Mittwoch, 20. April 2016

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Ja, ich habe es auch gelesen. "Vom Ende der Einsamkeit" von Benedict Wells. Es gibt kaum ein Buch, das mir momentan häufiger begegnet als dieses. Facebook und Co., Bloggerkollegen, Presse ... überall trifft man auf dieses Buch. Was soll ich also darüber schreiben, was nicht andere schon Dutzendmale geschrieben haben? Erschwerend kommt  hinzu, dass ich mir keine einzige Notiz zu diesem Roman gemacht habe - nicht, weil es nichts dazu anzumerken gibt, sondern weil mich diese Geschichte komplett in ihren Bann gezogen hat. Da blieb keine Zeit und Lust für Notizen.

Worum geht es in diesem Roman?
Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte. (Quelle: Diogenes)

Jules, Marty und Liz - drei Kinder, denen von einem Moment auf den anderen die Unbeschwertheit ihrer Kindheit geraubt wird. Der tödliche Unfall ihrer Eltern lässt das Leben der Kinder "an einer Weiche ankommen, falsch abbiegen". Seitdem "führen sie ein anderes, falsches Leben. Ein nicht korrigierbarer Fehler im System."
Was wäre aus den Kindern geworden, wenn sie nicht diesen Schicksalsschlag erlitten hätten? Wären sie die Personen, die sie heute sind? Jules - still, in sich gekehrt, ziellos, fängt alles an - bringt nichts zu Ende, ein Träumer; Marty - der Erfolgstyp, übervernünftig, neurotisch, mit einer Höllenangst vor den Unwegbarkeiten, die das Leben mit sich bringt; Liz - sprunghaft, einzelgängerisch, fast schon selbstzerstörerisch, strebt ein Leben der Extreme an, mit Mittelmaß gibt sie sich nicht zufrieden.

Die Geschichte wird aus der Sicht von Jules erzählt. Er vermittelt einen tiefen Einblick in sein Seelenleben. Über mehrere Jahrzehnte begleitet der Leser Jules und durchlebt dabei sämtliche Glücksmomente und Schicksalsschläge, die das Leben für Jules bereithält. 
Das Glück in seinem Leben ist trügerisch. Sobald Jules auf der Sonnenseite des Lebens steht, ziehen die ersten Regenwolken auf. Sein Glück ist nie von Dauer. Und einmal mehr  wird einem bewusst, dass sich das Glück nicht festhalten lässt. Zum Leben gehören beide Facetten, sowohl Glück als auch Unglück.
"Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall." (S. 299)
Die Geschichte wird in leisen melancholischen Tönen erzählt. Diese Melancholie wirkt ansteckend. Sie stimmt nachdenklich, und bringt den Leser dazu, zwischendurch innezuhalten und das Gelesene zu reflektieren. Benedict Wells macht es dem Leser einfach, in diese Geschichte abzutauchen. Sein Sprachstil wirkt wunderschön mühelos.  Durch ihre unaufdringliche Leichtigkeit rückt die Sprache in den Hintergrund und lässt der melancholischen Stimmung viel Raum zur Entfaltung. Nichtsdestotrotz stößt man immer wieder auf Beweise der hohen Sprachkunst von Benedict Wells, die dem Leser einige Zaubermomente bescheren.
"Und dann dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgetellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weiße berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerungen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht. Manchmal war das Entstandene so schön und eigentümlich, dass die Seele hineintauchte, um dort zu verweilen, bis sie schließlich weiterzog, auf ihrem Weg durch das Nichts." (S. 306)
Ich habe dieses Buch gestern beendet und bekomme seitdem den Kopf nicht frei. Viel zu sehr beschäftigen mich die Gedanken, die dieser Roman bei mir hervorgerufen hat. Das Buch hat viele philosophische Ansätze. Folgende Fragen haben eine große Bedeutung für diesen Roman: Wäre man heute derselbe Mensch, wenn die eigene Kindheit anders verlaufen wäre? Gibt es etwas im Menschen, dass unveränderlich ist, egal, was einem im Leben widerfährt?
Fragen, die sich nicht beantworten lassen, aber diesen Roman nachwirken lassen.

"' ... Du bist nicht schuld an deiner Kindheit und am Tod unserer Eltern. Aber du bist schuld daran, was diese Dinge mit dir machen. Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben. Und wenn du nur tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur bekommen, was du immer bekommen hast.'" (S. 185)
"'Es ist ... Wir sind von Geburt an auf der Titanic. ... Was ich sagen will: Wir gehen unter, wir werden das hier nicht überleben, das ist bereits entschieden. Nichts kann das ändern. Aber wir können wählen, ob wir schreiend und panisch umherlaufen oder ob wir wie die Musiker sind, die tapfer und in Würde weiterspielen, obwohl das Schiff versinkt. ...'" (S. 339)

Fazit:
Ein berührendes und melancholisches Buch, erzählt mit einer Leichtigkeit, die dem Leser viel Raum zum Nachdenken lässt. Und das Schöne ist: Trotz aller Nachdenklichkeit und Melancholie hat dieses Buch einen hoffnungsvollen Schluss, so dass man als Leser mit einem positiven Gefühl und einem Lächeln wieder in den Alltag entlassen wird.
Klare Leseempfehlung!

© Renie

Vom Ende der Einsamkeit von Benedict Wells, erschienen im Diogenes Verlag
erschienen im März 2016
ISBN978-3-257-06958-7

Über den Autor:
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin. (Quelle: Diogenes)