte und deren Gesprächscharakter verwirrt werden. Dadurch empfiehlt sich ein gemeinsames Lesen und Anschauen dieses Buches. Und am Ende stellt man fest, dass sowohl Kind als auch Erwachsener einen riesengroßen Spaß daran haben, die Geschichte weiter auszuschmücken und der Fantasie freien Lauf zu lassen.

Fazit:
Eine amüsante Geschichte, die sich immer mehr zum Selbstläufer entwickelt und daher großen Spaß macht. Unterstützt wird die Handlung dabei von sehr detaillierten und feinen Zeichnungen, die für sich genommen, dieses Buch schon zu einer Besonderheit machen. Ein tolles Buch für die Familie, das eindeutig dazu einlädt, die erzählte Geschichte weiter zu spinnen.

© Renie

Wahrscheinlich war es anders von Clemens Böckmann und Shyan Siow (Ill.), erschienen in der Edition Büchergilde
Erscheinungsdatum: 15. September 2016
ISBN ISBN 978-3-86406-073-1


Über Clemens Böckmann:
Clemens Böckmann wurde in Düsseldorf geboren und wuchs zwischen Frankfurt und Norddeutschland auf. Er studiert Sprache und Gestalt bei Professor Oswald Egger an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Wahrscheinlich war es anders ist seine erste Veröffentlichung. (Quelle: Edition Büchergilde)

Über Shyan Siow:
Shyan Siow, geboren 1980 in Kuala Lumpur, studierte Kommunikationsdesign an der Muthesius Kunsthochschule Kiel und Chinesische Linguistik und Literatur an der Zhejiang Universität in China. Sie arbeitet freiberuflich als Illustratorin und Künstlerin, wobei sie spielerisch ihre Grenzen und Freiheiten austestet. Elemente des Westens und des asiatischen Ostens bereichern ihre Werke. (Quelle: Edition Büchergilde)